E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Edwardson In alle Ewigkeit
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0572-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der vierte Fall für Erik Winter
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0572-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Åke Edwardson, geboren 1953, lebt mit seiner Frau in Göteborg. Einige Monate im Jahr verbringt das Ehepaar im Süden Spaniens, in Marbella. Bevor Edwardson einer der weltweit erfolgreichsten Krimiautoren wurde, arbeitete er als Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten.
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1
Etwas stach sie unterm rechten Fuß, unter den Zehen. Sie war vorsichtig gegangen, aber hier nützte es nicht viel. Der Grund war mit Tang bedeckt, wie mit hohem, dickem Gras, das sich in der Strömung bewegte, braun und eklig. Wie tote Blumen.
Jetzt stand sie auf einem Stück Sandboden. Sie balancierte auf einem Bein, hielt den rechten Fuß hoch und sah, dass er blutete, aber nur ein bisschen. Es war nicht das erste Mal in diesem Sommer. Es gehörte dazu.
Plötzlich musste sie an einen engen Klassenraum denken, in dem es nach feuchter Kleidung roch. Regen an der Fensterscheibe. Fragen auf einem Blatt Papier und das Kratzen von Stiften. Antworten, die schon wieder vergessen sein würden, wenn die Arbeit abgegeben war. Jetzt war sie jedenfalls fertig. Sie würde studieren, zum Teufel, sie war gut. Und dazu dieser Sommer, der kein Ende nahm. Lass es niemaaals enden. Sie kriegte die Melodie nicht aus dem Kopf.
Heute Abend würde die Wunde nur noch ein kleiner Kratzer sein, sie würde ihn nicht mehr spüren, wohl aber noch die Wärme auf der Haut fühlen, Sonne und Salz. Nach dem Duschen. Bevor der Abend begann.
Sie schwamm und schlug mit den Beinen, das Wasser war wie eine Kaskade um sie herum. Ein Segelboot lief mit gedrosseltem Motor in die Bucht ein. Sie konnte die Passagierdampfer sehen, zählte von hier aus drei Stück. All die Leute, die auf dem Weg in die südlichen Schären waren. Sie ließ sich treiben. Das Wasser war nicht mehr zu spüren, es war ein Gefühl, als triebe sie in der Luft. Ich kann fliegen, dachte sie. Ich kann alles. Werden, was ich will. Ich kann berühmt werden. Fame. I wanna live forever.
Noch dieser Sommer und dann würde sie anfangen, Medizin zu studieren, aber bis dahin waren es noch Millionen Jahre, Millionen Wassertropfen, die nach Salz und Sand schmeckten, wenn sie tauchte.
Das Wasser war grün und trüb. Sie sah einen Schatten, vielleicht ein Fisch. Oder ein Froschmann.
Sie würde ein Jahr studieren, und dann würde sie ein Jahr Pause machen, da konnte Papa sagen, was er wollte. Er würde sagen, sie sei ja ganz gut darin, sich ihre Freiheit zu nehmen, aber was sollte aus allem anderen werden?
Sie wollte nicht mehr zu Hause wohnen.
Sie blieb so lange unter Wasser, wie sie sich traute, dann stieß sie sich vom Grund ab und glitt wieder an die Oberfläche. Sie schwamm zurück zu den Felsen, stakste vorsichtig durch den Tang und zog sich auf einen Stein hoch, der von einem Felsen herausragte.
