E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Dyer White Sands
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8321-8976-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8976-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum reisen wir? Woher der feste Glaube, dass es uns an einem anderen Ort besser ginge? Der Himmel blauer wäre, das Lebensgefühl »echter«, das Essen besser. Warum schreiben wir manchen Orten eine geradezu paradiesische Aura zu, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass das Paradies definitiv woanders sein muss? Geoff Dyer geht diesen Fragen in seinem neuen Buch auf den Grund. Mit einzigartiger Beobachtungsgabe und sprühendem Witz nimmt er uns mit auf seine Reisen durch die Welt. Er berichtet von dem Versuch, in Französisch-Polynesien Gauguins Traumland zu finden, von seinem Trip in die Verbotene Stadt in Peking, auf dem er sich in seine Führerin verguckt, von seiner Reise ins eisige Norwegen, zu den Nordlichtern, die aber nicht den Anstand besitzen, rechtzeitig aufzutauchen. In einer furiosen Mischung aus Reisebericht, Essay, Kulturkritik und Fiktion erzählt er von erhebenden Momenten genauso wie von Situationen grandiosen Scheiterns. Kaum ein Autor vermag so anspruchsvoll, klug, elegant und lustig über die grundlegenden Fragen des Menschseins zu schreiben.
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Verbotene Stadt Am Morgen des Tages, an dem ich die Verbotene Stadt besuchen sollte, meinem letzten Tag in China, erwachte ich erschöpft, so wie an jedem anderen Tag der Reise auch. Zuerst, in Schanghai, wegen des Jetlags und der Aufregung darüber, in China zu sein, dann – als es abends immer später wurde und die Anzahl der Drinks ebenso zunahm wie die morgendlichen Verpflichtungen –, weil ich nicht ausreichend geschlafen hatte; schließlich, in Peking, aufgrund einer wirkmächtigen Kombination aller genannten Faktoren, die als »jetlag-induzierte Schlaflosigkeit« bekannt ist. Zum Frühstücken blieb keine Zeit. Es blieb nie Zeit zum Frühstücken. Min wartete an der Rezeption, überpünktlich wie immer, niemals müde, stets lächelnd und fröhlich – aber unter diesem Lächeln lag eine leichte Besorgnis, als sie fragte, ob ich gut geschlafen hätte. »Wunderbar«, sagte ich. Das ist das Einfachste, wenn man eine furchtbare Nacht hinter sich hat – man sagt das, was am wenigsten Anstrengung beziehungsweise Erklärungen erfordert. Wir gaben uns die Hand – unsere Beziehung war irgendwie vor der Umarmungsphase stehen geblieben – und traten nach draußen. Schon um acht Uhr morgens herrschte eine Gluthitze. Der Fahrer stand in einem weißen Hemd und mit gegelten Haaren neben dem Wagen und rauchte. Sein Name war mir entfallen. Das heißt, eigentlich war es gar nicht sein Name, sondern sein Gesicht, das mir Probleme bereitete: Der Name des Fahrers war Feng, das wusste ich, aber das hier war sicherlich nicht Feng. Während ich am Vortag »Hallo, Feng« gesagt hatte, sagte ich diesmal also nur »Hi«, wohl wissend, dass, sollte es sich doch um Feng handeln, er sich an dem Abstieg in die Anonymität stören könnte. Lächelte er deshalb nicht? Nein, nein, das konnte nicht Feng sein … Das war das Blöde daran, so müde zu sein: Man vergaß Dinge, an die man sich hätte erinnern sollen – etwa die Gesichter von Menschen –, und zerbrach sich dann, während man seiner Wege ging, den Kopf darüber, was einen nur noch mehr erschöpfte. Ich machte es mir in meinem Sitz bequem, während der Wagen seine schreckensreiche Reise in die Verbotene Stadt antrat. Peking war eine Albtraumstadt, die die Intensität New Yorks mit der Weite von Los Angeles verband. Wie viele Menschen lebten