Doulatabadi | Der Colonel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Doulatabadi Der Colonel

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30508-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-293-30508-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine pechschwarze Regennacht in einer iranischen Kleinstadt, ein altes Haus. Der Colonel hängt seinen Gedanken nach. Erinnerungen stürmen auf ihn ein. An seine Jahre als hochdekorierter Offizier der Schah-Armee. An seine Kinder, die ihren eigenen Weg gingen, sich den Revolutionsgardisten angeschlossen haben und in den Krieg zogen, in die Leidenschaften der Revolution und des Todes. Durch die Gassen werden die gefallenen »Märtyrer« getragen, in der Stadt werden ihnen Denkmäler gebaut. Es herrscht Krieg – »diese giftige, fleischfressende Pflanze«. Da klopft es an die Tür. Der Colonel wird abgeführt, zur Staatsanwaltschaft …

Mahmud Doulatabadi, der bedeutendste Schriftsteller des Iran, erzählt von den Umwälzungen, die den Iran bis in die Gegenwart heimsuchen.

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»Amir … Amir … Was machst du? Begleite mich zum Begräbnis deines Bruders …« »Nein, nein! Ich bin niemandem Bruder, bin niemandem Sohn, ich bin ein Niemand, ich kenne niemanden, nein, niemanden!« Vielleicht hat er recht. Wie schafft man es bloß, einen einfachen, leichten Tod zu sterben? Jetzt, nach mehr als sechzig Jahren merke ich, dass ein Tod ohne Tragödie ein Segen ist, für den der Mensch dankbar sein sollte. Die bohrenden Fragen um den Tod sind ermüdend, und diese Ermüdung klebt wie eine Dreckschicht am Körper, sodass man sie körperlich spürt. Selbst die Trauer wird beim Erzählen überschattet durch diese klebrige, verzweifelte Mattigkeit. Ich weiß ja, dass jeder Bericht über den Tod, über das Sterben, wie kränkliche Niedergeschlagenheit auf den Zuhörer wirken kann. Muss ich dem unnachsichtigen Zuhörer noch bestätigen, dass es keineswegs meiner Neigung entspricht, andere Menschen mit Fragen nach dem Tod zu behelligen? Es ist nur mein eigener Tod, im nie nachlassenden Regen, der alles vermodern und verwesen lässt. Ich versuche nur noch, so gelassen wie möglich, Bruchstücke vom Tod zu berichten. Das ist der Lebensfunke, der mir geblieben ist. Was soll ich sonst tun? Auch ich habe mich oft danach gesehnt, an meinem Lebensabend, am Abend eines sonnigen Tages mich mit meiner Frau – meiner Gefährtin auf dem windungsvollen Weg des Lebens – auf die Terrasse zu setzen, neben einem dampfenden Samowar, Joghurt mit Gurke zu essen, dazu ein Gläschen Schnaps zu trinken, meinen Sitar in die Hand zu nehmen, ihn auf die Knie zu legen, die alten Lieder zu spielen und dabei zu wissen, dass jedes meiner Kinder irgendwo im Land eine nützliche Arbeit leistet. Ja, das habe ich mir wirklich gewünscht und habe es auch verdient. Das ist das Mindeste, was ein harmloser, einfacher Mensch vom Leben verlangen darf. Aber … Aber jetzt liegt auf dem Griff meines Sitars eine dicke Schicht Staub, tödlicher Staub. Die anderen Gegenstände in meinem Haus, die überall herumliegen, sind nutzlos und fremd geworden. Im Ofen ist kein Öl mehr, meine Kleider sind feucht, ich habe mich wie eine Leiche in dieses schmutzige Betttuch gewickelt, ich verspüre keine Lust, nach dem Kanarienvogel meiner Tochter zu schauen. Die Geräusche, die ich von draußen vernehme, sind bedrückend, sie vermehren nur die Traurigkeit. Und der tödliche Regen fällt ununterbrochen vom Himmel herab. Er nimmt kein Ende. So warte ich nur noch auf Masuds Begräbnis. Wie könnte ich an etwas anderes denken oder etwas anderes erzählen, während der Tod mich von sieben Seiten umklammert und ich das Gefühl habe, dass um mich herum ein Sumpf bis zu meiner Brust hochgestiegen ist. Ich weiß, irgendwann werde ich die Lippen und die Augen vor dem Tod schließen, über ihn nicht mehr reden und ihn nicht mehr beobachten. Das wird der Augenblick sein, in dem der Tod höher steigt als mein Herz, als meine Brust, wenn er schließlich meinen Hals umschlingt. Dieser Augenblick ist wohl nicht weit entfernt. Aber … Warum sind diese verdammten Kleider immer noch nicht trocken? Ich muss doch zum Begräbnis … Amir … Amir … Ich brauche doch Hilfe, mein Sohn … »Nein, nein, nein!