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E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Droste Werte

Ein gemeinsames Fundament für Deutschland und Europa?

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-451-81518-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Grundlagen des modernen Staates speisen sich aus gemeinsamen Vorstellungen über eine gerechte Verfasstheit des Gemeinwesens – aus Werten. Solche Werte resultieren aus den vorherrschenden Weltanschauungen sowie den sich daraus ableitenden Menschen- und Gesellschaftsbildern. Sie sind das Minimum dessen, was für staatlich verfasstes Zusammenleben als unverzichtbar angesehen wird und für alle verbindlich gilt. Renommierte Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik leisten in diesem Band grundlegende Beiträge über unsere allgemeingültigen Werte.
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70 Jahre Verfassung des Landes Hessen – Verfassungsgeschichte und Verfassungswandel

von Udo Di Fabio
Die hessische Landesverfassung gehört zum neuzeitlich westlichen Verfassungstyp. Dies zu betonen, ist in einer Zeit postmoderner Sinnsuche keineswegs trivial. Aus einer ideengeschichtlichen Perspektive kann man zwar große universelle Entwicklungslinien verzeichnen, die von der griechischen Antike, dem römischen Recht, dem christlichen Mittelalter über den Renaissance-Humanismus und die Aufklärung sowie die Verbriefung der Menschenrechte bis in die Gegenwart reichen. Doch gleichzeitig gibt es Brüche, nicht lineare Entwicklungsverläufe und Kontingenzen. Niemand kennt die Zukunft. Gerade deshalb ist Herkunft wichtig und gerade deshalb lohnt es sich, auch über Verfassungsgeschichte und Verfassungswandel nachzudenken und nach 70 Jahren eine Art Zwischenbilanz zu ziehen.*1 Die deutsche Demokratie wurde nach 1945 von unten nach oben wiederaufgebaut, in einer Ambivalenz von alliierter Besatzungsherrschaft und demokratischem Selbstbehauptungswillen der Deutschen. Es gab zunächst keine Bundesebene. Die Besatzungsherrschaft hatte diese Ebene der staatlichen Existenz zunächst einmal außer Kraft gesetzt und die Regierungsgewalt selbst übernommen. Sie wurde allerdings rasch von den Kommunen über die Länder wiederaufgebaut, nur in der ersten Phase noch ohne Wahlen und ohne Verfassungsdokumente durch Akte der alliierten Militärregierung. So wurde auch in Hessen von der amerikanischen Besatzungsbehörde zunächst ein vorbereitender Verfassungsausschuss eingesetzt, bestehend aus politischen Praktikern wie Georg-August Zinn und Rechtsgelehrten wie Walter Jellinek. Am 30. Juni 1946 fanden die Wahlen zur verfassungsberatenden Landesversammlung statt. Diese verfassungsgebende Versammlung stellte am 30. September 1946 den Entwurf einer Landesverfassung vor, der dann noch einer Volksabstimmung am 1. Dezember 1946 unterworfen wurde. Drei Viertel der abgegebenen Stimmen stimmten der Verfassung zu und zeigen, wie deutlich die hessischen Bürger ihre neue Verfassung bejahten. Zusammen mit der baden-württembergischen Landesverfassung und der Verfassung des Freistaates Bayern handelt es sich um eine der ersten und auch inhaltlich prägenden Nachkriegsverfassungen. Prägend war etwa die Voranstellung der Grundrechte, die bereits den posttotalitären Geist der frühen Landesverfassungen zeigt, und auch die in Art. 3 erwähnte Würde des Menschen, wenngleich sie noch nicht die Zentralität der Voranstellung des Grundgesetzes besitzt. Posttotalitär sind die neuen Verfassungen nicht, weil sie eine Zäsur mit den älteren Verfassungsdokumenten seit der Paulskirchenverfassung 1848/49 oder zur Weimarer Reichsverfassung oder zur eigenen landesverfassungsrechtlichen Tradition wollen. Die Verfassungsgebung nach 1945 hat nicht mehr die Republik an den Anfang gestellt, denn 1919 ging es vor allem um die Vollendung und Sicherung der Demokratie, während nach 1945 unter westalliierter Besatzungsherrschaft die Demokratie ohnehin nicht zur Debatte stehen konnte, aber die zivilisatorische Entgleisung der Deutschen zwischen 1933 und 1945 tiefere Begründungen des Menschen- und Gesellschaftsbildes verlangte. Man könnte sagen, dass man 1919, nach dem Sturz der Fürstenherrschaft, gestützt auf dem geistigen Fundus der Aufklärung, das Programm politischer und sozialer Selbstbestimmung vollenden wollte, während man nach 1945 in Deutschland die noch tieferen Quellen des Humanismus suchte, und sich nicht allein auf die Weisheit demokratischer Mehrheitsentscheidungen verlassen wollte, obwohl diese niemals zur Disposition gestellt, sondern durch akzentuierte, an den Anfang gestellte Grundrechte gerade gesichert werden sollte. Manches in der grundrechtlichen Architektur ist in den frühen Landesverfassungen nach 1945 durchaus noch klarer als im Grundgesetz formuliert. Die Prägnanz des Satzes »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich« findet sich sowohl in Art. 1 der hessischen Landesverfassung wie auch in Art. 3 des Grundgesetzes, aber das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Art. 2 Abs. 1 GG wird in seinem Sinngehalt (ohne sachliche Differenz ) noch deutlicher in Art. 2 der hessischen Landesverfassung von 1946, wenn dort die Freiheit des Menschen damit erläutert wird, dass er tun und lassen dürfe, was er wolle, solange er nicht die Rechte anderer verletzt oder die verfassungsmäßige Ordnung des Gemeinwesens beeinträchtigt. Und dass der