hier, zwanzig Millionen? Ein Drittel der Bevölkerung Großbritanniens in einer Stadt, die sich halb so groß wie England anfühlte. Wir fuhren auf einer achtspurigen Autobahn und kamen kaum voran. Mir war’s nur recht: eine Gelegenheit, das erste von mehreren Nickerchen im Laufe eines, wie Min mich bereits gewarnt hatte, »sehr kraftraubenden« Tages zu machen. Ich schreckte auf, als der Wagen, der in eine Lücke vorgestoßen war, abbremste und zur Seite ausscherte. Ich hatte zwanzig Minuten lang geschlafen – es war so einfach, tagsüber in einem fahrenden Wagen einzuschlafen, viel einfacher als nachts in einem luxuriösen Hotelbett. Und diese zwanzigminütigen Nickerchen waren unglaublich belebend – ungefähr zwanzig Minuten lang. Min telefonierte wie üblich mit einem ihrer zwei Telefone, um den sich laufend ändernden Terminplan des Tages festzuzurren. Sie sagte, sie habe eine Führerin engagiert, die uns die Verbotene Stadt zeigen würde. Mir rutschte das Herz in die Hose. Mir rutscht ganz gern mal das Herz in die Hose, und auch wenn wenige Wörter es so rasch und so tief rutschen lassen wie »Führer« oder »Führerin«, gibt es viele, die es wie einen langsamen Stein sinken lassen: Wörter wie »müssen« und »zuhören«, wie in »einem Führer zuhören müssen«, der mir Dinge über die Verbotene Stadt erzählt, die ich ebenso gut zu Hause in einem Buch nachlesen könnte, wenn jedes Bedürfnis, das tatsächlich zu tun, spurlos verschwunden wäre. Wir waren am Eingang zur Verbotenen Stadt angekommen. In der Nacht zuvor war ich in einem anderen Wagen im chinesischen Mondlicht daran vorbeigefahren, von einem Abendessen kommend, bei dem es zwanzig verschiedene Tofusorten gegeben hatte, auf dem Weg zu einer Bar mit Blick über die mondbeschienenen Dächer der Verbotenen Stadt. Der Höhepunkt des Essens waren Spareribs gewesen, Spareribs aus Tofu, die so fleischig geschmeckt hatten, wie man es sich als Fleischliebhaber nur erträumen konnte, aber ohne den Schrecken, der jedem Fleischgenuss zugrunde liegt. Aus dem Tofufleisch hatte sogar ein glänzender Knochen geragt, der aus einer Lotuswurzel bestand. Drei Dinge hatten mich China im Voraus fürchten lassen: die Luftverschmutzung, die Raucherei (eine Untergruppe der Luftverschmutzung) und das Essen. Die Luft war sauber gewesen, ich war kaum Rauchern begegnet, und das Essen – der Tofu – hatte eine neue Simulationsstufe erreicht. Ich stieg aus dem Wagen und spürte die Hitze augenblicklich wie einen Schlag ins Gesicht, obwohl es noch nicht einmal neun Uhr war. Die Führerin werde sich etwas verspäten, sagte Min, bevor sie davoneilte, um Tickets zu kaufen, daher würden wir uns drinnen mit ihr treffen. »Prima«, sagte ich und hoffte, die Führerin werde uns inmitten der Massen, die durch das Tor strömten, als wäre es der einzige Tag im Jahr, an dem der Zutritt nicht verboten war, vielleicht nicht finden können. Min kehrte mit den Tickets zurück, und wir trippelten im Gänsemarsch auf den gewaltigen Hof – auf dem es bereits von Menschen wimmelte, obwohl wir nur wenige Augenblicke nach dem Öffnen der Ticketschalter eingetroffen waren. Dieser erste Anblick war fantastisch: rote Wände und sich biegende goldene Dächer, die wie Boote unter einem Ozean aus sauberem Himmel lagen. Wir gingen auf den nächsten Hof. Auch hier wimmelte es von Leuten, aber die Verbotene Stadt war so groß wie Cheltenham, und es gab reichlich Platz für alle. Herrje, es ging immer weiter, und jedes Fitzelchen sah exakt genauso aus wie jedes andere Fitzelchen: Höfe, groß wie Fußballfelder, Klöster, Schrägdächer mit Zimmern darunter. Zweifellos würde uns die Führerin erklären, dass all diese Fitzelchen sich eigentlich