E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Dyer Aus schierer Wut
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8321-8934-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In D. H. Lawrence' Schatten
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8934-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ehrfurcht ist die Mutter aller Schreibblockaden. Das bekommt auch Geoff Dyer zu spüren, als er sein nächstes Buch angeht: eine Studie über sein Vorbild D. H. Lawrence, den Schöpfer der ›Lady Chatterley‹. Schon das Notizenmachen will nicht gelingen. Also versucht er es mit einem Roman. Den wollte er ohnehin schreiben. Aber wie soll er das schaffen, wenn er nicht einmal weiß, wo er wohnen will? Vielleicht könnte er mit seiner Freundin in Rom sesshaft werden. Oder aber ein wenig herumreisen. Aber auf der griechischen Insel Alonissos ist es einfach zu ruhig zum Arbeiten. Und auf Sizilien will erst mal seine Abneigung gegen Meeresfrüchte verarbeitet werden …
›Aus schierer Wut‹ ist das Porträt eines Autors in einer Schaffenskrise – klug, sprachmächtig und so komisch, dass es einem vor Lachen die Tränen in die Augen treibt. Gequält, gleichermaßen beschwingt und übellaunig reist Geoff Dyer durch die Welt, erzählt von seiner Unfähigkeit, ein Projekt zu Ende zu führen, geschweige denn eines zu beginnen, und lässt doch wie durch ein Wunder dieses Buch vor unseren Augen entstehen. Über alles und nichts hat noch niemand so scharfsinnig, treffsicher und vergnüglich geschrieben.
Weitere Infos & Material
Die Glocken auf der Piazza Santa Maria in Trastevere schlugen Viertel vor eins – die längste Folge von Glockenschlägen: zwölfmal lang, dreimal kurz. Im Café White Peacock schlug eine Uhr zur Mittagsstunde. Ich stand auf und ging zum Lawrence-Museum hinüber. Im Schaufenster des Geschenkeshops waren kaum Lawrence-Devotionalien zu sehen: hauptsächlich Teddybären und Weihnachtsgeschenke. Das Haus Nummer 8a in der Victoria Street war restauriert und saniert worden, um »den Lebensstil der Arbeiterklasse in viktorianischen Zeiten und Lawrence’ eigene frühe Kindheit« widerzuspiegeln. Die Wohnstube war bedrückend, düster, weit entfernt von den hellen, skandinavischen Interieurs von Ikea. Ein viereckiger kleiner Wandteppich in einem Rahmen ließ die Worte »Home Sweet Home« wie einen Fluch erscheinen. Der Raum wurde von der Feuerstelle nebst Kamingitter dominiert, die beide schwarz gestrichen waren, in der Farbe von Kohlen. Alles an der Einrichtung suggerierte, dass Eigenheime den Look von Minen anstrebten – was sie in gewisser Weise auch taten. Statt der Erde, die von oben auf die Stollen drückte, spürte man hier das große Gewicht des düsteren Himmels auf sich. Die Stadt war ein dünnes Flöz, begraben zwischen Erde und Himmel. Selbst die Bezeichnungen für diese Art von Architektur sind beklemmend: Kochnische, Speisekammer, Sitzerker … Die Enge, die man in solchen Häusern empfindet, hat nichts mit Gemütlichkeit zu tun. Gegen alles muss man sich zur Wehr setzen (vielleicht steckt das hinter dem Ausspruch »Mein Heim ist meine Burg«): Schmutz, das Wetter, Schulden, das Draußen. Diese Art zu denken setzt sich bis heute fort. Verlässt man das Lawrence-Museum und folgt dem blau markierten Weg um Eastwood herum, sieht man an den Türen vieler Häuser Schilder, auf denen Dinge stehen wie »Vorsicht vor dem Hund! Betreten auf eigene Gefahr!