Elsässer Feuer ist eine seltsame Sache
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-85869-576-5
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-85869-576-5
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lisa Elsässer schreibt Lyrik und Prosa. Sie wurde 1951 in Bürglen, Kanton Uri, geboren und lebt seit 1986 in Walenstadt. Diverse Ausbildungen, u. a. Bibliothekarin und Buchhändlerin. Von 2005 bis 2008 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Lisa Elsässer ist für ihr literarisches Schaffen mehrfach ausgezeichnet worden. 2012 war sie Stipendiatin von Pro Helvetia im Ledig House, New York. Zuletzt erschienen: Die Finten der Liebe (Erzählungen, 2011) und Da war doch was (Gedichte, 2013).
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Puppenspiel
Es war nicht Sonntag, und an Werktagen ging man nicht fort. Obwohl nicht Sonntag war, trugen wir, meine Schwester und ich, die schönen Kleider: rotweiß gestreifte Röckchen, weiße Blusen, weiße Kniesocken und Schuhe, die vor uns mehrmals schon getragen, geflickt und neu besohlt worden waren. Es war, als ob wir auf den Jahrmarkt gehen würden. Die Mutter trug ein dunkelgraues Kleid. Sie hatte kein Jahrmarktgesicht und sagte, dass die Tante krank sei, sie sagte, sie liegt im Sterben. Wir waren zu klein. Krank, das konnten wir verstehen. Sterben, das war ein Wort aus einer andern Welt. Trotz dieser Worte war dieser Werktag für uns ein Sonntag: Mitgehen, mitdürfen war alles, was zählte.
Wir stiegen ins Postauto. Meine Schwester und ich zankten uns um den Fensterplatz. Die Mutter setzte sich in die Mitte. Ihr Gesicht sah aus wie ihr Kleid, dunkel und traurig. Auf halbem Weg wechselten wir den Platz. Mutter blieb ungewohnt ruhig, als wir, die Schwester und ich, nach vielen Straßenkurven weiß geworden waren wie die Blusen und die durchsäuerte Morgenmilch, die Brotbrocken in einen hellbraunen, alten Papiersack erbrachen, in dem der Kartoffelstaub aufwirbelte wie eine vergessene Wolke. Schön der Reihe nach, sagte sie nur. Halb gefüllt platzte plötzlich der Papiersack an einer Naht. Wie ein angestochener Ballon fiel er in sich zusammen.
Sie putzte uns den Mund mit einem weißen, weichen Taschentuch, das sie, schön gefaltet, aus der Tasche genommen hatte, und zögerte, weil sie, wie sie meinte, kein zweites bei sich hätte. Und es stinkt jetzt, sagte meine Schwester, du musst es hierlassen und zwischen die Sitze einklemmen, ich will es nicht mehr riechen.
Über den wilden Bergbach führte eine Brücke. Sie hatte ein eisernes Geländer, durch das man den Kopf schieben konnte, um das Sprudeln besser zu sehen. Mutter kam und zog uns unzimperlich weg. Wollt ihr ertrinken! Sie hatte kurz mit einer Bekannten, die ihr entgegenkam, ein paar Worte gewechselt und uns aus den Augen gelassen.
Im Vorgarten des alten Hauses blühten Wildrosen und Steinastern. Auf der Holzbank, die ihren Rücken an die Hausmauer lehnte, saß ein Mann. Er rauchte eine Pfeife, zog geräuschvoll daran, öffnete immer wieder den silbernen Deckel, füllte zuerst mit der Hand etwas Wohlriechendes hinein, stopfte mit einem Gegenstand nach, der aussah wie ein kleiner Löffel, zündete das in der Pfeife Liegende an und blies den Qualm in die blaue Luft. Tabak ist das, erklärte die Mutter. Sie setzte sich zum Mann auf die Holzbank. Kurz hielt sie seine große, schwielige Hand. Der Hund hatte aufgehört zu bellen, ließ sich kraulen und gab eigenartige, lang gezogene Laute von sich, streckte dabei seine Zunge aus dem Mund, was uns immer verboten war.