gar nicht ähnelten, dass jeder Teil seine ganz eigene und öde Funktion habe, die ihn von all den anderen unterscheide. Ein Grund mehr, es jetzt in einem Zustand vollendeter Ignoranz zu genießen, ohne sich Mühe geben zu müssen, so zu tun, als würde man der Führerin zuhören, die einem das Erlebnis mit unverlangtem Wissen und unangeforderter Expertise zernagen wollte. Min befand sich in immer regerem Austausch mit dieser Führerin, und plötzlich winkte sie ihr. Und da war sie und winkte zurück. Ihr pechschwarzes Haar fiel ihr geschmeidig auf die Schultern. Sie hatte einen dunkleren Teint als viele andere Besucher der Verbotenen Stadt, die so blass waren, dass sie unter pink leuchtenden Schirmchen Schutz vor der gleißenden Sonne suchten. Sie lächelte über das ganze Gesicht und trug ein langes, hellgrünes, ärmelloses Kleid. Sie ging auf Min zu, nahm die Sonnenbrille ab und umarmte sie. Die Brille hielt sie hinter Mins Rücken in einer Hand. Ihre Augen waren braun, rund und zugleich ein wenig länglich. Mir gefiel ihr Selbstvertrauen (es gab mir Selbstvertrauen, auch wenn ich mir zugleich wünschte, ich hätte keine kurze Hose angezogen), die Art, wie sie dastand in ihren Sandalen mit leichtem Absatz. Ihre Zehennägel waren dunkelblau lackiert. Sie hieß Li. Wir reichten einander die Hand. Ein bloßer Arm wurde ausgestreckt, und dann verschwanden ihre Augen wieder hinter der Sonnenbrille. Die dreißig Sekunden, die seit ihrem Winken vergangen waren, hatten ausgereicht, um alle vorherigen Annahmen bezüglich einer Führerin in ihr Gegenteil zu verkehren. Eine Führerin war eine ausgezeichnete Idee. Was konnte es Schöneres geben, als die Geschichte dieses faszinierenden Ortes auf das Ausführlichste, in allen fesselnden Einzelheiten dargeboten zu bekommen? Ohne etwas Wissen darüber aufzunehmen, würde ich diesen Ort gar nicht wirklich sehen, würde bloß in einem Nebel aus Ignoranz und leichter Gleichgültigkeit durch ihn hindurchtreiben. Wir drei traten aus dem heißen Schatten in die sengende Sonne auf dem Hof oder wie man das sonst nannte – Li ging nicht näher darauf ein. Ich sah ihr zu, wie sie ins Sonnenlicht hinausglitt, und wir setzten unsere Tour durch die Verbotene Stadt fort. Wir spähten in ein paar staubig wirkende Räume hinein, doch außer erschöpften Betten und deprimierten Stühlen gab es darin nichts zu sehen. Nicht, dass es darauf angekommen wäre: Die Inneneinrichtung spielte eine Nebenrolle, verglichen mit dem rot-goldenen Äußeren von unvorstellbaren Ausmaßen – die zu benennen Li es offenbar nicht eilig hatte. Sie schien ihre Rolle so widerwillig einzunehmen, dass ich sie mit ein paar Fragen anstupste, deren Beantwortung ich unter normalen Umständen gefürchtet hätte. »Ich fürchte, ich weiß eigentlich gar nichts über die Verbotene Stadt«, sagte sie. »Ich dachte, Sie wären eine Führerin.« »Nein, ich bin nur eine Freundin von Min. Sie hat mich gebeten, mitzukommen.« Ein Morgen wie dieser zeigt einem, dass man verrückt sein müsste, um Selbstmord zu begehen. Denk darüber nach, so viel du willst, aber schreite nie zur Tat. Das Leben kann sich im Laufe eines Augenblicks bis zur Entstellung verbessern. In diesem Fall war das Leben ohnehin schon ziemlich gut gewesen, und dann war es noch besser geworden – und es wurde sogar immer noch besser, als Lin sagte: »Wenn Sie möchten, dass ich die Führerin spiele, kann ich es versuchen.« »Ja, nur zu. Probieren Sie es doch mal.« »Also, mal sehen. Früher lebten hier einmal sämtliche Frauen des Kaisers. Sie konnten nicht fort. Sie konnten gar nichts tun, außer herumzulaufen. Es muss so langweilig gewesen sein. Sodass alle ständig Ränke schmiedeten. Gar...