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E-Book, Deutsch, Band 29, 297 Seiten

Reihe: Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts

Douglas Späte Korrektur

Die Prozesse gegen John Demjanjuk

E-Book, Deutsch, Band 29, 297 Seiten

Reihe: Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts

ISBN: 978-3-8353-4463-1
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die fundierte Analyse des Verfahrens gegen einen NS-Täter, der zwischen 1987 und 2011 in drei Staaten vor Gericht stand.

Im Auftrag von Harper`s Magazine kam der amerikanische Rechtswissenschaftler Lawrence Douglas im Herbst 2009 nach Deutschland, um über den Prozess gegen John Demjanjuk zu berichten, der wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen angeklagt war. Als 'Hilfswilliger' der SS hatte der inzwischen 89-jährige gebürtige Ukrainer zwischen 1942 und 1945 in mehreren nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern Dienst getan.
Lawrence Douglas schildert den Prozess gegen Demjanjuk vor dem Landgericht München II als Höhepunkt einer mehr als drei Jahrzehnte dauernden juristischen Auseinandersetzung: Der einstige 'Trawniki' Iwan Demjanjuk hatte bereits in Israel und in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestanden und war im Mai 2009 nach Deutschland ausgeliefert worden. Mit seiner tiefgreifenden Analyse der drei Prozesse gibt Douglas Antworten auf drängende Fragen, die nationale und internationale Strafgerichtshöfe seit den Nürnberger Prozessen beschäftigen. Lawrence R. Douglas plädiert für eine (inter-)national starke Justiz, die frühere Fehler erkennt und korrigiert.
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Einleitung
Die Zeit schrieb, dies sei »der womöglich letzte große NS-Kriegsverbrecher-Prozess« – eine in fast jeder Hinsicht irreführende Beschreibung.[1] Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, Beihilfe zum Mord an 28 060 Juden im Vernichtungslager Sobibór geleistet zu haben, nicht aber, dass er ein überzeugter Nationalsozialist gewesen sei. Ebenso wenig ging es in dem Prozess um Kriegsverbrechen, denn die systematische Ermordung wehrloser Männer, Frauen und Kinder war keine Kriegshandlung. Und »groß«? Allen Beweisen zufolge war der Angeklagte, John (Iwan) Demjanjuk, kaum mehr als ein niedriger Hilfsarbeiter im nationalsozialistischen Vernichtungsapparat gewesen. Verglichen mit dem Nürnberger Prozess, bei dem sich 21 hochrangige Vertreter des NS-Staates vor dem Internationalen Militärgerichtshof verantworten mussten, dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, der die Deportation von Juden aus ganz Europa in den Tod federführend organisiert hatte, oder selbst dem Prozess gegen Klaus Barbie, den »Schlächter von Lyon«, wirkte das Verfahren gegen Demjanjuk beinahe unbedeutend. Bedenkt man außerdem, dass der Angeklagte bei Prozessbeginn fast 90 Jahre alt war, zudem in scheinbar schlechter gesundheitlicher Verfassung, und seine mutmaßlichen Verbrechen 67 Jahre zurücklagen, war das Bemerkenswerteste an dem Prozess, dass er überhaupt stattfand. Dennoch gingen die Staatsanwälte bei Anklageerhebung ein erhebliches Risiko ein: Alles andere außer einer Verurteilung wäre verheerend gewesen. Ein Freispruch hätte das Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit den NS-Verbrechen nochmals im vollen Rampenlicht der Weltöffentlichkeit unterstrichen. Aber mit einer Feststellung lag die Zeit richtig: Was immer man von dem Fall halten mochte, es war vermutlich der letzte Holocaust-Prozess, oder zumindest der letzte, der eine solche internationale Beachtung finden würde. Auch das gewaltige Interesse an dem Prozess hatte weniger damit zu tun, dass Demjanjuk besonders berüchtigt gewesen wäre, als vielmehr mit dem Umstand, dass er früher mit einer in der Tat fürchterlichen Figur verwechselt worden war. Demjanjuks juristische Odyssee begann 1975, als US-Behörden vage Informationen über das Wirken eines Mannes während des Zweiten Weltkriegs erhielten, der mittlerweile als Ford-Arbeiter in einem beschaulichen Vorort von Cleveland lebte. 