Die Wunde unter dem großen Zeh blutete, aber nur ein wenig. Sie kletterte zu ihrer Decke hinauf, zog das Handtuch aus dem Netz, trocknete sich die Haare und trank etwas Wasser. Dann setzte sie sich auf die Decke und blinzelte ein paar Tropfen Salzwasser aus den Augen. Sie holte Luft und noch einmal, tief Luft, die voller Sonne war, es brannte fast in den Lungen. Die Wasseroberfläche glänzte wie Fischschuppen, als ob sich dort zehntausend Fische bewegten. Sie hörte ferne Geräusche von den Schiffen, die in alle Richtungen fuhren. Einige verschwanden am Horizont, lösten sich auf. Dort war der Himmel fast weiß, aber nirgends waren Wolken zu sehen. Sie legte sich auf den Rücken. Ein Wassertropfen aus dem Haaransatz lief über ihre Wange, fast spürte sie den Geschmack auf den Lippen. Sie hatte die Augen schon geschlossen. Jetzt war alles rot und gelb in ihrem Kopf. Sie hörte Stimmenfragmente von den Leuten um sie herum, halbe Wörter, das Bruchstück eines Lachens, das aufblitzte wie die Wasseroberfläche in der Sonne.
Sie hatte keine Kraft zu lesen. Sie wollte nichts tun, nur hier liegen, so lange es ging. Nichts tun, nur für immer leben.
Die Sonne stand in Augenhöhe, als sie ihre Sachen zusammensuchte und den Berg hinaufkletterte und den kleinen Hohlweg abstieg hinunter zum Fahrradstand. Ihr war ein wenig schwindlig. Auf ihren Schultern brannte es, obwohl sie sich eingecremt hatte. Auch ihre Wangen brannten, aber nicht zu sehr. Heute Abend würde sich das geben, als ob es in der Haut versunken wäre. Es würde gut aussehen im schummrigen Licht des Straßencafés. Oh, là là.
Sie fuhr am Bootshafen vorbei, schlängelte sich durch eine Gruppe Menschen, die von den Schärendampfern zu den Bussen und Straßenbahnen strömten. Tausend Radfahrer schlängelten sich so voran. Alle wollten gleichzeitig nach Hause, als ob alle immer das Gleiche täten.
Vielleicht tun wir das ja, dachte sie. Im Sommer ergibt sich das so. Alles wird einfacher. Sich sonnen, baden, duschen, feiern. Baden, sonnen, duschen, feiern. Duschen, sonnen, baden, feiern. Sie hielt an, stellte ihr Fahrrad ab und reihte sich in die Schlange vor der Eisbude ein und kaufte sich einen Becher mit zwei Kugeln: Vanille mit »himmlischem Allerlei« wie aus Großmutters Zeiten. Das Eis fing sofort an zu tropfen, aber in einer Waffel wäre es noch schlimmer gewesen. Eine Frau neben ihr sagte, es seien dreiunddreißig Grad. Abends um sechs dreiunddreißig Grad. Man soll sich nicht beklagen, sagte der Mann, der rechts von der Frau stand. Aber trotzdem, sagte die Frau, die Mitte vierzig sein mochte, oder sechzig. Der Boden ist zu trocken.
Mir doch egal, dachte sie, als sie weiterfuhr. Lass es niemals enden. Der Boden kriegt schon, was er braucht, im Herbst.
Über den Feldern an der anderen Seite der Straße, die sich zur Meeresbucht senkten, roch es nach Heu. Sie fuhr durch das kleine Villenviertel, fuhr schneller auf dem Fahrradweg, der neben der Straßenbahnlinie verlief, und war in zehn Minuten zu Hause. Der Vater saß auf der Veranda mit einem Glas, das Whisky zu enthalten schien.
»Da kommt eine Rote Rübe.«
Sie gab keine Antwort.
»Besser als eine Lauchstange.«
»Lauch?«
»Wegen dem Weiß.«
»Ich geh nach oben«, sagte sie und stieg die Treppe hinauf. Es war Whisky. Sie konnte ihn riechen.
»In genau zehn Minuten schmeiß ich den Grill an.«
»Was gibt es?«
»Lachs am Spieß und Anglerfisch, unter anderem.«
»Wann essen wir?«
»In genau fünfundvierzig Minuten.«
Ihr Vater nahm einen Schluck und blickte über den Garten. Das Eis klirrte. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn er Whisky trank.
