E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Dubini Aria
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-522-65251-3
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Schicksal fährt Fahrrad
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-522-65251-3
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Miriam Dubini wurde 1977 in Mailand geboren. Ihr erstes Fahrrad war ein 'Saltafoss' mit einer Piratenflagge, die sie von ihrem aufmüpfigen Cousin geerbt hatte. Darauf folgte ein knallbuntes Mountainbike mit vielen Graffitis, das sie die ganze Schulzeit über begleitete. Während sie ihren Master in Film & Fiction absolvierte und anschließend als Autorin für Disney arbeitete, fuhr Miriam Dubini ein sonnengelbes Hollandrad. Dann wechselte sie sowohl die Stadt als auch ihr Transportmittel und lebt heute in Rom, wo sie Kinder- und Jugendbücher schreibt und mit ihrem blauen Rennrad die Höhen und Tiefen der italienischen Hauptstadt erklimmt ... genau wie Aria.
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Rom
Am Tag, als er kam, war niemand bereit. Eingehüllt in Wintermäntel und versteckt unter Regenschirmen beachteten die Passanten den Himmel über der Stadt überhaupt nicht. Es war ein verregneter und langweiliger Winter in Rom gewesen. Melancholisch waren die gleichförmigen Tage vergangen, aber am Ende hatten sich alle daran gewöhnt.
Dann geschah es. Er brach hervor, zerriss mit einem Hauch eine Wolke, trieb die Vogelschwärme auseinander, schüttelte die zum Trocknen aufgehängte Wäsche und die verschlafenen Zweige der Bäume. Ein Regenschirm flog davon, ein Mantel öffnete sich und es war Frühling. Blütenblätter und Salzgeruch zogen in die Stadt ein, und plötzlich erinnerten sich alle wieder an den Himmel. Die Menschen blickten hinauf und bemerkten den Wind. Eine kräftige, warme Brise ließ die Pflanzen keimen, trug Schmetterlinge herbei und blies die Blütenpollen über die Wiesen. Doch niemand erinnerte sich an den Namen des Windes.
Angetrieben von den Böen begann sich das große Holzrad am Eingang der Werkstatt langsam zu drehen. Der Wind drückte in den weiten Eingangsbereich, strich über die Lichtstreifen am Boden, die die vier regenverdreckten Fenster in den Schatten zeichneten. Auf dem verstaubten Fußboden standen etwa dreißig Fahrräder in allen Größen. An der Tür drängten sich die Rennräder, daneben die Hollandräder und in einer Ecke reihten sich die Kinderräder aneinander. Rahmen ohne Räder und Metallfelgen bildeten an der hinteren Wand einen Berg aus Kreisen und Rauten. In einem Eisenregal lagen Ersatzteile aller Art, fein säuberlich sortiert. Links, an einer Wand aus roten Backsteinen, hingen große Werkzeuge, rechts gab es vor einer altmodischen Wandverkleidung ein kleines Wohnzimmer für erschöpfte Radfahrer. Die Einrichtung bestand aus einem zerkratzten Ledersofa, einer Stehlampe mit einem ausgeblichenen gelben Schirm und einem Radio. Guido schaltete es jeden Morgen um acht Uhr ein und jeden Abend um neun Uhr wieder aus. Er wechselte nie den Sender und wusch sich jedes Mal die Hände, bevor er das Radio berührte. Er erlaubte niemandem, es anzufassen, nicht einmal seinem Sohn. Es war das einzige Stück in dieser Halle, das er ganz allein für sich beanspruchte. Alle übrigen Dinge teilte er mit den anderen Radfahrern.
Als der Frühlingswind kam, reparierte Guido gerade ein wassergrünes Bianchi-Rennrad aus den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mit ölschwarzen Fingern hantierte er geschickt an den Bremsbacken, während er in Gedanken einem großen Radrennen nachhing, das er vor langer Zeit gefahren war: die Eroica. Das Rennen war durch die Hügel der Toskana um Siena herum verlaufen, auf weißen, staubigen Straßen, wie durch Wolken hindurch. Schweiß- und staubbedeckt hatte er als Erster das Ziel erreicht. Der Sieg kribbelte ihm immer noch auf der Haut, so wie die Erinnerung an diese lang vergangene Zeit. Guido atmete den duftenden Wind ein und schloss die Augen. Ein Lächeln breitete sich in seinem grauen Bart aus. Er blickte auf und ging mit ausgebreiteten Armen zur Tür, so als wollte er einen alten Freund empfangen.