1920 in der Ukraine geboren, war Demjanjuk 1952 in die Vereinigten Staaten immigriert, wo er sich in der Region Cleveland niederließ und 1958 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. In den späten siebziger Jahren waren US-Ermittler zu dem Schluss gekommen, er sei jener Wachmann im Vernichtungslager Treblinka gewesen, der aufgrund seines ausgeprägten Sadismus von den Überlebenden den Beinamen Iwan Grosny, »Iwan der Schreckliche«, erhalten hatte. Im spektakulärsten Ausbürgerungsverfahren der amerikanischen Geschichte verlor Demjanjuk seine Staatsangehörigkeit, wurde im Jahr 1986 nach Israel ausgeliefert und dort angeklagt. 1988 zum Tode verurteilt, saß Demjanjuk fünf Jahre lang in einem israelischen Gefängnis, während sein Berufungsverfahren lief. Im Sommer 1993 schließlich hob der Oberste Gerichtshof von Israel das Urteil auf, da neue Dokumente aus der ehemaligen Sowjetunion belegten, dass die Israelis den falschen »Iwan« vor Gericht gestellt hatten. Demjanjuk kehrte als freier Mann in die Vereinigten Staaten zurück, einer der berühmtesten Verwechslungsfälle in der Rechtsgeschichte ging zu Ende. Demjanjuks Kämpfe mit der Justiz waren jedoch längst nicht zu Ende. Nachdem er sich wieder nahe Cleveland niedergelassen und seine amerikanische Staatsbürgerschaft zurückerhalten hatte, strengte das US-Justizministerium ein neues Ausbürgerungsverfahren gegen ihn an. Denn obwohl nicht »Iwan der Schreckliche« aus Treblinka, war Demjanjuk nach den vorliegenden Beweisen doch schrecklich genug gewesen – als ein anderer Iwan, der im nicht weniger tödlichen Lager Sobibór Dienst geleistet hatte. So erwarb Demjanjuk im Jahr 2001 die Auszeichnung, die einzige Person in der amerikanischen Geschichte zu sein, die gleich zweimal ihre Staatsbürgerschaft verlor. Er beharrte weiter auf seiner Unschuld und vergrub sich in seinem bescheidenen Haus in Seven Hills, einem Vorort von Cleveland im Bundesstaat Ohio, während die US-Behörden zunächst vergeblich nach einem Land suchten, das bereit war, ihn aufzunehmen. Nachdem Polen und die Ukraine abgelehnt hatten, willigte die Bundesrepublik schließlich ein – was insofern eine gewisse Überraschung war, als sie die Aufnahme mutmaßlicher Nazi-Kollaborateure aus den Vereinigten Staaten lange Zeit verweigert hatte. Demjanjuk wurde nach München ausgeflogen, wo er am 12. Mai 2009 deutschen Boden betrat. Genau zwei Jahre später, am 12. Mai 2011, befand ein deutsches Gericht den mittlerweile 91-Jährigen für schuldig, im Lager Sobibór Beihilfe zum Mord an 28 060 Juden geleistet zu haben. Die Strafe wurde nie vollstreckt: Zehn Monate später, während seine Revision noch lief, starb Demjanjuk in einem bayerischen Pflegeheim. Dass der verworrenste, zäheste und seltsamste Strafprozess, den der Holocaust zur Folge hatte, nie einen klaren Abschluss fand, war vielleicht nicht unpassend. Auf den folgenden Seiten werden wir der vertrackten und eigentümlichen Geschichte der juristischen Odyssee des John Demjanjuk nachgehen. Bei allen erstaunlichen Wendungen konfrontiert uns der Fall zugleich mit tiefer gehenden, bohrenden Fragen. Er zwingt uns kritisch darüber nachzudenken, ob es gerecht ist, alte Männer wegen weit zurückliegender Verbrechen anzuklagen. Er fordert uns dazu auf, über das Wesen individueller Verantwortung bei staatlich organisierten Verbrechen zu reflektieren. Er verlangt von uns, über Charakter, Ursachen und mögliche Rechtfertigungen für die Kollaboration bei Gräueltaten nachzudenken. Im Folgenden werden wir die unterschiedlichen Herangehensweisen näher untersuchen, mit denen die drei Rechtssysteme – das amerikanische, das israelische und das deutsche – die juristischen Herausforderungen bewältigt haben, die die Vernichtung der europäischen Juden aufgeworfen hatte. Der Rückgriff auf das Strafrecht stellt traditionelle Konzeptionen von Recht und Rechtsprechung auf eine harte Bewährungsprobe. Nach dem Standardmodell, das Jurastudenten in aller Welt lernen, sind Verbrechen Ausdruck eines abweichenden Verhaltens, das sich in der Regel