Enard | Das Jahresbankett der Totengräber | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

Enard Das Jahresbankett der Totengräber


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-446-27013-8
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

ISBN: 978-3-446-27013-8
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach seinen, mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten, Buch 'Kompass', schreibt Mathias Enard in seinem neuen Roman über die Herausforderungen des Landlebens und die Beharrlichkeit der menschlichen Existenz.
Für eine Dissertation über das Leben auf dem Land im 21. Jahrhundert zieht der Pariser Anthropologe David aufs Dorf, um Sitten und Bräuche der Landbevölkerung zu beobachten. Die Stille, die ständige Anwesenheit von Tieren aller Art, vor allem aber die überraschende Unangepasstheit sämtlicher Dorfcharaktere ziehen ihn in ihren Bann, und bald ist er viel involvierter in das Landleben, als er es sich je hätte träumen lassen. Doch nie wird er all die weitverzweigten Vorgeschichten kennen, die Mathias Enard in kühner Fahrt durch Raum und Zeit mit komödiantischer Lust erzählt. Das neue Buch von Mathias Enard ist mehr als ein Roman, es ist ein atemberaubendes literarisches Erlebnis.

Mathias Enard, 1972 geboren, lebt in Barcelona und Niort. Für den Roman Kompass erhielt er den Prix Goncourt, 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2021 erschien sein Roman Das Jahresbankett der Totengräber und zuletzt Der perfekte Schuss (2023).
Enard Das Jahresbankett der Totengräber jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Wohin man sich auch wendet, bei der Stadt Libourne man endet.

Onésime Reclus, Die Teilung der Welt

11. Dezember

Ich habe beschlossen, diesen Ort Das Wilde Denken zu nennen, was sonst.

Vor zwei Stunden bin ich angekommen. Ich weiß noch nicht so recht, was ich in diesem Tagebuch festhalten werde, aber gut, Eindrücke und Notizen, alles Material, das für meine Doktorarbeit wichtig ist. Mein ethnographisches Feldtagebuch. Am Bahnhof in Niort habe ich ein Taxi genommen (Richtung: Nord-Nordwest, 15 Kilometer, ein Vermögen). Rechts neben der Départementsstraße ebene Landschaften, endlose Felder ohne Hecken, nicht gerade heiter im Abendlicht. Zur Linken fuhren wir an tiefdunklen Sümpfen entlang, so kam es mir zumindest vor. Dem Fahrer fiel es trotz GPS schwer, die Adresse zu finden. (Die Koordinaten von Das Wilde Denken: 46°25'25.4" Nord, 0°31'29.3" West.) Schließlich hielten wir auf dem Hof eines Bauernhauses, ein Hund begann zu bellen, wir waren da. Die Besitzerin (60 Jahre alt, lächelnd) heißt Mathilde. Ich habe die Räumlichkeiten in Beschlag genommen. Mein Haus (meine Wohnung?) ist eigentlich der hintere Teil des Hauptgebäudes, und dort das Erdgeschoss. Die Fenster gehen auf den Garten und die Gemüsebeete hinaus. Rechts sehe ich auf die Kirche, links auf ein Feld (keine Ahnung, was dort wächst, Luzerne vielleicht? Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass alle niedrigen, grünen Felder Luzernefelder waren) und auf der anderen Straßenseite auf Gemüsebeete, ich vermute, es handelt sich um Rettich oder Kohl. Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit Küche, ein Badezimmer, das ist alles, aber es ist schon viel. Mit gemischten Gefühlen hörte ich Madame Mathilde sagen: Bitte schön, das ist Ihr Zuhause. Ich war glücklich, vor Ort zu sein, und zugleich ein wenig ängstlich. Ich ging sofort an den Computer, um zu überprüfen, ob das WLAN funktioniert, und nahm meinen Artikel für Studies and Perspectives zum Vorwand. Eine Art, mir selbst etwas vorzumachen, denn es gab nichts Dringendes. Ich habe vor allem Nachrichten versendet und mit Lara gechattet. Ich bin früh schlafen gegangen, habe noch ein paar Seiten Malinowski gelesen und im Dunkeln auf die Geräusche um mich herum geachtet. Ein vages Motorenbrummen aus der Ferne (der Heizkessel?), ab und zu ein Auto noch weiter entfernt. Dann bin ich mit leerem Magen eingeschlafen.

Ich muss unbedingt das Transportproblem lösen und etwas zu essen kaufen.

