E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Eckert Hungrige Schatten
Neuauflage 2018
ISBN: 978-3-947612-25-3
Verlag: mainbook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psycho-Thriller
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-947612-25-3
Verlag: mainbook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Renate Eckert, 1946 in Schweinfurt geboren, war von 1977 bis 1987 Journalistin beim Schweinfurter Tagblatt, von 1987 bis 2005 Pressereferentin im Landratsamt Schweinfurt, arbeitet seit 2005 als freie Autorin und hat sich dem psychologischen Krimi/Thriller verschrieben. Ihr Roman 'Hungrige Schatten' ist erstmals im Heyne-Verlag (2007) erschienen. Im mainbook Verlag, Frankfurt, liegen zwei Romane der Autorin vor: 'Novemberfeuer' (2016) und 'Brunnenkind' (2017). Die Autorin ist verheiratet, hat eine Tochter und eine Enkelin und lebt in der Nähe Schweinfurts.
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5
Der Herbsttag erfüllte alle Erwartungen an das Klischee vom „goldenen Oktober“ und Anne versuchte, ihre abschweifenden Gedanken zu strukturieren, als sie sich in den Verkehr stadtauswärts einreihte. Sie würde Wieland keine weitere Gelegenheit geben, ihre Arbeit anzumahnen. Die Vorstellung des Oberbürgermeister-Kandidaten ging sie am besten gleich an. Sofort nach der Redaktionskonferenz hatte sie mit Matthias Reininger telefoniert und spontan einen Fototermin mit ihm vereinbart. Ihre Anspielung auf die klaren Farben, die das weiche Licht des Herbstes schuf, und die ein Portraitfoto im Garten besonders reizvoll machen würden, hatten ihn überzeugt.
Sie grübelte darüber, welche Motive Wieland umtrieben. Waren es ausschließlich Machtgier und Eitelkeit? Und was war ihr eigener Part in diesem Spiel? Gründete sich ihr angespanntes Verhältnis zu ihrem Redaktionsleiter möglicherweise auf der unbewussten Überzeugung, seine Position besser ausfüllen zu können?
Das Quietschen der Bremsen des roten Honda vor ihr riss sie aus ihren Gedanken. Gerade noch rechtzeitig brachte sie ihren Wagen zum Stehen. Ohne sich um die Ampelschaltung zu kümmern, überquerte ein alter Mann bei Rot den Zebrastreifen. Immerhin waren ihre Reflexe gut ausgebildet, dachte Anne.
Die Straße wurde schmaler, alte Bäume und hohe Mauern säumten sie. Die ganze Umgebung schien zu signalisieren – bitte nicht stören. In dieser Gegend war viel altes Geld unter sich und wollte es auch bleiben. Anne fand einen Parkplatz unter einer alten Platane und wappnete sich, gleich mit einer Sprechanlage diskutieren zu müssen, als sie sich nach einer Kurve vor einem kunstvoll gestalteten und vor allem offenen Gartentor wiederfand.
Ein gepflegter Kiesweg führte zu einem imposanten Backsteingebäude, einem Herrenhaus zweifelsohne. Es schien nach einem Stab von Bediensteten zu verlangen und hatte einen solchen in einer ruhmreichen Vergangenheit fraglos auch beherbergt. Anne fühlte sich seltsam befangen, als sie den Weg hinaufging, der einen gepflegten Park in zwei Hälften teilte und rechnete fast mit einem Butler nebst kleinem Tablett, auf dem sie ihre Visitenkarte zu hinterlegen hatte. Sie erreichte eine von wuchtigen Kübelpflanzen umrahmte Terrasse. Ein voluminöser Wintergarten, dessen seitliche Flügeltüren geöffnet waren, beherbergte Rattanmöbel. Auf dem kleinen Tisch zeugten eine Gießkanne, Gummihandschuhe und ein Küchentuch davon, dass sich hier jemand gärtnerisch betätigt hatte.