»Favonio«, sagte er und nannte den Wind bei seinem Namen.
Der Luftstrom zog in die Ärmel von Guidos altem Arbeitshemd und erwiderte die Umarmung, während der letzte Ton einer Geige aus dem Radio sanft verklang. Eine tiefe Stimme verkündete feierlich: »Allegro, Konzert Nummer 1 in B-Dur von Tomaso Albinoni.«
Der Wind legte sich und ein aluminiumfarbenes Fahrrad rollte heran. Ein Junge mit einem Herrenhut auf dem Kopf fuhr in die Werkstatt, bremste sanft und balancierte mit beiden Füßen auf den Pedalen mitten im Raum. »Warum haben die nur immer so traurige Stimmen? Das verstehe ich echt nicht. Diese Musik ist doch total fröhlich«, sagte er zu seinem Vater.
»Wer die? Welche Stimmen meinst du, Anselmo?«, fragte Guido.
»Na, die in deinem Radio.«
Guido zuckte mit den Schultern: »Die sind nicht traurig.«
Der Junge, der mit der Antwort überhaupt nicht zufrieden war, blieb noch einen Moment auf den Pedalen seines Rades stehen, sah nach oben und überlegte, wie die Frau, der die Stimme gehörte, wohl aussah. Sie hatte bestimmt kleine Augen und knotige Finger.
»Und?«, rief der Vater.
»Hä?«, erwiderte Anselmo zerstreut.
»Hast du was gesehen?«
Der Junge schüttelte den Kopf und setzte endlich die Füße auf den Boden. »Nein, der Wind ist noch zu schwach.«
Guido schaute auf das Windrad am Eingang, das sich nur noch ruckartig in den vereinzelten Böen drehte. »Aber heute Nacht wird er stärker.«
Am späten Nachmittag kam Aria mit zwei halbleeren Einkaufstüten aus dem Supermarkt. Vor dem Laden stand ihr Fahrrad, das sie »Merlina« getauft hatte. Ein blaues Olmo-Herrenrad, das vom Rost zerfressen war, mit stabilen Felgen und einer violetten Hupe anstelle der Klingel. Sie hängte die Tüten an den Lenker, auf jede Seite eine, und seufzte. Sie hasste es, mit so einem Ballast zu fahren. Die Tüten verhinderten, dass sie schnell vorankam. Doch sie nahm immer das Rad und ihre Mutter ging nie einkaufen, also blieb ihr gar nichts anderes übrig.
Sie bummelte die breite, verlassene Hauptstraße entlang und beobachtete den gelblichen Schein der Vorstadtlaternen, die schon angegangen waren. Die Reihe der Lichter brach abrupt vor einer Stahlbetonmauer ab, die neun Stockwerke hoch und einen Kilometer lang war. Der Corviale, ein riesiger Wohnkomplex. In Rom nannte man dieses Gebäude auch »die Riesenschlange«. Es wurde gemunkelt, dass der Architekt, der das Haus entworfen hatte, sich umgebracht hatte, als er das fertige Werk sah. Aria glaubte nicht daran. Das waren die üblichen Geschichten der Jungs, die mit ihren Mofas auf der Piazzetta herumhingen. Sie tranken, sie rauchten und sie erzählten solche Sachen. Daran waren nur die Mofas schuld. Denn wenn die Typen Rad fahren würden, wären sie viel aufmerksamer und würden ihre Puste nicht so verschwenden.
Da war sie, die Piazzetta, der kleine Platz. Mit den Mofas, den Jungs, den Rauchschwaden. Der verräucherte Schlund der Riesenschlange.