Als sie sich fertig machte, war die Sonne schon hinter den Häusern untergegangen, die Farben wurden dunkler. Das Zimmer lag im Schatten. Sie zog die Vorhänge zurück und ließ die Abenddämmerung herein. Es roch warm und trocken, und das war sie selbst, ihre Haut. Sie stand in Slips vorm Spiegel. Ihre Brüste leuchteten weiß wie Zähne.
Jetzt duftete es nach dem After-Sun-Gel, mit dem sie sich gerade eingerieben hatte. Die Haut war nach dem Duschen schon weicher geworden, vom Süßwasser. Ein schönes Wort. Süßwasser.
Der Vater rief aus dem Garten, und genau in dem Augenblick nahm sie den Geruch nach gegrilltem Fisch wahr, und genau in dem Augenblick merkte sie, was für einen Hunger sie hatte. Wahnsinnigen Hunger. Und Durst.
Elins Zähne blitzten auf der anderen Seite des Tisches.
»Was machst du morgen?«
»Sonnen und baden.«
»Trinken wir noch etwas?«
»Ich glaube nicht. Mir dreht sich schon alles«, sagte sie und nickte zum Bierglas auf dem Tisch.
»Du bist wirklich braun geworden«, sagte Elin.
»Danke.«
»Und dein Haar wird ganz weiß.«
»Soll das ein Kompliment sein?«
»Das steht dir doch richtig gut.«
»Dann also danke.«
»Ich glaube, ich möchte noch ein Bier«, sagte Elin. »Bei der Hitze hat man ja ständig Durst.« Sie stand auf. »Am besten, ich hol es mir selbst. Bis hierher an den Rand schafft es die Bedienung nie.«
Sie saßen in der äußersten linken Ecke des Straßencafés, hinter ihnen war eine kleine Einbahnstraße.
»Du möchtest also nichts mehr?«
Sie schüttelte den Kopf. Elin ging zum Tresen, sie sah, wie sie sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, und musste daran denken, wie sie sich selbst heute im Meer an den Quallen vorbeigeschlängelt hatte.
»Übrigens«, rief sie, »ich nehm doch noch ein Kleines.«
Sie blieben sitzen, lange. Die Wärme stand zwischen den Häusern, hatte sich langsam auf die Straße gesenkt.
»Es ist immer noch genauso warm«, sagte Elin. »Keine Sonne mehr, aber die Wärme bleibt.«
Sie nickte, ohne zu antworten.
»Die Abende sind eigentlich das Schönste am Sommer in der Stadt«, sagte Elin. »Summer in the city.«
Sie nickte wieder.
»Mensch, bist du heute aber gesprächig!«
»Ich bin nur so verflixt müde.«
»Es ist doch gerade erst kurz nach Mitternacht.«
»Ich weiß. Es muss von der Sonne kommen.«
»Und dabei hab ich mich den ganzen Tag hinter der Kasse gequält.«
»Morgen hast du frei.«
»Gerade deshalb hab ich jetzt Lust auf ’ne kleine Paaarty.« Sie wiederholte es: »Paaarty.«
»Ich weiß nicht, Elin.«
»Himmel. Das mit dem weißen Haar hab ich doch nicht wörtlich gemeint. Weißes Haar braucht doch nicht siebzig plus zu bedeuten. Mensch! Du gähnst ja schon wieder.«
»Ich weiß. Entschuldige.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Heute Abend? Oder heute Nacht?«
»Nein, ich meine natürlich einen Abend im November 2003.«
»Ich weiß nicht …«
»Soll ich etwa allein in den Club gehen?«
»Nein«, antwortete sie, »schau mal, da kommt ja die ganze Clique.«
Es war die Clique. Drei Jungen und zwei Mädchen. Für sie war es das perfekte Timing, denn sie hatte nicht die Absicht, die ganze Nacht durchzumachen. Es musste von der Sonne kommen. Eine reichliche Überdosis Sonne.
»Nur meinetwegen musst du...