E-Book, Deutsch, 222 Seiten
Egger Das Priesterkind
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7517-1861-5
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mich durfte es nicht geben. Wie ich dennoch glücklich wurde
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-7517-1861-5
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eigentlich dürfte es Veronika gar nicht geben. Ihr Vater ist Priester. Und das katholische Kirchengesetz sieht vor, dass Priester enthaltsam leben. Als die Kirche von dem unehelichen Kind erfährt, wird Veronikas Vater daher vor die Wahl gestellt. Er entscheidet sich für sein Amt, gegen das Mädchen. Berührend und nachdenklich beschreibt Veronika, was es bedeutet, ein verbotenes Kind zu sein, vom eigenen Vater verleugnet und von der Gesellschaft abgelehnt zu werden. Und sie beschreibt, wie sie nach einer schweren Zeit, in der sie aufgrund der Heimlichtuerei depressiv und krank wird, in der Natur ihr Refugium findet.
Veronika Egger, 1977 im bayerischen Miesbach geboren, hat zunächst Lehramt an der Uni Passau studiert, bevor sie an der VWA in Regensburg ein Tourismusstudium absolvierte. Seit 2008 ist sie Gästeführerin im Bayerischen Wald. Heute arbeitet sie in einer Agentur für Regionalentwicklung und bietet zudem Wandertouren und Themenwanderungen für Gruppen und Einzelgäste an.
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Kapitel 1
»Ab sofort sagst du nicht mehr, wer dein Vater ist, Veronika!« Ich sitze mit meiner Mutter an unserem kleinen Esstisch in der Küche und genieße eine große Portion leckere Nudeln mit Tomatensauce. »Wieso? Warum soll ich das denn nicht mehr sagen?«, frage ich zwischen zwei Bissen und weiß wirklich nicht, was sie damit meint. Doch Mama ist es ernst. Denn bevor ich weitere Fragen stellen kann, streckt sie mir kurz die offene Handfläche entgegen. Das heißt Stopp und ist die für sie typische Handbewegung, die kein weiteres Nachfragen mehr erlaubt. Nur einen Satz zur Erklärung schiebt sie noch nach. »Dein Schuldirektor möchte das nicht, und wir müssen uns daran halten …« Ich sehe sie irritiert an und verstehe auch nach diesem Hinweis nicht, warum ich nichts mehr über meinen Vater erzählen soll. Es gibt doch so viel Spannendes zu berichten. Allein diese farbenschillernden, wertvollen Gewänder, die er in der Kirche trägt. Ich wette, dass die Väter meiner Freundinnen so etwas nicht besitzen! Zudem darf ich in die Sakristei und dort die glänzenden Kelche bestaunen und in die vielen alten Bücher schauen. Und ich spiele auch mit Papas wertvollen riesengroßen Holzfiguren. Wer darf das schon? »Ein lustiger Engel mit einem großen Hut auf dem Kopf« ist übrigens meine Lieblingsfigur. Er blickt mich immer aus den Augenwinkeln an, egal von welcher Seite ich gucke. Das ist total faszinierend. Dazu hat er ein Lächeln, das mich an unseren Nachbarn Gustl erinnert, der mir immer Äpfel schenkt. Ich bin auch dabei, wenn sich mein Vater auf wichtige Predigten vorbereitet und ganz konzentriert auf seiner alten Schreibmaschine tippt. Gut, ich muss dann ganz still sein, aber eine Zeit lang ist es trotzdem ganz schön. Ich male in dieser Zeit am liebsten Bilder, und das gleichmäßige Tippen ist wie eine beruhigende Melodie, die mich auf besonders ausgefallene Ideen bringt. Ich male gern Kirchtürme, aber auch Altäre und Heiligenfiguren, alles in bunten Farben und mit ganz viel Gold. »Wir sind ein gutes Team«, sagt Papa häufig, lobt mich anschließend für meine farbenfrohen Bilder und liest mir im Gegenzug aus seiner fertigen Predigt vor. Meistens geht es darum, dass Gott uns liebt und immer ein Auge auf uns