« oder »Bettler und Hausierer unerwünscht«. Unter diesen Warnschildern liegt zum Wohle eines jeden, der vertraut genug ist, um sie ignorieren zu können, für gewöhnlich eine Matte, auf der steht: »Willkommen«. Im oberen Stockwerk befand sich ein Schlafzimmer, das aussah, als wäre jemand darin gestorben, vor einem Jahrhundert oder vorgestern, je nachdem, was länger her war. Schmutzig weiße, todesfarbene Nachthemden lagen ausgebreitet auf dem Bett, das aussah, als wäre es eigens entworfen, um darin zu sterben; zu sterben oder zu gebären, im Idealfall beides gleichzeitig. In einem Raum wie diesem erscheint Ruhe wie eine Unterart von Trauer. Museumsinstallationen umgibt immer ein Hauch von Tod. Häuser müssen leben; man kann sie nicht einbalsamieren. Dieses hier war eines natürlichen Todes gestorben, und dann, als es nicht mehr genutzt wurde, als es zerfallen war, hatte man es wiederzubeleben versucht, es aber nur in seinem toten Zustand konservieren können. Ich eilte nach oben, erfüllt von dem vertrauten Drang, den Teil des Besuchs rasch hinter mich zu bringen, mit dem ich mich eigentlich hätte aufhalten sollen, den Teil, der mich überhaupt hierhergeführt hatte. In einem weiteren Raum des Obergeschosses war die Decke mit hellen Plastikblättern übersät, die – wie ich vermutete – die Nähe zum Sherwood Forest symbolisieren sollten. In der Zimmermitte hatte man der Reisetruhe des Schriftstellers mit den eingravierten Initialen D. H. L. einen Ehrenplatz eingeräumt. Die Reisetruhe war zu einer standortspezifischen Skulptur geworden. Man ging um sie herum. Das Einzige, was man mit einer Truhe wie dieser nicht hätte tun wollen, war reisen. Ich interessierte mich für Gepäck und hatte erwogen, dem Thema einen Teil meiner Studie zu widmen: seiner Entstehung und Entwicklung, der individuellen Matrix von Anforderungen, Funktionen und Beschränkungen (durch Gewicht und Größe), die einem jeden Gepäckstück zugrunde liegt. Für Lawrence war das kein Problem gewesen; damals hatte es Legionen von Gepäckträgern gegeben, die solche Truhen schleppten, so unhandlich sie auch sein mochten. Im Nebenzimmer wurde die Geschichte von Lawrence und Eastwood in Form eines Videofilms erzählt. Er begann mit jener nordischen Blaskapellenmusik, die immer klingt, als marschierte sie vor mehr als einem Jahrhundert zu ihrer eigenen Beerdigung, Musik, die mit jeder einzelnen Note beklagt, dass sie selbst ausgestorben ist. Nur dass Ausgestorbensein nicht länger bedeutet, dass etwas nicht mehr existiert. Eine Menge ausgestorbener Dinge gibt es nach wie vor. Zum Beispiel Blaskapellen: Sie sind noch immer zahlreich vertreten, obwohl sie eigentlich ausgestorben sind. In dem Film wurde betont, dass Eastwood und Umgebung »das Land seines Herzens« gewesen sei. Er hatte die Beauvale Board School besucht, sie aber, wie der Kommentar einräumte, »allen Berichten nach gehasst«, so wie er auch die »schäbigen, hässlichen« Quader der eigens für die Minenarbeiter geschaffenen Behausungen gehasst habe. Es war merkwürdig, dort zu sitzen und dieses Video über den Mann zu sehen, der offenbar so vieles an der Stadt gehasst hatte, die ihn jetzt nicht nur ehren wollte, sondern als lokalen Autor zurückzuerobern versuchte. Ich war es leid, meine Notizen zu durchforsten, und ging zur Piazza Farnese auf der anderen Seite des Tibers. Ein paar Jungen spielten Fußball, als würden sie für Inter oder Roma spielen: Sie foulten, spielten auf Zeit, schwalbten, legten beim Publikum Beschwerde über die wunderbare Ungerechtigkeit des Spiels ein. Es war eine Erleichterung, draußen zu sein, das D.-H. Lawrence-Geburtshaus und -Museum hinter mir zu lassen, aus dem düsteren Inneren in die andersartige Düsternis draußen zu treten. Eine Bande Halbwüchsiger drosch einen Fußball die Straße entlang. Ich folgte der auf den Gehweg gemalten blauen Linie, die »das Geburtshaus mit den drei übrigen Häusern, in denen [Lawrence] lebte, und acht weiteren Orten mit Lawrence-Bezug verbindet« (den Lawrence-Imbiss, den Lawrencetown-Autohandel oder die Lawrence-Veterinärklinik nicht mitgezählt). Einige Orte befanden sich nicht auf der Route, so zum Beispiel die Beauvale School und die British School, an der Lawrence eine Zeit lang unterrichtet hatte. »Beide Gebäude«, hatte der Film erklärt, »wurden im Jahr 1971 abgerissen, um Raum für einen neuen Supermarkt zu schaffen.