gegen eine andere Person richtet und von der herrschenden Gesellschaftsordnung als delinquentes Verhalten wahrgenommen wird. Die verschiedenen Rechtssysteme bewerten die Frage, welche Handlungen als abweichendes Verhalten marginalisiert werden, oftmals unterschiedlich, doch alle verurteilen elementare Untaten wie Mord und weisen den modernen Nationalstaat an, energisch darauf zu reagieren, indem er den Täter mithilfe seiner Ermittlungs- und Justizbehörden verfolgt, anklagt und schließlich bestraft. In Thomas Hobbes’ Leviathan, dem vielleicht bedeutendsten Werk des abendländischen politischen Denkens, ist der Staat mehr als nur ein Bollwerk der Ordnung; er ist die Kraft, die uns vor der tödlichen Gewalt des anderen schützt. Und in John Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung verteidigt der Staat das Recht und ordnet sich dessen neutraler Herrschaft selbst unter.[2] Die NS-Verbrechen sprengten dieses Modell und die ihm zugrunde liegende Annahme, das gesellschaftliche Leben werde primär durch die Gewalt von Privatpersonen bedroht. Der Nationalsozialismus offenbarte das furchterregende Vermögen des Staates, selbst kriminell zu werden, ein Phänomen, für das der Philosoph Karl Jaspers den Begriff »Verbrecherstaat« prägte.[3] Dieser Gedanke – dass der Staat mitnichten als Hort und Hüter von Recht und Ordnung auftreten muss, sondern selbst die schlimmsten Verbrechen begehen kann – lag schlichtweg jenseits des Horizonts des konventionellen Strafrechtsmodells und blieb aus seiner Perspektive unverständlich. Jaspers’ Begriff erfasste das beispiellose Werk des Nationalsozialismus: Er hatte den Staat in den größten Verbrecher – den Kriminellen schlechthin – verwandelt.[4] Welche juristische Herausforderung dies nach sich zog, formulierte Robert Jackson, amerikanischer Chefankläger im Nürnberger Prozess, am Ende seiner Eröffnungsrede: »Die zivilisierte Welt fragt sich, ob das Recht derart zurückgeblieben ist, dass es Verbrechen solchen Ausmaßes, begangen von Verbrechern solchen Ranges, vollkommen hilflos gegenübersteht.«[5] Der Nürnberger Prozess und seine Folgeprozesse gaben eine bestimmte Antwort auf diese Frage: Das Recht war der Aufgabe sehr wohl gewachsen, doch dazu bedurfte es außerordentlicher juristischer Innovationen. Um die Untaten des Verbrecherstaates zu bewältigen, brauchte es besondere Gerichte, neue Prinzipien der Rechtsprechung, unorthodoxe Regeln der Beweisführung und vor allem neuartige Straftatbestände. Diese mussten hinreichend flexibel und weit definiert sein, um Verbrechen zu erfassen, die einen ganzen Kontinent umspannten, von zigtausend Tätern begangen wurden und auf einem komplexen organisatorisch-logistischen Apparat beruhten. Die Anklage vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg war dabei ein wichtiger erster Schritt. Der Prozess betraf zwar in erster Linie nicht den Holocaust; den 21 Männern auf der Anklagebank wurden vor allem »Verbrechen gegen den Frieden« vorgeworfen – die Planung und Durchführung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges. Aber auch »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, staatlich organisierte Gräueltaten,...


Kurz, Felix
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Douglas, Lawrence
Lawrence Douglas, geb. 1959, ist Professor für Law, Jurisprudence & Social Thought am Amherst College in Massachusetts und Experte für die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Er schreibt regelmäßig für den britischen Guardian und für Harper’s Magazine und ist auch als Romanschriftsteller tätig.
Veröffentlichungen u.a.: The Memory of Judgment. Making Law and History in the Trials of the Holocaust (2001); The Vices (2011).

Lawrence Douglas, geb. 1959, ist Professor für Law, Jurisprudence & Social Thought am Amherst College in Massachusetts und Experte für die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Er schreibt regelmäßig für den britischen Guardian und für Harper's Magazine und ist auch als Romanschriftsteller tätig.


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