E-Book, Deutsch, 143 Seiten
Dreier ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86393-570-2
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 143 Seiten
ISBN: 978-3-86393-570-2
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
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Horst Dreier war bis zu seiner Emeritierung im September 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg. Seine Dissertation von 1986 ('Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen') läutete die Wiederentdeckung Kelsens in der deutschen Staatsrechtswissenschaft ein.
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Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Strukturelemente, Probleme
I. Einführung
Hans Kelsen gehört zu den wenigen Weimarer Staatsrechtslehrern, die als aufrechte und überzeugte Demokraten gelten können.1 Abgesehen vielleicht von Richard Thoma2 war er unter diesen der einzige, der sich wissenschaftlich ausführlicher mit dem politischen und verfassungsrechtlichen Prinzip der Demokratie, seinen Voraussetzungen und Konsequenzen, auseinandergesetzt hat. Das Ergebnis hat man als „eine der großen Demokratiebegründungsschriften überhaupt“3 bezeichnet. Die Rede ist von Kelsens Studie über „Wesen und Wert der Demokratie“, die zuerst im Jahre 19204 und dann 1929 in zweiter, erweiterter Auflage erschienen ist.5 Ihren mittlerweile erreichten Klassikerstatus6 verdankt die Arbeit neben der Prominenz ihres Autors und den dramatischen Zeitumständen vermutlich in erster Linie ihrer Klarheit und Prägnanz, insbesondere der deduktiven Strenge und souveränen Eleganz bei der Problementfaltung. Wenn sie im folgenden den zentralen Bezugstext darstellt, so darf darüber nicht vergessen werden, daß Kelsen – von weiteren kleineren Schriften abgesehen7 – im Jahre 1955 nochmals eine im Umfang erheblich vermehrte und dazu in manchen Punkten modifizierte Version seiner Demokratietheorie vorgelegt hat, die allerdings an eher abgelegener Stelle und zudem in englischer Sprache erschienen ist.8 Darauf wird zurückzukommen sein.
II. Sozialphilosophische Grundlegung: Individuelle Freiheit und staatliche Ordnung
1. Staat und Individuum
Mutet die Textgrundlage eher selbstverständlich an, so könnte dies für die sachliche Fragestellung nach der sozialphilosopischen Grundlegung der Demokratietheorie Kelsens eher zweifelhaft sein. Denn deren gängige und im Kern richtige Charakterisierung als „formal“ und „relativistisch“,9 als bloße Methode der Erzeugung einer Rechtsordnung, die von inhaltlichen Präfixierungen gerade absieht und keine unverfügbaren, vorpositiven Grundsätze oder Prinzipien anerkennt, scheint – jedenfalls auf den ersten Blick – eine solche stets an bestimmte inhaltliche Aussagen gebundene Verortung zu verbieten. Hinzu kommt, daß für Kelsen als staatstheoretischen Analytiker die Demokratie eine Staatsform unter anderen ist: ob man sie bejaht oder verneint, obliegt einer rational nicht völlig auflösbaren Wertentscheidung des Einzelnen. Doch beides schließt keineswegs aus, die inneren Funktionsgesetze der Demokratie zu bestimmen, ihre Strukturelemente herauszupräparieren und zu zeigen, auf welchen Wertprämissen Demokratie beruht. Eben dies ist Kelsens Anliegen.
Den zentralen Basiswert der Demokratie bildet nun in der Analyse Kelsens die Freiheit, und zwar im Kern die Freiheit des Einzelnen (nicht eines Kollektivs), und zweitens die gleiche Freiheit aller.10 Diese Freiheit ist „Grundprinzip der Demokratie“11 und wird gewissermaßen axiomatisch vorausgesetzt, ihr gegenüber hat sich staatliche Herrschaft zu rechtfertigen.12 Der Frage, wie diese Rechtfertigung gelingen kann und welchen Metamorphosen der Freiheitsbegriff dabei unterliegt, ist sogleich nachzugehen (dazu III.).