Mensch in seiner körperlichen und seelischen Integrität (»Leben und Gesundheit«) sowie in seiner Würde, die in Art. 3 der hessischen Landesverfassung in der Verbindung »Ehre und Würde« auftritt, unantastbar ist, macht auch die Verletzlichkeit des Einzelnen ebenso wie seine Maßstäblichkeit für die gesamte Rechtsordnung deutlich. Die Voranstellung der Grundrechte war eine konzeptionelle Grundentscheidung. Die Akteure in den verfassungsgebenden Versammlungen waren Zeitzeugen des Untergangs der Weimarer Demokratie. Sie wussten sehr genau, dass die Deutschen 1932 in freien Wahlen zwar nicht die NSDAP mehrheitlich gewählt, wohl aber die Demokratie abgewählt hatten. In den beiden freien Reichstagswahlen dieses letzten Jahres der Weimarer Demokratie haben die zur Wahlurne gerufenen Frauen und Männer verfassungsfeindlichen Parteien, der NSDAP, der KPD und der DNVP, zu einer deutlichen Mehrheit verholfen und damit demokratisches Regieren auf der Grundlage der Weimarer Verfassung definitiv unmöglich gemacht. Ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Volk mag bei der Verfassungsgebung nach 1945 deshalb im Spiel gewesen sein, das erklärt den Verzicht auf Plebiszite im Bund, aber man wollte trotzdem konstruktiv und optimistisch einen Neuanfang wagen. Dennoch ist es auch eine Mahnung und Verfassungserwartung, wenn die persönliche Entfaltungsfreiheit, die Rechtsgleichheit, die Integrität des Menschen, das sittliche Menschenbild nach vorne und in den Mittelpunkt gerückt werden. Nicht allein die Mehrheit, nicht allein Rousseaus Volonté générale sind in der Demokratie maßgebend, auch die demokratische Mehrheitsentscheidung muss sich am Maßstab der Grundrechte messen lassen: das ist die Botschaft einer Stärkung richterlicher Unabhängigkeit zugunsten auch von Minderheiten und Einzelinteressen. Der totalitäre, menschenverachtende Spruch »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, wird in seiner Radikalität nicht einfach umgekehrt, aber dementiert und korrigiert, in eine richtige Balance gebracht: Das Gemeinwesen als demokratischer und sozialer Rechtsstaat ist die notwendige Ordnung für die freie Entfaltung und Achtung der Persönlichkeit, aber jede politische Herrschaft hat letztlich dem einzelnen Menschen, den Bürgern zu dienen, ist von ihrem Willen abgeleitet. In Nachkriegsverfassungen wie der Hessischen wird deutlicher als 1919 der Zusammenhang zwischen subjektiven Grundrechten und objektiven Staatsstrukturprinzipien als zusammengehörig und funktional getrennt sichtbar. Man kann dies in das Bild einer normativen Doppelhelix bringen. Vom Ausgangspunkt der Würde des Menschen aus entfaltet sich der genetische Code der Freiheit an zwei Strängen, die zueinander gehören und doch nicht verschmelzen. Jeder einzelne Mensch, jeder Bürger entfaltet sich nach seiner eigenen Vorstellung und Willensbildung und das hat die Gemeinschaft zu respektieren. Aber alle Bürger einer politischen Gemeinschaft entfalten sich in ihrer Republik auch gemeinsam, und was sich hier an freiheitlicher Ordnung bildet, hat auch der Einzelne zu respektieren. Die Ambivalenz beider Freiheitsansprüche, des individuellen wie des gemeinschaftlichen, macht den eigentlichen Charakter moderner Verfassungsstaaten aus und rückt die Verfassungsrechtsprechung in eine zentrale Position. Trotz dieser Balance von individuellen Entfaltungs- und Abwehrrechten auf der einen Seite und demokratischer Selbstregierung auf der anderen Seite gelingt das verfassungsrechtliche Modell einer politischen Gemeinschaft letztlich nur dann, wenn zwischen dem Einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft ein intermediärer Bereich gesellschaftlicher Selbstorganisation besteht, der als Zivilgesellschaft den Menschen einen sittlichen Erfahrungsraum und eine praktische Gestaltungsmöglichkeit jenseits politischer Herrschaftsformen ermöglicht. Zwischen Staat und Individuum standen und stehen klassischerweise Ehe und Familie, die als Grundlagen des Gemeinschaftslebens von der hessischen Landesverfassung (Art. 4 Abs. 1) ebenso wie vom Grundgesetz (Art. 6 Abs. 1) besonders hervorgehoben werden in ihrer Leistung für die Stabilität und die Zukunftsfähigkeit einer freiheitlichen Gesellschaft. Neben der Familie gibt es eine ganze Vielfalt von Vereinigungen, die sich im vorpolitischen Raum der Gesellschaft organisieren und die gemeinschaftliche Ausübung von Freiheiten im vorstaatlichen Bereich erlauben. Dazu zählen Vereine, Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, Gewerkschaften, Verbände, Initiativen, Nichtregierungsorganisationen bis hin zu den politischen Parteien. Der Begriff der Zivilgesellschaft darf nicht verengt werden auf politiknahe Organisationen, wie Umweltverbände, sondern muss in der ganzen Pluralität als Zwischenschicht ernst genommen und in den Leistungen etwa bei der Gestaltung des Wirtschaftslebens durch die Koalitionen in Ausübung ihrer Tarifautonomie angemessen gewürdigt werden. Wenn es so sein sollte, dass die Bereitschaft zur Selbstverpflichtung und zur Bindung in Vereinigungen angesichts der Mobilität einer individualisierten Gesellschaft abnimmt, dann entsteht insofern ein Problem für die Balance zwischen dem Anspruch individueller Selbstentfaltung und republikanischer Gemeinsamkeit, weil dann immer mehr Aufgaben auf den Staat verlagert werden und dessen Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft...


