E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Eckert Brunnenkind
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-946413-62-2
Verlag: MainBook
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-946413-62-2
Verlag: MainBook
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Renate Eckert war von 1977 bis 1987 Journalistin beim Schweinfurter Tagblatt, von 1987 bis 2005 Pressereferentin im Landratsamt Schweinfurt, arbeitet seit 2005 als freie Autorin und hat sich dem psychologischen Krimi/Thriller verschrieben. Ihr Roman 'Hungrige Schatten' ist im Heyne-Verlag, 'Novemberfeuer' 2016 im mainbook-Verlag, Frankfurt, erschienen. Die Autorin ist verheiratet, hat eine Tochter und eine Enkelin und lebt in der Nähe Schweinfurts.
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Ein weiterer strahlender Frühlingstag bahnte sich an, schon der siebte in einer Reihe ungewöhnlich warmer Tage für Mitte April. Das frische Grün, gesprenkelt mit Löwenzahn in sattem Gelb, hatte sich über Nacht der Wiesen bemächtigt, als hätte es nie einen Winter mit modrigem, abgestorbenem Gras gegeben. Michael Weißmann stieg von seinem Fahrrad und ließ den Blick über die verschwenderisch ausgestattete Natur gleiten. Waren nicht gestern noch braune Flecken in den grünenden Feldern zu sehen gewesen? Er mochte dieser brachialen Wucht neuen Werdens nicht so ganz trauen. Fast spürte er schon den Reif, der in die Blüten fallen und sie morgen die Köpfe hängen lassen konnte.
Er schüttelte den Kopf über seine Gedanken. , befahl er sich. Heute war heute – ein fast überirdisch schöner Tag, kein noch so winziges Wölkchen am Himmel, nur strahlendes Blau.
Das schmiedeeiserne Tor vor der Ulmenallee, die zum Eingang des Herrenhauses führte, stand offen. Die Sonne musste auch den Gärtner schon früh aus dem Haus gelockt haben.
Die Ulmen zeigten erste Knospen, vorsichtig, wie es Michael schien, als wollten sie noch abwarten. Er erinnerte sich, dass ihr Laubwerk im vergangenen Sommer frühzeitig verdorrt war und wünschte, dass sie in diesem Jahr von dieser rätselhaften Krankheit verschont blieben.
Er schob sein Fahrrad über den Weg, widerspenstig knirschte der Kies unter seinen Schritten. Neben dem Weg entdeckte er einen kleinen Haufen Löwenzahn, den der Gärtner bereits ausgestochen hatte. Der Rasen, der sich in makellosem Grün präsentierte, machte ihn auf eigentümliche Weise traurig. Wie viel lebendiger hatten die Wiesen vor dem Tor gewirkt, wo keine regulierende Hand eingegriffen hatte, um das Unkraut auszumerzen.
Ihn erschreckte die Willkür, die hinter dieser vermeintlichen Ordnung stand. Wer konnte sich anmaßen zu entscheiden, wie Ordnung auszusehen hatte?
Vor dem Haus polierte Wilhelm, der Chauffeur des Barons, die Lampen des roten Automobils, die ihn wie die Augen eines überdimensionalen Käfers anschauten. Wilhelm nahm seine Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Als er Michael sah, hob er die Hand zu einem stummen Morgengruß.
Vor dem blühenden Kirschbaum blieb er stehen. Hummeln und Bienen summten um ihn herum und unter seinen ausladenden Zweigen wetteiferten die frisch lackierten Gartenmöbel mit den Blüten um das strahlendere Weiß. Die schwelgerische Blütenpracht an den dunklen, knorrigen Ästen erinnerte an die Malerei einer chinesischen Lackschachtel, die er im Salon der Baronin gesehen und für kitschig befunden hatte. Das Bild, das sich ihm bot, war allerdings echt, und er konnte sich nicht mit dem Verweis auf Kitsch an seinen Gefühlen vorbeimogeln. Michael überlegte, was wohl bei seinen beiden Schülern Karl und Eugen herauskäme, würde er ihnen die Aufgabe stellen, diesen Baum zu beschreiben.