Sie liegt in der Stube, sagte der Mann, der unser Onkel war. Sie hat deinen Namen den ganzen Morgen schon gemurmelt. Meine Schwester und ich hatten den Onkel noch nie gesehen.
Die Stube war ein großer Raum. In einer Ecke standen ein alter Holztisch und Stühle. Eine hellblau gekleidete, steinerne Madonna lichtete die Ecke, neben ihr brannte eine Kerze, die in einem dunkelroten, mit weißen Kreuzen verzierten Plastikkübelchen friedlich flackerte. Ist Erstaugust, fragte ich meine Mutter.
Auf einer Seite reihte sich Fenster an Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen. Das Rauschen des Bachs war zu hören.
Mutter sagte, das ist der Schächen.
Unser Schächen, fragte ich ungläubig. Der sah doch in unserem Dorf ganz anders aus. Lieblicher, breiter und mit riesigen Steinen durchsetzt, auf die wir uns sommers setzten, wenn die Schneeschmelze vorbei war.
Ja, unser Schächen. Sonst schien die Welt weggesperrt.
Ein grüner Kachelofen ragte in den Raum.
Auf der andern Seite stand das alte, hohe Bett, in dem die Tante lag. Ich sah ein spitzes, gelbbleiches Gesicht, das tief in den Kissen ruhte, die Haare, wie graue Fäden, klebten feucht an ihrem Kopf und einige auf den Wangen. Sie sah aus wie eine Hexe, und in der langen, knöchernen Hand hielt sie einen hölzernen Rosenkranz. Ich sah, wie sie den Daumen, als wäre es die größte Anstrengung, von einer Holzkugel zur nächsten schob und dabei immer das Gleiche flüsterte, das ich nicht verstehen konnte, es nur am Gesang erkannte, so schien es mir, ein Singen.
Emma, flüsterte die Tante. So hieß meine Mutter. Ich kannte sie nur als Mutter, und der Name Emma befremdete mich. Emma oder Mutter setzte sich zu ihr ans Bett. Der Hund schlief neben ihren Füßen. Hie und da strich er seine Schnauze über ihren Unterschenkel, hinterließ Geifer an ihrem Strumpf. Mutter sagte einmal, dass Hunde besser hören als Menschen. So sagte ich nicht laut, er solle seine Schnauze von Mutters Strümpfen nehmen. Mir grauste es, ich konnte nicht verstehen, dass Mutter das einfach geschehen ließ.
Wir spielten nebenan auf dem Holzboden mit unseren Puppen. Wenn die Hexe im Bett stöhnte, kippten wir die Puppen. Sie weinten. Wir legten den Puppen nasse, kalte Tücher auf die Stirn, wie Emma das bei ihrer Schwester tat, flößten ihnen Wasser ein, das unten gleich wieder herauskam, befeuchteten ihnen die Lippen, murmelten die Gebete nach, die die Tante langsam und stöhnend meiner Mutter nachsprach.
Nein, sagte die Mutter, ich habe keine weißen Hemdchen für die Puppen; und Kerzen auf den Boden stellen, das geht auch nicht.
Irgendwann kam der Onkel mit einer schweren, alten Eisenpfanne in der Hand an den Tisch, stellte sie auf einen runden, braunen Korkuntersatz, der an einigen Stellen verbrannt aussah. Obenauf brutzelte Käse, schlug Blasen. Mit einem großen Holzlöffel rührte der Onkel in der Pfanne und füllte die Teller. Geraffelte Kartoffeln lagen unter dem geschmolzenen Käse. Dazu aßen wir dunkles Brot. Wir tranken aus Emailkacheln kaltes Wasser. Emma und der Onkel tranken aus ihren Gläsern eine hellrote Flüssigkeit, die aussah wie der Himbeersirup, den es manchmal an Sonntagen zu Hause gab. Auf unser Bitten goss Mutter uns einen Gutsch davon ins Wasser. Wir probierten und ließen das Wasser stehen. Die Puppen schliefen ohne Kerzenschein in ihren farbigen Kleidern auf dem Holzboden, während wir mit dem Onkel am Tisch saßen und aßen. Das leise Stöhnen aus der Ecke, wo das breite Bett stand, in dem die Tante lag, begleitete das Kauen auf dem Brot und unterbrach es immer wieder.