Sie wartete eine Weile und begann sich zu fragen, ob sie den Termin richtig genannt oder etwas anderes missverstanden hatte, als eine Frau aus dem Haus trat und sie argwöhnisch musterte. Die Frau war in den Vierzigern, schätzte Anne, konnte aber gut und gern auch jünger sein. Sie trug ein einfaches weißes Männerhemd über ausgebeulten Jeans, die nackten Füße steckten in Birkenstock-Sandalen, das lange blonde Haar war in einem nachlässig geknoteten Dutt aus dem Gesicht genommen, das von kühlen, grauen Augen beherrscht wurde.
„Das Gartentor stand offen“, begann Anne, „und ich …“
„Oh – entschuldigen Sie bitte den unhöflichen Empfang, Sie müssen Anne Michel vom sein, versetzte ihr Gegenüber mit so strahlendem Lächeln, dass sich Anne fragte, ob sie sich den unfreundlichen Blick nur eingebildet hatte.
„Ich bin Irene Reininger, nehmen Sie doch bitte Platz, mein Bruder telefoniert noch.“ Mit einer gewandten Geste nahm sie – inzwischen ganz Gastgeberin – die Gartenutensilien an sich und bedeutete Anne, sich zu setzen. „Trinken Sie einen Tee oder darf ich Ihnen etwas Stärkeres anbieten? Es dauert nur einen Augenblick, ich werde meinem Bruder sagen, dass Sie warten.“
Eine unerwartete Windböe, die an den Bäumen zerrte und die Vorhänge der geöffneten Terrassentür bauschte, trug den Modergeruch des Herbstes zu ihr und trieb einige verfärbte Blätter vor sich her auf die makellose Terrasse. Nach einem Blick auf die Uhr wurde Anne immer unruhiger. Sie zupfte an ihrem Haar, stand auf und setzte sich wieder. Hoffentlich gelang es ihr, noch brauchbare Fotos aufzunehmen, denn schon schoben sich Wolken vor die Sonne.
Sie hörte Türen schlagen und Irene Reininger kam endlich zurück. „Kommen Sie, mein Bruder wartet in seinem Arbeitszimmer“, forderte sie Anne auf und ging mit gemessenen Schritten voraus, Anne hätte sie gerne ein bisschen angetrieben.
Er stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und wandte sich um, als Anne die Tür schloss. Lediglich ein leichtes Stirnrunzeln und ein fast unmerkliches Zusammenkneifen seiner Augen verriet, dass er sie wahrgenommen hatte.
Sie erkannte ihn sofort. Der geheimnisvolle Fremde von der Ehrung im Rathaus war also Reininger. Anne sah ihn jetzt aus der Nähe und blickte in ein Gesicht, das Michelangelo hätte modelliert haben können. Es war blass unter einer Sonnenbräune, die entweder auf kürzlich verbrachte Ferientage im Süden oder auf regelmäßige Benutzung einer Sonnenbank hinwies. Sein Haarschnitt deutete auf einen Friseur hin, den sich Anne gerne gegönnt hätte.
Anne wurde bewusst, dass sie ihn anstarrte und ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. Es wurde beherrscht von einem riesigen Mahagonischreibtisch mit einem Ledersessel dahinter. Auf einem kleinen Tisch, um den zwei Sessel gruppiert waren, stand ein Strauß orangeroter Rosen, arrangiert mit dunkelgrünen Blättern und Zweigen roten Feuerdorns. Eine riesige Fensterfront gab den Blick frei auf den Garten, dessen Büsche in leuchtenden Herbstfarben glühten. Eine sensationelle Inszenierung, schoss es Anne durch den Kopf.
Der Mann am Fenster passte perfekt dazu. Geschmeidig kam er näher und ergriff Annes ausgestreckte Hand, während er direkt in ihre Augen schaute. „Mein Name ist Reininger“, stellte er sich vor und Anne antwortete gehorsam: „Anne Michel vom .“
Die Art, wie er die vor ihm ausgebreitete Zeitung faltete und ihr bedeutete, ihm gegenüber Platz zu nehmen, hatte etwas Zeremonielles. Seine aristokratische Gestik wurde nicht einmal von der Schlinge gemindert, in der er einen bandagierten Arm trug. Er ist nicht übermäßig groß, stellte Anne verwundert fest und gestand sich ein, dass er zu jenen Männern gehörte, die auch die nachteiligste Kulisse zu ihrem Vorteil wandeln konnten.