« Da haben wir es: Die Versuche zu erhalten finden inmitten jener allgegenwärtigen Kultur der Zerstörung statt, die das zeitgenössische England definiert. Das ist der Erbschaftseffekt in aller Kürze: Indem man hier und da ein Fleckchen Wildnis bewahrt oder ein Gebäude von historischem Interesse unter Denkmalschutz stellt, erkauft man sich das Recht, alles andere dem Erdboden gleichzumachen. Nicht dass Eastwood schützenswert gewesen wäre. Der Blaue Pfad ist ein netter Einfall, aber auch er kann nicht von der Tatsache ablenken, dass Eastwood eine hässliche kleine Stadt in einer hässlichen kleinen Grafschaft ist. Lawrence hatte die Landschaft um Nottingham herum als schön empfunden und die Minen als eine Verirrung, einen »landschaftlichen Unfall«. Doch als das eigentliche Verbrechen der Industrialisierung des neunzehnten Jahrhunderts war ihm erschienen, »dass diese Arbeiter zu Hässlichkeit, Hässlichkeit, Hässlichkeit verdammt werden: zu Ärmlichkeit und einer gestaltlosen und hässlichen Umgebung, hässlichen Idealen, hässlicher Religion, hässlichen Hoffnungen, hässlicher Liebe, hässlicher Kleidung, hässlichen Möbeln, hässlichen Häusern, hässlichen Beziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern«. Heute nehmen wir Hässlichkeit kaum noch wahr. Wir nehmen ihre Abwesenheit wahr. Im Angesicht dieser allgegenwärtigen Hässlichkeit hungerten die Arbeiter Lawrence zufolge nach Schönheit. Was waren die Klaviere, die man häufig in den Häusern von Grubenarbeitern fand, denn anderes »als ein blindes Tasten nach Schönheit«? Drei- oder viermal im Jahr besuchten wir meine Großeltern in Shropshire. Mein Großvater war ein Farmarbeiter, meine Großmutter rauchte. Das ist alles, was ich noch von ihr in Erinnerung habe: ihren Geruch und ihren Husten. Zuerst rauchte sie, und dann starb sie am Rauchen, hustete sich zu Tode in dem Schlafzimmer über dem Zimmer, von dem niemand wusste, wie man es nennen sollte, außer »das Zimmer mit dem Klavier«. Nie »das Klavierzimmer« oder »das Musikzimmer«, immer nur »das Zimmer mit dem Klavier«, wobei diese sonderbare Wendung ein Zugeständnis an die Tatsache darstellte, dass das Klavier dort eigentlich nicht hingehörte. Auf dem Klavier lagen Notenblätter mit deprimierender Musik, aber niemand konnte darauf spielen. Ich hämmerte freudlos auf den Tasten herum: Es war nicht nur so, dass ich keine Begabung zum Klavierspielen hatte oder dass es niemanden gab, der es mir hätte beibringen können: Dieses Klavier trug keine Musik in sich. Das einzige Geräusch im Raum war daher das Husten meiner Großmutter im Stockwerk darüber. Sie war dabei, an Lungenkrebs zu sterben, aber niemand wollte das Wort »Krebs« aussprechen. Um die Sache weniger hoffnungslos erscheinen zu lassen, sagten meine Eltern, sie habe Tuberkulose, die Krankheit, die Lawrence nie hatte benennen, nie hatte anerkennen können. Er zog es vor, von Problemen mit den Bronchien zu sprechen, von Lungenentzündung, von Grippe – von allem außer Tuberkulose. Der Blaue Pfad führte mich zur Walker Street, zum dritten der vier Häuser, in denen Lawrence gewohnt hatte. In gewisser Weise ist dieser Weg ganz angemessen. Lawrence liebte es, Wegbeschreibungen zu geben. Seine Briefe sind voller Beschreibungen, wie zu Besuch kommende Freunde ihn an den verschiedenen Orten, an denen Frieda und er lebten, finden könnten. Aus Florenz schrieb er im Dezember 1926 an Rolf Gardiner, führte ihn durch seine Vergangenheit und...