E-Book, Deutsch, 242 Seiten
Drerup / Mugica / Yacek Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen?
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-039884-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Demokratische Bildung und die Kontroverse über Kontroversitätsgebote
E-Book, Deutsch, 242 Seiten
ISBN: 978-3-17-039884-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen? Inwieweit sind sie im Unterricht zu (partei-)politischer Neutralität verpflichtet? Wie sollen sie im Unterricht mit kontroversen und polarisierenden Themen, z.B. Migration, Klimawandel, COVID- 19 Pandemie etc. umgehen? Wie sollen sie sich zu extremistischen, illiberalen und antidemokratischen Äußerungen von Schülern verhalten? Diese Fragen sind nicht allein von akademischer Relevanz. Die Kontroverse über den angemessenen pädagogischen Umgang mit kontroversen Themen ist in den letzen Jahren wieder zu einem gesellschaftlich brisanten Topos der Auseinandersetzung geworden. Der Band beschäftigt sich mit der pädagogischen Kontroverse über Kontroversitätsgebote und den Folgerungen, die sich daraus für die Praxis des Unterrichtens in unterschiedlichen Fächern ziehen lassen.
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Vermitteln und Mitteilen: Die Meinung der Lehrperson in der Diskussion kontroverser Themen
Johannes Giesinger
1 Einleitung
Eine Lehrperson behandelt im Unterricht das Problem der Sterbehilfe, und in der Klasse werden verschiedene Meinungen vertreten. Während die meisten Schülerinnen und Schüler einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe offen gegenüberstehen, gibt es auch vereinzelte ablehnende Stimmen. Darf die Lehrperson in einer solchen Diskussion selbst Stellung beziehen? Die Frage, ob die Lehrperson den Lernenden ihre Meinung mitteilen darf, ist zu unterscheiden von der Frage, ob sie eine Auffassung als die richtige vermitteln darf. Paula McAvoy (2017) verwendet in diesem Kontext die Begriffe »share« und »advocate«: »Teachers share a view when they make their opinion about a political issue known to the class or a student but do so in a way that communicates this is just one view among many possible views. When teachers advocate for a view, they are trying to convince or persuade others to adopt that view.« (S. 375) Michael Hand spricht von »direktivem« Unterrichten, setzt dieses Konzept jedoch nicht dem Mitteilen von Meinungen gegenüber, sondern Unterrichtsformen, in denen Themen als kontrovers behandelt werden. Charakteristisch für direktives Unterrichten ist nach Hand »the willingness of the teacher to endorse one view of a matter as the right one« (Hand 2008, S. 213). Diese Formulierung wirkt unscharf, wenn man die Unterscheidung zwischen Mitteilen und Vermitteln in den Blick nimmt. Sich auf eine Auffassung als die richtige festzulegen bedeutet nicht notwendigerweise, dass man diese vermitteln will, indem man andere davon überzeugt. In einem aktuellen Beitrag Hands findet sich denn auch eine präzisere Definition: Wesentlich für direktives Unterrichten ist gemäß Hand, dass die Lehrperson ein bestimmtes Ziel verfolgt – »the aim of persuading pupils that a matter is settled, a claim true or a standard justified« (Hand 2020, S. 14). Wie Hand hervorhebt, ist direktives nicht mit »didaktischem« Unterrichten – d. h. mit der expliziten und direkten Vermittlung von moralischen oder politischen Gehalten – gleichzusetzen, sondern kann auch indirekte Formen annehmen: So können Schüler und Schülerinnen durch die gezielte Auswahl von Filmbeispielen, durch die Steuerung der Klassendiskussion oder durch spezifisch ausgestaltete Projektaufträge dazu gebracht werden können, bestimmte Auffassungen zu akzeptieren. Während die Vermittlung »richtiger« Positionen nicht notwendigerweise expliziten Charakter haben kann, bezieht sich die Debatte um Meinungsäusßerungen von Lehrpersonen primär auf explizite Mitteilungen, kann aber darüber hinaus auch nonverbale oder implizite Botschaften betreffen. Ein Kreuz um den Hals kann ebenso als Meinungsäußerung aufgefasst werden wie der Verzicht auf Fleisch beim Mittagessen in der Schule. Die folgenden Überlegungen fokussieren allerdings auf verbale Stellungahmen in der Unterrichtssituation. Im nächsten Abschnitt (2) skizziere ich die Debatte um direktives Unterrichten und diskutiere kurz die hauptsächlich vertretenen Kriterien dafür, was direktiv vermittelt werden soll – das verhaltensbezogene, das epistemische, das politisch-authentische und das politische Kriterium (vgl. Drerup 2021; vgl. Giesinger 2021). Dies bereitet den Boden für die Frage danach, ob Lehrpersonen ihre Meinung mitteilen dürfen: Diese Frage bezieht sich auf Auffassungen, die nach dem jeweiligen Kriterium nicht direktiv zu vermitteln sind und auch nicht direktiv zurückgewiesen werden dürfen. Vor diesem Hintergrund können zunächst zwei Extrempositionen