« Das Tor. Das Geräusch des Tors. Der Colonel glaubt, es sei Ghorbani, der gekommen ist, um ihn abzuholen. Er geht zum Fenster. Amir öffnet. Nein, es ist nicht Ghorbani, es sind die beiden jungen Männer, die ihm bei der Bestattung von Parwaneh geholfen haben, Abdollah und Ali Seyf. Sie mustern Amir vom Kopf bis zu den Füßen. Amir weiß nicht, was er tun soll, er verschwindet hinter der Tür der Toilette. Unter den Blicken des Colonels geht Abdollah auf die Terrassentreppe zu, verschwindet für einen Moment aus dem Blickfeld, und der Colonel sieht ihn wieder, als er das Zimmer betritt. Der Colonel bleibt, eingewickelt in seinem Betttuch, am Fenster stehen. Abdollah grüßt demütig, und der Colonel erwidert den Gruß. Abdollah steht zunächst mit gesenktem Haupt an der Türschwelle, dann bittet er den Colonel um Erlaubnis und geht höflich, mit unsicheren Schritten auf den Tisch zu, holt aus seiner Anoraktasche eine Tüte Süßigkeiten heraus, legt sie auf den Tisch, fasst in die Hosentasche, holt ein paar Geldscheine heraus und legt sie auf die Tüte. Danach verschränkt er artig die Hände vor sich, heftet den Blick auf die Spitzen seiner Stiefel, schweigt einen Augenblick lang und sagt danach noch höflicher als zuvor mit zitternder Stimme: »Betrachten Sie mich als Ihren Diener, Herr Colonel. Was hätte ich tun sollen. Ich bin nur den Anweisungen gefolgt. Aber … Ich schwöre, Ihre Tochter war mir wie meine eigene Schwester … Trotzdem … Ich schäme mich vor Ihnen, Colonel. Daher habe ich beschlossen, dem Beispiel von Masud zu folgen und mit dem nächsten Transport an die Front zu gehen. Ich weiß, dass ich nie wieder zurückkomme. Das habe ich auch meiner Frau gesagt. Ich möchte Sie nur bitten, dass Sie mir verzeihen und mir Ihren Segen geben, hochverehrter Colonel. Bitte segnen Sie mich, Colonel.« Ihm war schwarz vor den Augen. Auch der junge Mann verschwand in dieser Schwärze, hatte sich in schwarzen Rauch verwandelt. Der Schädel wurde ihm schwer wie ein Mühlstein. Als er wieder zu sich kam, merkte er, wie er mit beiden Händen die Stuhllehne festhielt. Das Betttuch lag auf dem Boden. Er stand nackt da und sah sich zittern wie ein Hund. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, konnte keinen Gedanken mehr fassen. Nur noch die Kälte seines Körpers spürte er. Er griff nach dem Betttuch, bedeckte seinen Leib. Dann wusste er nicht mehr, was tun. Nur der Kanarienvogel … Der Kanarienvogel, der zu singen aufgehört hatte. Vermutlich hatte sich der Vogel in eine Ecke seines Käfigs verkrochen. Ob der Kanarienvogel auch an Bonbons pickt? Er nahm aus der Tüte ein Bonbon, ging auf den Gang hinaus, blieb vor dem Käfig stehen, warf ein Bonbon zwischen den Stäben in den Käfig hinein und wartete auf die Reaktion des Vogels. Aber dieser regte sich nicht, bewegte nicht einmal die Augen. Der Colonel schaute in den Regen hinaus und gab den Gedanken auf, den Vogel freizulassen. Selbst wenn es nicht regnen würde, würde die Freiheit für den Vogel den Tod bedeuten. Denn er ist nicht daran gewöhnt, draußen zu fliegen. Er würde beim ersten Flugversuch auf die Erde stürzen, und eine Katze … Die schwarze Katze, die vermutlich auch jetzt am Rande des Wasserbeckens auf der Lauer saß, würde den Vogel sofort schnappen. Trotzdem, wenn es aufhört zu regnen, werde ich ihn vielleicht freilassen. Denn wenn er nach unserem Tod ohnehin aus