Aus einem offenen Fenster im ersten Stock drang Klaviermusik. Michael erkannte das kraftvolle und dennoch sensible Spiel der Baronin und lauschte der Musik von Mozarts Zauberflöte. Ihr Spiel brach ab und Michael hoffte einen Augenblick, dass sie aus dem Fenster sehen würde. Die Luft schien zu vibrieren, und er stellte fest, dass seine Jacke viel zu warm war. Er zog sie aus und schlug die Manschetten seines weißen Hemdes zurück. Wilde Hoffnung erfüllte ihn, der Wunsch, das pralle Leben, das sich ihm von überall her aufdrängte, zu ergreifen. Ihm folgte augenblicklich ein scharf konturierter Schmerz, der aus dem Bewusstsein der Unmöglichkeit entsprang.
Im Treppenhaus begegnete ihm Luzie mit einem Staubwedel in der Hand. Michael konnte nicht umhin, die offenen Knöpfe ihrer weißen Bluse zu bemerken, die ihre drallen Formen eng umschloss und bei jedem Atemzug zu sprengen drohte. Sie lächelte keck und winkte ihn zu sich. Er fühlte sich befangen, als ihm aufging, dass ihre offenherzige Aufmachung weniger dem Frühling als ihm galt.
„Wenn der Herr Lehrer noch ein bisschen Zeit erübrigen könnte, hätte ich noch eine Tasse frischen Kaffee“, sagte sie neckisch. „Die beiden Junker sind ohnehin noch im Frühstückszimmer, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. Der Baron fährt nämlich nach Berlin. Wilhelm hat den Koffer schon ins Automobil getragen – Ausreden gelten also nicht.“
Etwas Lauerndes huschte über ihre Züge und Michael wusste, dass er dieses Mal keine Chance hatte, der Anbiederung des Mädchens zu entgehen.
„Die Gnädige spielt ihm ihr Abschiedsständchen“, plapperte Luzie weiter. „Ich glaube nicht, dass sie ihn mit ihrem Geklimper beeindrucken kann – Der Baron bräuchte eine kernigere Frau, nicht dieses schwindsüchtige Geschöpf, wenn Sie mich fragen.“
„Meinst du nicht, dass uns das nichts angeht?“, gab Michael zurück und haderte einmal mehr mit seinem Status als Hauslehrer, der ihn einerseits zum intellektuellen Gesprächspartner der Herrschaft machte, wenn es dieser beliebte, und ihn andererseits den Dienstboten zuordnete.
„Ach kommen Sie, das haben Sie doch sicher auch schon lange bemerkt, dass die Gnädige Luft ist für den Baron. Würde mich nicht wundern, wenn er in Berlin nicht nur seinen Geschäften nachginge.“ Sie ließ den letzten Satz wie einen schlechten Geruch in der Luft hängen, während sie listig lächelte.
Michael hatte genug von ihren plumpen Vertraulichkeiten. Er bedankte sich für den Kaffee und ging die Treppe hinauf zum Studierzimmer.
Karl und Eugen erwarteten ihn bereits. Bei seinem Eintritt erhoben sie sich mit einem formvollendeten Morgengruß von ihren Plätzen. Wortlos zeigten beide ihre Hausarbeiten. Wie immer zeichnete sich das Heft des achtjährigen Eugen durch besondere Akkuratesse aus, während der zehnjährige Karl meist mit seiner schriftlichen Arbeit hinter seinen mündlichen Beiträgen zurückblieb.
„Es fehlen hier noch einige Angaben, Karl“, begann Michael stirnrunzelnd, bewusst das strahlende Lächeln seines Schülers übersehend. Heute würde er sich nicht von Karls Charme einwickeln lassen und sich eine fantasievolle Entschuldigung anhören. Er durfte dem Jungen nichts mehr durchgehen lassen, schließlich sollte er noch in diesem Jahr ins Internat zum Besuch des Gymnasiums gehen. Karl, der die strahlend blauen Augen und die blonden Haare seiner Mutter, gleichzeitig jedoch die aristokratische Haltung seines Vaters geerbt hatte, war schon heute der geborene Verführer. Michael achtete darauf, dass der ernsthafte und genaue Eugen, dem es allerdings manchmal an Kreativität fehlte, durch seinen Bruder nicht an die Wand gespielt wurde.