Bernadette Droste (*1958 in Düsseldorf) ist seit 2004 Leiterin der Vertretung des Landes Hessen in Berlin. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Bonn und den juristischen Staatsexamina arbeitete sie an den Universitäten Berlin (FU, wo sie promovierte) und Bonn. Von 1990 bis 2004 war sie im Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln tätig, u.a. als Leiterin des Stabsbereichs und Leiterin einer Unterabteilung. Unterbrochen wurde die Tätigkeit 1994/95 durch einen Aufenthalt am NATO-Defense-College in Rom und 1995/96 durch eine Verwendung als Büroleiterin des Staatssekretärs des Bundesministeriums des Innern. Sie ist Autorin von Büchern zur Authentischen Interpretation von Gesetzen, zur Organisierten Kriminalität und zum Recht des Verfassungsschutzes sowie zahlreichen Fachartikeln.

Udo Di Fabio, geb. 1954, Verfassungsrichter, Professor für öffentliches Recht, Buchautor.
Wolfgang Huber, Dr. theol., geb. 1942, seit 1980 Theologieprofessor in MArburg (Sozialethik) und Heidelberg (Systematische Theologie); 1983-85 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Von 1994-2009 Bischof von Berlin-Brandenburg, von 2003-2009 Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Herder spektrum: Vertrauen erneuern. Eine Refom um der Menschen willen, 5605

Paul Kirchhof, Dr. jur., Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat Kirchhof an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt. Von 2013 bis 2015 war er Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Als Wissenschaftler und Autor viel beachteter Bücher widmet er sich insbesondere Fragen von Recht und Staatlichkeit, von politischer Gewalt und Finanzmacht, von Recht und Technik.

Professor Dr. phil. Hans Mathias Kepplinger, geb. 1943, lehrt Publizistikwissenschaft am Institut für Publizistik an der Universität Mainz. Veröffentlichungen bei Alber: (als Hg.:) angepasste Außenseiter. Was Journalisten denken und wie sie arbeiten (1979), Die aktuelle Berichterstattung des Hörfunks. Eine Inhaltsanalyse der Abendnachrichten und der politischen Magazine (1985). Darstellungseffekte. Experimentelle Untersuchungen zur Wirkung von Pressefotos und Fernsehfilmen (1987), (mit K. Ghotto, H.-B. Brosius, D. Haak:)Der Einfluß der Fernsehnachrichten auf die Politische Meinungsbildung (1989), (mit U. Hartung:) Störfall-Fieber. Wie ein Unfall zum Schlüsselereignis einer Unfallserie wird (1995), Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft (1998).
Norbert Lammert, Dr. rer. soc., geb. 1948, seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages; 1989-1998 Staatssekretär; Mitglied des CDU-Präsidiums; 2002-2005 Vizepräsident, seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Er ist Honorarprofessor der Uni seiner Heimatstadt Bochum.

geb. 1964, ist Politologe und lebt als freier Publizist in Bonn. Er ist Mitglied des Pastoralrates der Erzdiözese Köln.


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