Kummer sterben soll, dann wäre es für ihn besser, außerhalb des Käfigs zu sterben. Aber Parwanehs Kanarienvogel, war er nicht bereits gestorben? … Er wusste es nicht, er wusste auch nicht, wie lange er schon neben dem Käfig stand und den stummen Vogel betrachtete. Er ging den Gang entlang zur Terrasse, stellte sich an seinen gewohnten Platz und schaute in den Regen. Das Tor stand halb offen. Schaufel und Hacke waren nicht mehr da. Amir wird sie doch nicht mitgenommen haben und aus dem Haus gegangen sein! … Nichts war sicher. Was für eine schreckliche Einsamkeit! Man hörte nur die Regentropfen, die auf das alte, verrostete Blechdach schlugen. Der Colonel konnte sich nicht daran erinnern, einmal, wenigstens einmal, am Nachmittag nach dem Regen das ockerfarbige Dach gesehen zu haben. War es Abend, war es Nacht, welche Tageszeit, wie spät war es? Vermutlich wird jetzt Ghorbani auftauchen, um mich zum Friedhof mitzunehmen. Meine verdammten Kleider sind immer noch nicht trocken. Was mache ich, wenn ich erfahre, dass sie den Leichnam meines Sohnes schon gebracht haben? Aber sie werden ihn nicht bringen. Nein, sie haben ihn nicht gebracht. Sie haben den Leichnam meines kleinen Sohnes auch nicht nach vierzig Tagen, nicht einmal nach vierzig Wintern gebracht. Ihr Herren, die ihr versucht, die Geschichte zurückzudrehen, ihr, die versucht, die Geschichte unter einem Haufen von Scheiße zu begraben! Ich fühle mich vollkommen ausgehöhlt. Meine Augen sehen lauter groteske Gestalten, und noch verwunderlicher ist, dass diese Gestalten behaupten, meine Augen seien schwach geworden. Daher könnte ich meinen Masud nicht von anderen unterscheiden. Merkwürdig, sehr merkwürdig! Ich sage: Meine Herren, dieser abgeschnittene Kopf mit den zerzausten Haaren, den ihr auf diesen Rumpf gesetzt habt, ist nicht der Kopf meines Sohnes Masud! Aber sie wollen es nicht glauben. Nein, sie glauben es nicht. Selbstverständlich kenne ich das Gesicht meines Sohnes. Auch wenn die Kugel die Hälfte seines Gesichts und ein Auge abgerissen hat – die andere Hälfte, die übrig geblieben ist, zeigt offensichtlich, dass dieses Gesicht nicht meinem Sohn gehört, während der Rumpf durchaus sein Rumpf ist. Ich kenne die Schultern, die Arme, ja sogar die Finger meines Sohnes, obwohl an einem Arm die Hand und der Unterarm bis zum Ellbogen fehlen, abgesehen davon, dass die Gedärme herausgerissen sind und ein Bein beim Knie abgetrennt ist. Aber niemand hört auf mich. Merkwürdig, sehr merkwürdig. Sobald ich zu reden beginne, das heißt nach dem ersten ein zweites Wort aussprechen will, fangen die Trauergesänge an, die Leute schlagen sich auf die Brust und ersticken meine Stimme. Ich will sagen: »Ihr Herren, meine Brüder, meine Kinder … Glauben Sie mir, dieser abgehackte Kopf gehört nicht meinem kleinen Sohn!« Das ist der einzige Satz, den ich sagen möchte, nur diesen Satz und kein Wort mehr. Aber sie geben mir keine Gelegenheit dazu. Sobald sich meine Stimme erhebt, beginnen sie unter dem Dach des Leichenhauses...


Nirumand, Bahman
Bahman Nirumand, geboren 1936 in Teheran, studierte in Deutschland und promovierte 1960 über Bertolt Brecht. Im Iran war er Dozent an der Teheraner Universität, musste jedoch ins Exil gehen. Er lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin.

Doulatabadi, Mahmud
Mahmud Doulatabadi, geboren 1940 im Nordosten Irans, arbeitete in der Landwirtschaft und als Handwerker. Später absolvierte er die Theaterakademie in Teheran und war eine Zeit lang Schauspieler. Aus politischen Gründen war er zwei Jahre in Haft. Mahmud Doulatabadi gilt als bedeutendster Vertreter der zeitgenössischen persischen Prosa; er lebt mit seiner Familie als freier Schriftsteller und Universitätsdozent für Literatur in Teheran.



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