E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Eising Tagebuch der sanften Quarantäne
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7526-0318-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
ISBN: 978-3-7526-0318-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In seinem Debüt schickt Erik Eising uns auf eine launenhafte Achterbahnfahrt auf den Infektionskurven der ersten fünf Wochen der Pandemie. Dabei wird dem Schock des Kontaktverbots und der darauffolgenden inneren Leere auf abwechslungsreiche Weise begegnet sowie der Blick der Lesenden für eine sanfte Freiheit geschärft, für die allein sterile Zimmerluft uns sensibilisieren konnte. Mit seinem raffinierten Stil, der sich scheinbar direkt vor unseren Augen entwickelt, seinem abgekochten Einfallsreichtum und subtilen Humor, präsentiert der Autor ein detailverliebtes Stück Zeitgeschichte im Gewand einer intimen Erzählung, die uns letztlich doch alle angeht. Das dabei entfaltete Ineinanderwuchern von Tod und Literatur, von Leben im Digitalem weist diese Lektüre als erste ernsthafte literarische Verarbeitung der jüngsten Vergangenheit aus.
- Wendekind - Studium der Romanistik und Anglistik an der Universität Potsdam - Gründungsmitglied der Zaraffel Gruppe Berlin - Herausgeber des Zaraffel Magazins für Literatur - https://zaraffel-magazin.de - zaraffel@gmx.de
Autoren/Hrsg.
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Erste Woche
19.03.2020 Der dicke alte Mann auf dem Moped macht Bewegungen wie auf einem Schaukelpferd. Er kommt nicht mehr vom Hauptständer herunter, ist hilflos. Der Helmkofferraum, der Gepäckkofferraum, gekränzt von zehn, zwölf Packungen Toilettenpapier; er: zusammengepfercht zwischen Türmchen aus Kartonkisten, vollgepackt mit Konserven. Ein Passant zeigt Hilfsbereitschaft, gibt sich und dem Unglücklichen einen Ruck, so dass dieser loskommt. Einen Meter lang wackelt er noch, bevor er umfällt, sich zur Seite rollt und auf dem Rücken liegen bleibt, dann stoppt das Video. Die beiden Mädchen, die alles aus sicherer Entfernung mit dem Handy gefilmt haben, lachen sich halbtot. Ich lache ein bisschen mit, aus noch sicherer Entfernung, von zu Hause aus, durch den Handybildschirm hindurch. Noch habe ich gut lachen, noch funktioniert das W-LAN, noch ist der Kühlschrank voll und ich informiere mich, wie die meisten, stündlich über die aktuellsten Entwicklungen zur momentanen Lage. Während zynische Stimmen behaupten, endlich passiere mal was, während Ökonomen sagen, eine Katastrophe stehe uns bevor, sehe ich das alles fast indifferent. Dem Klima schadet es nichts, wenn der Handel Einbußen erfährt. Greta T. reibt sich die Hände mit Desinfektionsgel ein, mein Bücherregal ist voll und ich verspüre dieses halbvergessene Gefühl aus frühen Kindertagen, als es nichts zu tun gab und ich auf meinem Schaukelpferd über den braunen Teppich der Altbauwohnung in der Robert-Koch-Straße ritt. Ich greife mir ein Buch aus dem Regal, es ist « La Peste » von Albert Camus, ich schlage es auf und lese das Incipit, es geht so: « Il est aussi raisonnable de représenter une espèce d’emprisonnement par une autre que de représenter n’importe quelle chose qui existe réellement par quelque chose qui n’existe pas. » – Daniel De Foe Apropos Robert Koch, was empfiehlt das RKI denn heute? Schnell die letzten Twittermeldungen nachholen. Die Virologen haben in den letzten Tagen ein bisschen unsere Legislative abgelöst, alle erwarten gespannt die nächsten Ansagen, die