Mit dem methodischen Individualismus, dem Vorrang des Einzelnen und der prinzipiellen Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlicher Ordnung und Herrschaft ihm gegenüber knüpft Kelsens Demokratieschrift, ohne dies im einzelnen ideen- oder theoriegeschichtlich näher zu explizieren, an die neuzeitliche Herrschaftsvertragslehre mit ihren konstitutiven Elementen des Naturzustandes (also des Zustandes absoluter Freiheit und Gleichheit der Individuen) sowie der Hervorbringung einer staatlichen Herrschaftsordnung kraft Vertrages an.13 Damit ist bereits soviel gesagt, daß der Staat kein Zweck an sich selbst ist, keine vorausgesetzte oder dem Einzelnen von vornherein überlegene Größe. Nun zeigt ein Blick in die Vielfalt der Herrschafts- und Gesellschaftsvertragslehren, daß zwar in methodisch-konstruktiver Hinsicht deren Ausgangspunkt die individuelle Freiheit (im Naturzustand) war, nicht aber zwingend auch deren Endpunkt.14 Es kann als charakteristisch für die Entfaltung des Kelsenschen Gedankenganges gelten, daß die Vermittlungsschritte zwischen vollständiger individueller Autonomie als Ausgangspunkt und der Ausgestaltung einer staatlichen Herrschaftsorganisation stets von dem Ziel getragen sind, Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung in möglichst weitem Umfange zu wahren. Von daher ergeben sich auch gewisse Differenzen zu dem wichtigsten Referenzautor Kelsens, zu ,15 den er als den vielleicht „bedeutendste(n) Theoretiker der Demokratie“ bezeichnet.16
2. Metamorphosen individueller Autonomie
In der Problemexposition herrscht indes weitgehende Übereinstimmung. Wie Rousseau an der berühmten und vielzitierten Stelle seines „Contrat Social“ die zentrale und unlösbar scheinende Frage nach einer Form der Vergesellschaftung stellt, „die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“,17 so wird auch Kelsen nicht müde, die im Grunde unmögliche Vereinbarkeit von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung, von Ich und Wir, von Autonomie und Heteronomie zu unterstreichen. Da ist die Rede von der Natur selbst, die sich gegen die Gesellschaft aufbäume,18 von einem „staatsfeindlichen Urinstinkt […], der das Individuum gegen die Gesellschaft stellt“.19 An anderer Stelle spricht Kelsen von dem im Grunde „unlösbare(n) Konflikt, in dem die Idee der individuellen Freiheit zur Idee einer sozialen Ordnung“ stehe.20 Doch wie diese Spannung zu überbrücken und dennoch die Freiheit aufrechtzuerhalten sein könnte, findet durchaus unterschiedliche Antworten. Rousseau postuliert bekanntlich eine vollständige Wesensverwandlung und Selbstentäußerung des Einzelnen, eine „aliénation totale“, die aus dem wilden gesetzlosen Naturmenschen einen republikanischen Staatsbürger macht, der in der sittlichen Welt des politischen Gemeinwesens vollständig aufgeht. Als Citoyen gewinnt dieser eine völlig neue Identität, gewissermaßen eine zweite Natur, die in schroffem Gegensatz zur ersten steht.21 Nun scheint zwar auch Kelsen ähnliches anzudeuten, wenn er den Wandlungsprozeß als „Denaturierung“ bezeichnet22 und statuiert: „Aus der Freiheit der Anarchie wird die Freiheit der Demokratie.“23 Doch sucht er die Lösung nicht über eine radikal andere Anthropologie,24 sondern untersucht die Metamorphosen, denen der Freiheitsbegriff unterliegt. An die Stelle von Rousseaus schlagartiger Verwandlung tritt eine Reihe von systematisch entfalteten Wandlungsprozessen,25 als deren Folge sich die zentralen Strukturelemente demokratischer Ordnung ergeben.
III. Strukturelemente demokratischer Ordnung
1. Individuelle Autonomie – kollektive Selbstbestimmung
Zu erinnern ist zunächst daran, daß Freiheit für Kelsen im Kern Autonomie, also Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung meint. Unter den Bedingungen eines gesellschaftlichen Miteinander muß sich indes die vorstaatliche Freiheit jeder Ordnung zur stets beschränkten Freiheit staatlichen Ordnung wandeln. So wird – dies der erste Schritt – aus individueller Autonomie eine Form kollektiver Selbstbestimmung. Als frei in einem sozialen Verband wie dem Staat kann gelten, „wer zwar untertan, aber nur seinem eigenen, keinem fremden Willen untertan ist“. Von daher erklärt sich die nähere Bestimmung von Demokratie als Herrschaft des Volkes über das Volk, als Identität von Subjekt und Objekt der Herrschaft.26
2. Majoritätsprinzip
Nun liegt auf der Hand, daß eine vollständige Kongruenz von Heteronomie und Autonomie nur aufrechtzuerhalten wäre, wenn alle staatlichen Entscheidungen einhellig getroffen würden. Ein derartiges Erfordernis der Einstimmigkeit, so Kelsen in realistischer Analyse, wäre indes illusorisch und kontraproduktiv: illusorisch, weil praktisch nicht zu erreichen und daher „bei der erfahrungsmäßigen Gegensätzlichkeit der Interessen für das praktische Staatsleben […] indiskutabel“,27 und kontraproduktiv, weil es bei nur einigermaßen komplexen Verhältnissen zur Obstruktion und zur Anomie, also zur Auflösung jeglicher Ordnung führen würde.28 Es muß daher zur Ablösung des Einstimmigkeitserfordernisses durch das Mehrheitsprinzip kommen, dessen Rechtfertigung Kelsen eben darin erblickt, „daß – wenn schon nicht alle – so doch möglichst viele Menschen frei sein, d.h. möglichst wenige Menschen mit ihrem Willen im...