Ich bringe ihr auch ein Stück vom Brot, sagte ich zu Emma, meiner Mutter, dann hört sie auf zu stöhnen. Emma sagte: Sie kann nichts mehr essen.
Nach dem Nachtessen setzte sich die Mutter wieder ans Bett, nachdem sie dem Onkel die Teller in die dunkle Küche getragen hatte, wo er am Steinbecken stand und abwesend mit einer Bürste über die Teller strich. Mutter hatte mir ein Tuch in die Hand gedrückt. Ich nahm den gewaschenen Teller in die Hand, schaute ihn an und sagte zum Onkel: Er ist noch schmutzig!
So, so, meinst du? Ich glaubte ein müdes Lächeln in seinen Mundwinkeln zu sehen, und so gab ich ihm jeden Teller wieder zurück, obwohl sie sauber waren. Zum Schluss bat ich um einen Besen, wischte den Küchenboden, und er sagte: gutes Kind!
Im Schein der Kerze, in der inzwischen ganz eingebrochenen Dunkelheit, schien das Gesicht der Tante noch größer, unwirklicher und gespenstischer. Der Onkel saß auf der Kachelofenbank. Er starrte in die Nacht.
Später lagen meine Schwester und ich oben in der Kammer, im fremden, hohen Bett. Wir hielten die sterbenden Puppen im Arm. Meine Schwester, die ich durch Kneifen in ihre Wange wach zu halten versuchte, steckte, wie jeden Abend, ihren Daumen in den Mund und sog an ihm wie an einer Schoppenflasche. Um den Zeigefinger der andern Hand kringelte sie ihr Haar. Sie schlief sofort ein. Ich hörte dem tosenden Bach zu.
Auf dem Fußboden sah ich einen schmalen Streifen Licht. Leise stand ich auf und legte mich bäuchlings auf das Holz. Onkel auf der Ofenbank schnäuzte in ein Taschentuch. Dann fuhr er mit dem gleichen Tuch über seinen Kopf. Ich horchte angestrengt und wartete auf die Seufzer der Tante, auf Mutters weiche Stimme. Es war still. Plötzlich erlosch das Licht, ich schlich ins Bett, stellte mich schlafend.
Mutter legte sich zu uns ins Bett. Ich hörte ihr leises Schniefen, spürte das leichte Zittern an ihrem Körper. Kalt war es nicht. Ich glaube, sie hat geweint. Als sie eingeschlafen war und ihre ruhigen Atemzüge zu hören waren, strich ich ihr sachte übers Barchentnachthemd. Es fühlte sich an wie Haut, war weich und hatte einen angenehmen Duft. Nicht so wie gestern das steife Nachthemd von der Tante. Ich hörte Mutter nicht aufstehen. Am nächsten Morgen lag die Tante, weiß im Gesicht und ruhig, mit einem schwarzen Gewand bekleidet im Bett. Ihre Hände gefaltet auf einem weißen, gestärkten Leintuch, die Haare ordentlich zu einem Zopf geflochten, hatte sie nun ein weiches, freundliches Gesicht. Jetzt saß auch der Onkel an ihrem Bett. Er hatte einen Rosenkranz um seine Hand gewickelt, die Tote hatte ein kleines Kreuz zwischen ihren steifen Fingern. Er schien auf...