dann von der Regierung umzusetzen seien: Einschränkungen im Verkauf von Waren, Veranstaltungsverbote, die Empfehlung, meinen dreißigsten Geburtstag abzusagen. Jetzt sitze ich alleine hier, mit Clownshut, tröte vor mich hin: trööt – – langweilig. Auf einem alten Foto sitze ich auf einem Holzmoped, gerade mal ein Jahr alt bin ich darauf. Es schmückt die Whatsappgruppe für meine eigentlich geplante Feier, in der ich neulich schreiben musste, dass es unter meinem Namen keine „Coronaparty“ geben wird. Ich weiß, not that berlin of me, aber eigentlich komme ich auch gar nicht von hier. Irgendwo musste es halt hingehen, mit Anfang zwanzig. Zum Feiern bin ich jedenfalls nicht hierhergezogen, weswegen ich mich häufig habe vor meinen Bekannten rechtfertigen müssen. Jetzt, in Zeiten der sanften Quarantäne, vermisse ich nichts. Neulich habe ich mir sogar in weiser Voraussicht noch ein neues Buch für den Stapel besorgt: Lutz Seilers „Kruso“. Auch in seinem Incipit steht etwas von Daniel De Foe. Dieser De Foe – – der muss was gekonnt haben, denke ich so. Der war sicher fleißiger als ich in diesen Tagen, war unheimlich ehrgeizig, aber warum? Der Mann im Video fällt um, macht einen Purzelbaum rückwärts und bleibt auf dem Rücken liegen, die Mädchen lachen sich darüber kaputt. Die Jugendlichen seien nicht betroffen, sagt man, sie gehörten nicht zur Risikogruppe. Das sei unser Glück; man mag sich nicht ausmalen, wie besorgte Eltern sich aufführen würden, die noch Kraft genug hätten, einen Motorroller durch die Fensterscheibe verriegelter Geschäfte zu schleudern, auf der Suche nach Lebensmitteln, auf der Suche nach den letzten paar Rollen Toilettenpapier. Vielleicht ist das alles, kindische Spinnerei meinerseits, ein chiffrierter Regulierungsmechanismus der Natur. Er zeigt uns, wie zerbrechlich wir sind und wie adaptiv gleichermaßen. Nebenbei löst er auch noch das Rentenproblem. Wer darüber jetzt noch lachen konnte, der glaubt nicht an seinen eigenen Tod. Letzten Sonntag verabredete ich mich mit einem Freund zum Spazierengehen, um das leere Berlin zu erkunden, die einmalige Chance zu ergreifen und doch endlich einmal eine kreative Aktion zu starten, mal furchtlos sein, während alle Angst haben und zu Hause sind, aber Berlin war nicht leer, ich hatte mich enttäuscht. Im Gleisdreieckpark trafen sich Jugendliche, wie sonst auch, zum Basketballspielen und Skateboardfahren, an den Eisständen warteten Familienväter auf ein paar Kugeln Waldmeistereis mit bunten Streuseln, die Spätiverkäufer am Ostkreuz berührten mein Kleingeld nur noch mit Latexgummihandschuhen, nachdem sie ihr Handy beiseitegelegt hatten. Die Berliner sind unsterblich, lassen sich nichts gefallen oder verleugnen sie nur? Werden sie danach zornig, verhandeln sie oder akzeptieren, was ist? Vielleicht sind wir alle bald verschwunden, denke ich vor meinem Bücherregal, auf die Rücken meiner verstaubten Freunde starrend. Anstatt mich endlich an den Schreibtisch zu setzen und in Herrgottsnamen den Aufsatz zu schreiben, um den mich Thanassis bat, gehe ich lieber ins Internet, oh Versucher!, vertrödele, wie mein halbes Leben bereits, noch ein bisschen mehr meiner Zeit, die ja aber endlos erscheint in den letzten Tagen. In der Zeit (online) finde ich eine Kleinigkeit von David Wagner und hoffe, er trägt fleißig seine Handschuhe beim Annehmen von Paketen und bleibt in Sicherheit. Er wohnt irgendwo im Prenzlauer Berg, glaube ich, und ist seit seiner Organtransplantation immunsupprimiert; vielleicht sortiert er gerade seine vielen Verlagsverträge, irgendwas muss ja übrigbleiben. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob das alles so stimmt, was da steht, dem Autoren soll man bekanntlich nichts glauben. Sein Scriptor war mir trotzdem immer sympathisch und seine Worte bewegen mich mehr als mein Wille nach draußen zu gehen, vor allem heute. Warum auch ein verlogener Autor sein? Die Kinder im Video lachen. Sie haben dem Alten nicht geholfen, vielleicht wissen sie gar nicht, wie das geht. Die Regisseurin prophezeit wiederholt: „Den wimpst‘s glei‘ um, den Typ!“, und freut sich, als es sich ereignet. Das Video geht viral, das bedeutet, es ist für einen Tag fast berühmt und am darauffolgenden bedeutungslos. Für COVID-19 bricht sich hier kein Jugendlicher einen Zacken aus der Krone. In Griechenland entbrennt derweil ein Hoheitskampf zwischen Kirche und Staat. Mich erreicht die Nachricht, dass viele Gläubige auch trotz der Krise wollen, dass ihre Kinder zur Kommunion alle von einem Löffel naschen. Von hinter meinem Fenster aus klingt das so sehr komisch, es ist aber nicht zum Lachen. Was bleibt, solang der Strom noch fließt, werden die lachenden Jugendlichen sein, die alles nicht so bierernst nehmen, wie wir Noch-Jungen oder Altwerdenden. Wie soll man es nennen in dieser Welt, in der niemand alt sein will? Wenigstens gibt es wohl doch noch schlimmere Krankheiten als das Älterwerden. Meine Eltern gehören seit letztem Jahr offiziell zur Risikogruppe, aber meine Mutter will lieber noch, wie sie sagt, ein wenig ihre Jugend nachholen. Jetzt wäre der beste Zeitpunkt dafür. Auf dem Weg zur Arbeit sah ich neulich noch, wie Jugendliche, von der Schule aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr freigestellt, sich um die Tischtennisplatten und Fußballkäfige verteilten, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich fand das lässig, hätte früher mich nicht anders verhalten. Nicht, weil ich gern draußen war, sondern weil ich dagegen war. Vielleicht bin ich deswegen später auch so oft dringeblieben, aber das ist eine andere Geschichte, eine für die lange Quarantäne, die, wenn sie dann kommt und die Straßensperren errichtet worden sind, doch ein netter Gedanke wäre, um endlich mal aktiv zu werden. Vielleicht lass‘ ich‘s aber auch, was soll‘s. Fang ich‘s an, lass ich‘s bleiben?, den ganzen Tag reite ich auf diesem Gedanken über das Laminat in der Wohnung am Ostkreuz, hin und her, der Flur ist gemütlich lang, ich erkunde ihn wie später vielleicht mein Zimmer im Krankenhaus, erkunde ihn, wie auf großer Fahrt, die Welt. Auch wenn viele meinen, sie gerate nahe an den Stillstand, sie dreht sich doch. Heute nur steigen wir aus einer Achterbahn und halten darum die plötzliche Ruhe für eine Erschütterung. Meistens lacht man dann doch, wenn der Körper sich beruhigt. Ganz so, wie die Jugendlichen, die das alles scheinbar gar nichts angeht. Ich genieße es, finde dabei die Geschwindigkeit des Denkens wieder und nur für den Fall, dass ich das Ganze am Ende doch überlebe, sollte ich mich langsam daransetzen, diesen Aufsatz endlich abzufassen. Vielleicht kommt die Gelegenheit nie wieder. 21.03.2020 Erstaunlich, denke ich, das Leben scheint im Moment so langsam, und doch ersetzen die Ergebnisse der Virologen und die empirischen Zahlen aus den Testlabors jeden Tag unser Weltbild, so dass man kaum glauben kann, gestern Gesagtes hätte einmal Bedeutung gehabt. Ich blättere durch meine Nachrichten der vergangenen...