„Ich habe mit meinem Vater zusammen in der Bibliothek über Karl-August von Hardenberg nachgelesen“, berichtete Karl jetzt mit seiner schmeichelnden Stimme. „Die Fragen, die Sie beantwortet haben wollten, schließen nicht die Leistung Hardenbergs zur Gleichberechtigung der Juden ein. Mein Vater meinte, Sie würden dieses in der heutigen Stunde sicher ergänzen.“
„Nun – da magst du recht haben …“ Michael fühlte einen Kloß im Hals. Er durfte diese Stellung hier nicht durch subjektive Empfindungen gefährden, auch wenn gerade Karl August von Hardenberg mit seinem Juden-Edikt den hoffnungsvollen Ideen der Aufklärung aus Michaels heutiger Sicht den Dolchstoß versetzt hatte. „… Aber die aufgegebenen Fragen werden von dem, was im Unterricht noch folgen soll, doch nicht berührt, oder?“
„Es tut mir leid, dann habe ich etwas falsch verstanden.“ Der Junge wirkte ehrlich zerknirscht, und Michael ließ den Vorfall auf sich beruhen.
Er mühte sich um einen guten Unterricht, auch wenn ihn das ferne Klavierspiel der Baronin irritierte. In seine Ausführungen schoben sich Bilder ihrer Hände, ihren Grübchen, wenn sie lachte, oder der Art, wie sie sich auf den Klavierstuhl setzte und sich gestikulierend umdrehte.
Die ungewohnte Wärme schien die Jungen schläfrig zu machen, vor allem Eugen gähnte mehr oder weniger unverhohlen und Michael beendete den Unterricht etwas früher. Er musste nachdenken und versuchen, in irgendeiner Form auf den versteckten Vorwurf, den der Baron über seinen Jungen übermittelt hatte, einzugehen und ihn überzeugend zu entkräften.
Das Klavierspiel der Baronin war verstummt, mit zögernden Schritten ging Michael die Treppe hinunter. Aus der Küche hörte er Geschirrklappern und Gelächter. Die Abwesenheit des Hausherrn teilte sich also auch dem Gesinde mit. Schnell ging er vorbei, sein Bedarf an Klatsch war für heute mehr als gedeckt. Er holte sein Fahrrad und ging um das Haus. Als er aufsitzen wollte, hielt ihn die Stimme der Baronin zurück: „Sie werden sich doch nicht ohne einen kleinen Gruß davonstehlen wollen? – Kommen Sie, trinken Sie eine Tasse Tee mit mir und berichten Sie von den schulischen Fortschritten meiner Söhne.“
Michael wandte sich um und sah sie unter dem Kirschbaum sitzen. Zwei Sekunden lang war er wie geblendet von der vollkommenen Anmut der Szene. Auf ihrem blonden Haar, das in der Sonne leuchtete, lagen einige Blütenblätter, und sie fuhr mit der Hand darüber. Das Gold ihres Eherings funkelte, bevor sie ihm winkte.
Michael ging zu ihr. „Baronin“, sagte er, während er sich verbeugte. Einen Augenblick lang war die Frau vor ihm nur Gefühl, ebenso unausweichlich und natürlich wie ein Atemzug.
„Nun seien Sie doch nicht so untertänig, lieber Freund – setzen Sie sich zu mir!“ Sie griff nach einer Tasse auf dem Tablett und schenkte ihm Tee ein. „Zucker?“
„Ja, gerne – vielen Dank, aber Sie sollten mich nicht bedienen.“ Michael griff nach der Zuckerdose, bevor sie es tun konnte. „Ihre Söhne schienen etwas müde heute“, begann er, ungeschickt nach Worten suchend, „die plötzliche Wärme,...