12. Dezember

Erster Tag der Eingewöhnung in mein neues Umfeld. La Pierre-Saint-Christophe liegt in der Mitte eines Dreiecks, dessen Spitzen Saint-Maxire, Villiers-en-Plaine und Faye-sur-Ardin bilden. Alles großartig klingende Namen, die meiner Neuen Welt Gestalt geben. 15 Kilometer nach Niort, 10 Kilometer nach Coulonges-sur-l’Autize.

Ich verließ Das Wilde Denken gegen 10 Uhr, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich nicht allein in meiner Ethnographen-Wohnung war: Eine vielfältige Tierwelt hat sich dort eingerichtet. Die Kröte wurde sicher von den vielen Insekten angezogen und die Katze von der Kröte. Im Badezimmer entdeckte ich genau zwischen Dusche und Toilette eine Kolonie roter Würmer oder zumindest lebendige rote Fasern, die aussahen wie Würmer. Ganz hübsch, solange man nicht auf sie tritt. Sie bewegen sich langsam auf die Tür zu, daher muss man sie vor dem Waschen mit einem Wasserstrahl den Abfluss hinunterspritzen. Ich konnte meinen Ekel ohne Probleme überwinden, was mich hinsichtlich der zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Arbeit im Feld beruhigte. Schließlich hält selbst Malinowski fest, dass Insekten und Reptilien die größten Hindernisse für die Ethnologie darstellen. (Da dieses Tagebuch niemand lesen wird, kann ich zugeben, dass ich es ziemlich widerlich fand, Würmer im Badezimmer zu haben, und eine Viertelstunde lang zögerte, bevor ich duschte.) Zudem tauchte noch eine schöne Herde eher harmloser Zwergschnecken auf. Ich nehme an, dass Erdgeschoss und Luftfeuchtigkeit die Gründe dafür sind. Wie dem auch sei, ich verließ Das Wilde Denken gegen 10 Uhr morgens, ging zu meiner Vermieterin, Madame Mathilde, und fragte sie, ob es eine Möglichkeit gebe, in die Stadt zu kommen, um mich mit Lebensmitteln einzudecken; sie sah sehr überrascht aus, also, das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie konnte keine Antwort geben, sie wusste nicht, ob es Busse ins Dorf gibt. (Heute habe ich erfahren, dass man am frühen Morgen den Bus der Mittelschüler nehmen kann, aber man würde mich für einen Satyr halten, und dann müsste ich gut zwei Stunden warten, bis der Supermarkt öffnet, dies im Kapitel Transport festhalten.) Sie hat mir direkt geraten, ein Auto zu kaufen: In La Pierre-Saint-Christophe gibt es nur ein Café, in dem man das Notwendigste findet, das heißt Angelhaken, Zigaretten und Angelkarten. Ich werde jedenfalls nicht zum Mittagessen angeln müssen: Madame Mathilde (oder vielmehr ihr Mann, Gary – muss ihn unbedingt interviewen) war so nett, mir ein altes Mofa zu leihen, das einem ihrer Kinder gehört hat (im Kapitel Transport festhalten), dazu einen alten schwarzen Helm ohne Visier, aus dem Schaumstofffetzen hängen, aber mit Vintage-Aufklebern (ein Frosch, der die Zunge herausstreckt, ein AC/DC-Logo). Ich habe also ein zwar unsicheres, aber fahrtüchtiges Verkehrsmittel. Gegen Mittag fuhr ich zum Supermarkt in die Kreisstadt Coulonges-sur-l’Autize (hübscher Name), ich kaufte ziemlich viel ein, bevor mir einfiel, dass es nicht einfach sein würde, alles mit dem Mofa nach Hause zu bringen: Thunfischkonserven, Sardinen, Tiefkühlpizzen, Kaffee und ein paar Süßigkeiten (Schokolade). Ich weiß nicht mehr, mit wie vielen Kurven sich die Départementsstraße bis in die Stadt schlängelt und dabei einen ziemlich breiten Fluss überquert, die Autize. Ein Marktplatz, eine Post, eine Kirche, ein kleines Schloss, zwei Bäckereien, ebenso viele Apotheken, ein Bekleidungsgeschäft, drei Cafés, die Runde ist schnell gemacht. Um mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen, kaufte ich in der Bar du Sport eine Zeitung und trank eine Tasse Tee, während ich den Gesprächen zuhörte, eine Möglichkeit, mit der Gegend in Kontakt zu kommen. Der lokale Dialekt (das Poitevin-Saintongeais nach der offiziellen linguistischen Bezeichnung, man soll ja niemanden kränken) befindet sich zweifellos auf dem Rückzug (aber greifen wir nicht voraus: Das Kapitel Idiome, schöner Titel, kommt später). Ich hoffte, auf dem Markt mehr Glück zu haben. Nach dem Tee kehrte ich ins Wilde Denken zurück; in der Mitte einer Kurve hätte es mich wegen eines Hundes beinahe hingelegt (hätte nie gedacht, dass ich eines Tages einen solchen Satz schreiben würde), und ich wäre mit dem Moped gegen eine Mauer gekracht, aber wie durch ein Wunder konnte ich glücklicherweise rechtzeitig ausweichen. Danach widmete ich mich wieder meinem Arbeitsplan. Laut Rathaus gibt es in La Pierre-Saint-Christophe nach der letzten Volkszählung 649 Einwohner. 284 Herdfeuer, wie die Alten sagen würden. Laut Wikipedia und der Website des Rathauses nennen sich die Einwohner Petrochristophorer. Liebe Petrochristophorerinnen, liebe Petrochristophorer, ich habe beschlossen (Kapitel Fragen), rund 100 Interviews mit euch durchzuführen, dabei muss ich die Befragten so auswählen, dass ich am Ende die gleiche Anzahl von Interviews für jedes Geschlecht und jede Altersgruppe erhalte. Empirisch gesehen scheint mir das eine gute Idee zu sein. Ein Jahr Arbeit, aufgeteilt in zwei Feldzüge von je einem halben Jahr. Genial. Ich fühle mich voller Energie. Ich habe einen Blick auf den Entwurf eines Artikels für die Ruralités vivantes geworfen und hatte sofort eine erste Eingebung. Auf dem Land lässt es sich definitiv gut arbeiten.