wirft. Ich mag diese Vorstellung. Sie gibt mir Sicherheit. Das ganze Ergebnis seiner Schreibarbeit höre ich dann zusammen mit meiner Mutter bei der nächsten Sonntagspredigt in der Kirche. Leider sitzen wir nie in der ersten Reihe, sondern immer irgendwo hinten. Aber ich genieße es trotzdem, wenn ich meinen Vater dort vorn stehen sehe und alle ihm andächtig lauschen. Es ist mucksmäuschenstill in der Kirche. Man hört nichts, nur seine donnernde Stimme, die den ganzen riesigen Kirchenraum erfüllt. Es ist ein wunderschönes Gefühl, dass der Pfarrer da vorn, der, den alle mögen und bewundern, den alle um Rat fragen und der auf alles eine Antwort weiß, zu mir gehört. Aber mein Vater ist auch noch darüber hinaus etwas Besonderes. Er ist nicht einer dieser immer mürrisch dreinblickenden Pfarrer, die etwas Unnahbares haben, nein, dieser Pfarrer ist einer, der stets lacht, der überall dabei ist, wo sich die Gemeinde trifft, der mit allen scherzt und jedem zuhört. Er spielt Fußball, feiert Feste mit, sitzt in den Gasthöfen beim Kartenspiel und wandert an den freien Tagen mit Jugendlichen in den Bergen. Ich glaube, die Leute hier lieben ihn wirklich, ach was, ich glaube, man liebt ihn auf der ganzen Welt. Und dieser tolle Pfarrer Graml, das ist mein Vater! Aber das soll ich ja jetzt nicht mehr sagen. Dabei weiß es sowieso jeder, zumindest hier in meinem Weiler und auch in der Gemeinde, in Irschenberg, in der ich zur Schule gehe. In Gedanken versunken schiebe ich die Nudeln, die mir gerade von der Gabel gerutscht sind, mit dem Löffel zurück und versuche, weiter mein Mittagessen zu genießen. Mama stochert wortlos in der Sauce herum. Sie scheint nicht nur keinen Appetit zu haben, nein, sie wirkt auch wieder traurig, wie so oft in der letzten Zeit. Ich erkenne das an der Stille. Wenn Mama, die eigentlich fröhlich ist und viel lacht, nicht mehr spricht, dann ist sie bedrückt, und meistens ist das auch der Auftakt zu einem leisen Weinen. Sie weint oft, zumindest immer dann, wenn Papa anruft und sagt, dass er nicht kommen kann. Ob sie heute auch weint, weil sie mit dem Schuldirektor gesprochen hat, werde ich gleich sehen. Und wirklich, ihre Augen werden ganz feucht, und sie nimmt sich schnell die Serviette und wischt sich damit die Tränen weg. »Komm, iss weiter«, sagt sie. »Ich habe auch noch einen leckeren Apfelbrei für dich gemacht.« Sie gibt mir neckisch einen Stupser auf die Nasenspitze. »Veronika, komm, denk an etwas anderes. Denk an Schnuffi, dein Meerschweinchen. Das freut sich schon, dass du ihm gleich ein saftiges Salatblatt gibst.« Schnuffi, ja, um Schnuffi kümmere ich mich gleich. Aber ich bin jetzt auch traurig. Warum ist bei mir bloß immer alles anders? Meine Freundinnen haben Eltern, über die sie nicht nur sprechen dürfen, sondern die auch zusammenleben und mit denen sie regelmäßig etwas unternehmen. Nur bei mir ist alles immer sehr, sehr kompliziert. Ich bin sieben Jahre alt und wohne seit meiner Geburt mit meiner Mutter, der Egger Gerti, in einem typisch bayerischen Zweifamilienhaus in Auerschmied. Es ist nicht unser Haus, wir haben nur eine kleine Wohnung darin. Drei winzige Zimmer, eine Küche, ein Bad und einen schönen Balkon, auf dem mein Meerschweinchen wohnt und auf dem in der warmen Jahreszeit immer herrlich bunte Blumen blühen. Denn Mama liebt Blumen, und sie liebt ihr Zuhause. »Auerschmied ist kein Ort, sondern ein 30-Seelen-Weiler«, sagt sie immer und hat mir auch den Unterschied erklärt. Ein Weiler besteht nur aus wenigen Häusern, bei uns sind es gerade mal zehn. Es ist also sehr überschaubar hier, jeder kennt jeden, seine Gewohnheiten, seine