unterschieden werden: Nach der einen soll die Lehrperson in jeder Situation ihre Neutralität wahren und ihre Meinung nie äußern. Gemäss der zweiten Position überträgt sich die Redefreiheit, über die die Lehrperson als Bürgerin verfügt, auf ihre Rolle im Klassenzimmer: Demnach ist sie genauso wie die Schüler und Schülerinnen grundsätzlich berechtigt, ihre Meinung zu äußern. Im Folgenden argumentiere ich für eine dritte Position, nach der es vom Unterrichtskontext abhängt, ob die Lehrperson ihre Meinung mitteilen soll oder nicht (ähnlich McAvoy 2017): In der jeweiligen Situation sollen Gründe für oder gegen das Mitteilen der eigenen Meinung gegeneinander abgewogen werden. Welche Erwägungen hier relevant sind, erörtere ich im dritten, vierten und fünften Abschnitt. 2 Vermitteln
Betrachtet man die internationale Debatte darüber, was im Unterricht direktiv vermittelt werden darf, so stößt man auf zumindest vier unterschiedliche Kriterien. Das erste Kriterium besagt, dass in der Schule alles, was in der Gesellschaft tatsächlich umstritten ist, als kontrovers behandelt werden sollte. Dieses verhaltensbezogene (behavioral) Kriterium ist problematisch, weil es Personen mit beliebig abwegigen Auffassungen das Recht einräumt, etwas als kontrovers zu deklarieren. Dies könnte etwas für die Leugnung des Holocaust gelten oder für Ansichten über den Klimawandel oder die Coronakrise, die mit dem Stand der Wissenschaft unvereinbar sind. Jede haltlose Verschwörungstheorie müsste im Klassenzimmer ernstgenommen werden und dürfte nicht direktiv zurückgewiesen werden. Das epistemische Kriterium, wie es insbesondere von Michael Hand (2008) vertreten wird, setzt hier ein: Demnach sollen im Unterricht jene Auffassungen direktiv vertreten werden, die durch Argumente und Evidenz begründet sind. Hand geht davon aus, dass gewisse Fragen epistemisch geklärt sind und deshalb im Unterricht nicht offengehalten werden sollen. Sein Hauptinteresse gilt moralischen Fragen, aber das Kriterium lässt sich ebenso auf Aussagen über Fakten beziehen. Hand scheint es für unmittelbar einleuchtend zu halten, dass epistemisch geklärte Auffassungen unter Angabe der relevante Gründe vermittelt werden dürfen: Was sollte dagegen sprechen, das zu vertreten, was wahr ist? Darüber hinaus entwickelt Hand ein Argument für das epistemische Kriterium, das sich auf die Bedeutung rationalen Denkens und Handelns für das menschliche Wohlergehen bezieht (vgl. Hand 2008, S. 218). Das Argument lautet, dass es die Entwicklung rationaler Einstellungen – und damit letztlich das Wohlergehen der Lernenden – untergräbt, wenn begründete Auffassungen im Unterricht nicht direktiv vertreten werden: Nimmt die Lehrperson in allen Fällen eine epistemisch neutrale Haltung ein und behandelt selbst offensichtliche Wahrheiten als kontrovers, können Lernende demnach die Haltung entwickeln, dass Argumente und Evidenz nicht von entscheidender Bedeutung sind: Selbst wenn alles für eine bestimmte Auffassung spricht, so die vermittelte Botschaft, kann man immer noch anderer Meinung sein. Ein Unterricht, der auf die Förderung der Rationalität ausgerichtet ist, sollte deshalb nach Hand nicht epistemisch neutral bleiben. Die Diskussion um Hands Ansatz bezieht sich unter anderem auf die Frage, ob rational begründete Positionsbezüge der Lehrperson für die Entwicklung rationaler Haltungen und Fähigkeiten unabdingbar sind (dazu Warnick & Spencer 2014, Gregory 2014, Tillson 2017). Es geht hier also nicht um das angestrebte Ziel, die Förderung von Rationalität, sondern um den instrumentellen Zusammenhang zwischen der Unterrichtskommunikation und diesem Ziel. Beispielsweise wird eingewandt, dass sich Rationalität fördern lässt, wenn man als Lehrperson keine inhaltlichen Wertauffassungen vermittelt, sondern die Lernenden direktiv in prozedurale rationale Praktiken einführt (vgl. Gregory 2014). Ein weiterer Einwand besagt, dass das epistemische Kriterium die politische Debatte im Schulzimmer zu stark einschränkt, da politisch relevante Positionen existieren, die epistemischen Ansprüchen nicht genügen, es aber doch verdienen, kontrovers diskutiert zu werden. Diana Hess und Paula McAvoy (2015, S. 168–169) haben vor diesem Hintergrund das Kriterium der politischen Authentizität entwickelt, gemäss dem nicht alle gesellschaftlich kontroversen Fragen als kontrovers zu behandeln sind, aber zumindest diejenigen, die Eingang in den politischen Diskurs gefunden haben. Dieses Kriterium lässt viel Spielraum für problematische moralische oder politische Positionen und abwegige empirische Auffassungen – diese müssen im Klassenzimmer ernstgenommen werden, sobald sie den politischen Mainstream erreichen. Im Weiteren wird das sogenannte politische Kriterium diskutiert. Dieses besagt gemäß gängigen Darstellungen, dass diejenigen moralischen oder politischen Gehalte direktiv vermittelt...