12. Dezember, Fortsetzung

Es ist 2 Uhr morgens, die Stille und Einsamkeit machen mir Angst, ich kann nicht schlafen. Ich höre Insekten und habe das Gefühl, dass sie in der Nacht auf mir herumkrabbeln werden. Zu spät, um Lara zurückzurufen (sie lachte lauthals, als ich ihr sagte, dass meine Räumlichkeiten nunmehr Das Wilde Denken heißen), im Chatroom ist niemand online. Außerdem habe ich nur die Argonauten des westlichen Pazifik, Malinowskis Tagebuch und Victor Hugos 1793 zu lesen, nicht schlecht, um sich ein wenig abzulenken. (Warum habe ich 1793 mitgenommen? Sicher, weil ich den vagen Eindruck hatte, dass der Roman hier in der Gegend spielt.) Mir ist etwas kalt, morgen muss ich mit Mathilde sprechen, damit sie mir ein Heizgerät leiht. Und was jetzt? Tetris spielen, das könnte mich entspannen.

13. Dezember

Radio: Wettervorhersage, Weihnachten steht bevor usw. usw. Eisregen, Mofa unmöglich. Anorak kaufen, wichtig! Erste Standortbestimmung im Dorf. Ich habe entdeckt, dass hinter den Bäumen (Pappeln?) am Ende des Feldes vor meinem Wilden Denken etwas tiefer liegend ein Fluss fließt, die Autize. Meine Vermieterin hat mir die Kirche gezeigt. Der Schlüssel ist sehr beeindruckend, gut zwei Kilo Schmiedeeisen, mindestens. Die Kirche selbst ist weniger eindrucksvoll. Ärmliche Ausstattung, ziemlich banal. Trotzdem hübsch. Etwas Lustiges erfahren: Der Bürgermeister ist auch der Leichenbestatter des Kantons, oder umgekehrt. Im Internet einen ausgezeichneten Artikel über den russischen Erfinder von Tetris gelesen. Ein Genie, dieser Typ. Man sollte ihm den Nobelpreis geben, anscheinend hat er ihn noch nicht.

Keine besonderen...


Enard, Mathias
Mathias Enard, 1972 geboren, lebt in Barcelona und Niort. Für den Roman Kompass erhielt er den Prix Goncourt, 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2021 erschien sein Roman Das Jahresbankett der Totengräber und zuletzt Der perfekte Schuss (2023).

Müller, Sabine
Holger Fock, 1958 geboren, und Sabine Müller, 1959 geboren, übersetzen u. a. Cecile Wajsbrot, Alain Mabanckou, Antoine Volodine, Oliver Rolin und Patrick Deville. Für ihre Arbeit wurden sie 2011 mit dem Eugen-Helmle-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Fock, Holger
Holger Fock, 1958 geboren, und Sabine Müller, 1959 geboren, übersetzen u. a. Cecile Wajsbrot, Alain Mabanckou, Antoine Volodine, Oliver Rolin und Patrick Deville. Für ihre Arbeit wurden sie 2011 mit dem Eugen-Helmle-Übersetzerpreis ausgezeichnet.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.