Vorlieben. Man weiß, wann die Frau Huber zum Einkaufen fährt, und kennt die Katzen aller Nachbarn mit Namen. Jeder hört, wenn sich die Stadlers anschreien, und es wird getuschelt, dass die Schusters im Nachbardorf den Hof aufgeben. Aber ich mag das. Auerschmied, das ist viel Heimat, Vertrauen, ein bisschen wie Familie. Hier wohnen auch ein paar Kinder, mit denen ich mich gut verstehe und häufig gemeinsam im nahe gelegenen Wald unterwegs bin. Es gibt einen Bach, der sich durch den Weiler schlängelt, viele im Sommer herrlich blühende Wiesen, und wenn die Luft klar ist, können wir von einer Anhöhe aus das Mangfallgebirge sehen. »Wir leben hier genauso idyllisch wie Schneewittchen und die Zwerge, nur nicht hinter, sondern vor den sieben Bergen«, sagt Mama oft und spricht dann ganz geheimnisvoll, sodass ich richtig in Märchenstimmung komme und mich herrlich geborgen fühle. Seit ein paar Wochen ist meine kleine Welt allerdings viel größer geworden, denn ich bin jetzt ein Schulkind und fahre jeden Morgen mit dem Schulbus in die weite Welt, genauer ins rund sieben Kilometer entfernte Irschenberg, denn dort ist die nächste Grundschule. Meine Mutter, die bislang als Zimmermädchen in einer Pension in Schliersee gearbeitet hat, suchte sich daraufhin extra einen Job in der Nähe. Sie arbeitet nun halbtags in einem Haushalt und ist meist schon zu Hause, wenn ich mittags zurückkomme. Ich fühle mich superwohl und gehe gern zur Schule. Mama sieht immer noch traurig aus. Was hat sie bloß? Bestimmt hängt es mit ihrem Besuch bei meinem Schuldirektor zusammen. Ich wusste, dass sie heute bei ihm einen Termin hatte, konnte mir aber nicht vorstellen, weshalb. Denn eigentlich bin ich gut in der Schule, besonders im Religionsunterricht. Warum, ist klar. Durch Papa weiß ich ganz viel über die Kirche, und wenn meine Religionslehrerin uns Kinder etwas fragt, zeige ich immer auf, weil ich mich in Kirchendingen richtig gut auskenne. Ich bin durch mein Insiderwissen quasi Expertin und gebe gern viel davon preis. Aber vielleicht ist das ja nicht richtig, und der Direktor hat meine Mutter deshalb in die Schule bestellt? »Ab sofort sagst du nicht mehr, wer dein Vater ist!« Mamas Satz geht mir immer wieder durch den Kopf. Und dann kommt mir ein Gedanke, der mich nicht mehr loslässt: Niemand soll wissen, wer er ist! Das ist es, was sie so traurig macht … Aber das geht doch gar nicht! Was sage ich denn, wenn wir demnächst von unseren Eltern erzählen sollen? Das tun wir nämlich gerade im Unterricht. Jedes Kind stellt sich und seine Familie vor. Und was sage ich dann? Torsten, ein Junge aus meiner Klasse, hat stolz »der Papa ist ein Zimmermann« gesagt und beschrieben, was sein Vater genau macht. »Der Papa ist Pfarrer« darf ich jetzt nicht mehr sagen. Dabei habe ich mich sehr darauf gefreut, ausführlich zu erzählen, wie die Arbeit eines Pfarrers ist. Ich bin ja, zumindest manchmal, hautnah mit dabei. »Magst du nicht mehr?«, fragt mich Mama jetzt, und als ich den Kopf schüttle, tauscht sie den halb leer gegessenen Spaghetti-Teller gegen eine Schale Apfelbrei aus und meint: »Lass es dir schmecken, meine Kleine.« Doch ich weiß nicht, ob das noch klappt. Es geht mir zu viel durch den Kopf. Ich darf ja auch nicht lügen, das hat mir mein Papa schon oft gesagt. Erst kürzlich wieder, als wir zusammen auf dem Sofa saßen und Papa mir aus einem Märchenbuch vorgelesen hat. Ich liebe es, wenn er vorliest, weil er so eine tiefe, kräftige Stimme hat und es so spannend macht, dass ich wie weggeschaltet bin. Am Schluss, als er das Buch zuklappte, meinte er noch, dass es wichtig sei, die Wahrheit zu sagen,...