„Sie sind noch nicht lange beim ?“ Tonfall und Stimme waren viel weniger eine Frage, als eine Feststellung. Anne fühlte sich kritisiert und antwortete verärgert: „Nun – dies ist nicht mein erstes Interview und man sagt mir ein gewisses Geschick im Umgang mit Menschen nach.“
Sein Lächeln kam schnell – zu schnell, um sie von seiner Echtheit zu überzeugen, auch wenn es ihn auf überraschende Weise verjüngte.
„Entschuldigen Sie.“ Reininger strich sich über die Stirn. „Ein Mann in einer so wenig präsentablen Lage“, er zeigte auf seinen bandagierten Arm, „rechnet nicht mit einer jungen und attraktiven Dame.“ Sein Tonfall wurde verhaltener. „Sie sind noch schöner, als ich Sie in Erinnerung hatte.“ Also hatte er sie auch bemerkt beim Empfang im Rathaus. „Wissen Sie, dass Sie Audrey Hepburn ähneln?“, setzte er überraschend hinzu.
„Ein schmeichelhaftes Kompliment, vielen Dank – es war doch ihre Zerbrechlichkeit, die Männer anzog.“ Annes Stimme klang belegt. „Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht gerade diese Eigenschaft mit mir assoziieren.“ Sie legte den kleinen Rekorder, den sie zu solchen Anlässen immer mitnahm, auf den Tisch. „Es stört Sie doch nicht, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?“
„Nun – alles im Leben hat seinen Preis“, antwortete er.
„Lernt man diese Lektion im politischen Leben?“, fragte sie provozierend und mit mehr Zuversicht, als sie empfand, aber er ging nicht auf ihre Herausforderung ein, trotz seines angedeuteten Lächelns.
Ohne Zweifel, es gelang Reininger, sie zu verunsichern, wobei sie noch nicht herausgefunden hatte, was ihre Verlegenheit eigentlich auslöste. Der ganze Mann schien bereits jetzt – noch vor seiner Nominierung – die pure Verkörperung von Macht. Die Siegerpose, die er einnahm, auf seinem Stuhl zurückgelehnt mit übereinandergeschlagenen Beinen, zeugte davon ebenso wie sein Geschick, sie dem Gegenlicht auszusetzen. Deshalb konnte sie auch sein unterschwelliges Misstrauen, das der gekonnten Vorstellung von Souveränität so krass widersprach, nicht einordnen.
„Sie haben sicher mit Herrn Wieland gesprochen, sodass Ihnen unsere geplante Serie geläufig sein dürfte“, begann Anne sachlich zu erläutern, um das Chaos ihrer widerstreitenden Gefühle in den Griff zu bekommen. „Wir wollen von jedem Kandidaten der anstehenden Oberbürgermeisterwahl ein kurzes Portrait im bringen – ein kleines Streiflicht, das nicht nur die politischen Ziele der Kandidaten, sondern auch ihre menschliche Seite beleuchten soll.“
„Sie sehen mich hier mehr als menschlich, ein Manifest des Misserfolgs, wenn Sie so wollen. Mein Unfall dürfte doch diesen Aspekt mehr als genügend berücksichtigen“, warf er ihr kurz, fast unwirsch hin, wobei er ein weißes, gestärktes Taschentuch aus der Tasche zog und sich die Stirn abwischte. Anne fragte sich gerade, wann sie zum letzten Mal ein solches Taschentuch gesehen hatte, als er aufstand und mit nervösen Schritten durch den Raum ging.
„Können wir uns darauf einigen, dass ich Ihnen meine Ziele und Vorstellungen kurz erläutere, Sie können mich dann abschließend ja gerne noch fragen, was Ihnen auf der Seele brennt“, verwies er Anne in die Rolle der passiven Zuhörerin. Sie nickte und unterdrückte das Verlangen nach einer Zigarette, das mittlerweile übermächtig zu werden...