Am Fahrstuhl klebte das übliche Schild: AUSSER BETRIEB. Auf dem gelblichen Papier, das seit Monaten da hing, war ein neuer Satz aufgetaucht: Möge Lucifero euch holen!
Lucifero war ein alter Mann aus dem Viertel, der im Krieg ein Ohr verloren hatte. Sagte er zumindest. Er erzählte viele solcher Dinge, die man alle nicht glauben konnte, und er lebte seit Urzeiten im Corviale. Lucifero war mürrisch und griesgrämig, und die Mütter machten ihren ungezogenen Kindern oft mit ihm Angst, so als wäre er der Schwarze Mann. Wie die Mütter ihren bockigen Kindern drohten die Hausbewohner nun der Verwaltung mit Lucifero. Doch die war ein eigensinniger und gleichgültiger Feind und würde deshalb noch lange nicht den Aufzug reparieren. Denn im Gegensatz zu den Kindern hatte die Hausverwaltung keine Fantasie und ohne Fantasie nützte auch die Drohung mit Lucifero nichts, der Fahrstuhl steckte weiterhin fest.
Trotz allem musste Aria lächeln. Sie stellte sich Lucifero vor, wie er laut fluchend die Handwerker dazu brachte, dass sie den Aufzug reparierten. Dann schaute sie nach oben durch das Treppenhaus, das sich trostlos in die Dunkelheit wand, und ihr Lächeln verschwand. Sieben Stockwerke mit den Einkaufstüten und Merlina auf der Schulter. Aber wenn sie das Rad vor dem Haus anschlösse, würden sich die Jungs des Viertels sofort darauf stürzen und es abmontieren, also hatte sie keine Wahl.
Schnaufend kam sie in der Wohnung an. Sie war leer, nur eine Aluschüssel auf dem Tisch hieß sie willkommen. Darin lagen ein frittiertes Reisbällchen und eine gelbe unförmige Masse: Die Reste aus dem Restaurant, in dem ihre Mutter jeden Abend arbeitete. Aria nahm das Reisteil, öffnete das Fenster, hockte sich auf die Fensterbank und knabberte im Dunkeln an dem Bällchen. Sie betrachtete Rom, das unbeweglich zu ihren Füßen lag. Hier oben wehte immer ein Windhauch und das war das einzig Schöne an diesem Ort.
»Dieses Reisbällchen ist ekelhaft. Willst du etwas?«, fragte sie den Wind.
Der Wind schwieg.
Sie biss noch einmal ab und warf den letzten Rest nach draußen, wobei sie genau auf die Kuppel des Petersdoms zielte, die klein und hellblau am Horizont in den Himmel ragte.
Eine heftige Windböe traf Aria und brachte sie fast aus dem Gleichgewicht.
»Sag ich doch, dass es eklig ist«, erwiderte sie und rutschte in die Wohnung zurück, bevor sie das gleiche Schicksal ereilte wie der Rest vom Reisbällchen.
Sie schloss das Fenster und betrachtete ihr Spiegelbild in der Scheibe. Aschblonde kurze Haare mit einem dünnen, langen Zöpfchen, das ihr bis auf die Schultern herabhing, wie ein kaputter Rahmen auf der linken Seite des mageren Gesichts. Grüne Augen, still und tief, funkelten wie das Waldlicht der Hochgebirge. Kleiner Mund, kleine Nase, markante Wangenknochen. Und ein Muttermal, schwarz und rund, genau in der Mitte des Kinns. Sie hasste dieses Muttermal. Sie legte einen Finger darauf und verdeckte es, dann stellte sie sich ihr Gesicht ohne diesen schrecklichen Makel vor. Es ging nicht, sie schaffte es einfach nicht. Und was hätte es auch genutzt? Nur eine Operation hätte sie davon befreien können.
Sie putzte sich die Zähne und ging schlafen.
Morgen war wieder Schule. Damit sie rechtzeitig zur ersten Stunde auf der anderen Seite der Stadt ankam, musste sie bei Sonnenaufgang aufstehen. Ihre Mutter hatte sie an einer Schule im Zentrum angemeldet, denn sie sollte später einmal eine bessere...




