E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Endres Der Tag, an dem mein Meerschweinchen Kriminaloberkommissar wurde
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-522-61054-4
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-522-61054-4
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
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Brigitte Endres, in Würzburg geboren, studierte Geschichte und Germanistik. Ihr Talent zum Fabulieren entdeckte die ausgebildete Lehrerin, als sie begann, für ihre Schüler zu schreiben. Bald darauf wurde ihr erstes Kinderbuch publiziert. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen bei verschiedenen Verlagen sowie im Bayerischen Rundfunk. Heute ist Brigitte Endres hauptberuflich als Autorin tätig.
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1. Kapitel
Ich war schon immer gern auf dem alten Stadtfriedhof. Dad hat mich oft hierher mitgenommen, als ich noch klein war. Ein super Spielplatz, auf dem man nicht geschubst wird oder in Katzenkacke fasst. Feine Krümelerde, zartrosa Regenwürmer und grün schillernde Käfer, Eichhörnchen, Spechte und Rotkehlchen. Ab und zu stieß mein Kinderschäufelchen auf einen ururalten Knochen, karamellfarben, glatt und leicht wie Porzellan. Als ich in die Schule kam, konnte ich dann nicht mehr so oft auf den Friedhof mit. Aber jetzt bin ich wieder öfter hier, allerdings nicht mit Dad, sondern mit einem Freund. – Freund? Ja, obwohl ich ihn immer noch sieze, möchte ich ihn, nach alldem, was wir zusammen durchgestanden haben, definitiv einen Freund nennen – und ich bin da sehr wählerisch. – Übrigens sitzt er neben mir auf der schwarzen Marmorplatte des Grabes, das wir immer besuchen.
Die Geschichte, ich möchte fast sagen – unsere Geschichte –, die ich, auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin, heute in mein Smartphone spreche, würde ich zwar ohnehin nie vergessen. Definitiv NIE! Aber vielleicht schreibe ich sie eines Tages ja sogar noch auf und verkaufe sie an Hollywood – denn sie ist wirklich abgefahren!
Die bereits erwähnte Grabplatte trägt eine lateinische Aufschrift, die schon viel über den Mann sagt, dessen sterbliche Überreste – und wahrhaftig nur die! – darunter begraben sind. Homo homini lupus, was heißt: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Die bittere Bedeutung dieser Worte war mir leider schon bekannt, ehe sie mir an diesem Ort des Friedens wieder begegneten. Doch sollten mir die Ereignisse, die ich hier aufzeichne, die Abgründe der menschlichen Natur erst noch richtig vor Augen führen …
Aber ich fang jetzt einfach mal an. – Hoffe, der Akku hält durch, weil ich manchmal etwas zum Abschweifen neige.
Homo homini lupus. Ja, das ist so traurig, wie es wahr ist! Mum nervt mein negatives Menschenbild. Sie findet, eine fast Vierzehnjährige hätte die verdammte Pflicht, die Welt positiv zu sehen. Sie hofft immer noch, das sei nur eine vorübergehende Pubertätserscheinung, da sei man halt verletzlich und könne sich selbst nicht leiden.
NEIN!, es liegt nicht an der Pubertät, es liegt definitiv an der Menschheit. Abgesehen von eigenen deprimierenden Erfahrungen, bin ich jedes Mal bedient, wenn ich die Nachrichten einschalte und mir ansehen muss, was sich meine lieben Zeitgenossen binnen eines einzigen Tages alles so angetan haben.
In puncto Selbstwertgefühl hat Mum aber nicht ganz unrecht. Doch das bezieht sich nur auf mein Äußeres. Mir hat die Natur einen – sagen wir mal – nicht ganz so schlanken Körper geschenkt, dafür aber den Appetit eines Holzfällers und die Kurzsichtigkeit eines Maulwurfs. Beides unverkennbar Gene von Dad – Pech gehabt, gegen Gene kommt man nicht an. Schon auf meinen Kleinkinderfotos blinzle ich durch die reinsten Flaschenböden in die Welt. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn Mum meint, dass mich die Brille intellektuell aussehen lässt. Okay, damit kann ich leben. »Schönheit vergeht, Dummheit bleibt«, sagt Dad. Das tröstet mich. Denn wenigstens bin ich nicht dumm – ich denke, das darf ich sagen, ohne gleich arrogant rüberzukommen. Obwohl sie mich bereits mit fünf eingeschult haben, weil ich schon lesen konnte, bin ich seither immer Klassenbeste gewesen. Die zweite Klasse hab ich dann übersprungen, weil ich mich sonst kaputt gelangweilt hätte. In diesem Punkt bin ich unangreifbar. Allerdings machen Überfliegernoten einsam.
Die Kinderbuchabteilung der Stadtbibliothek hatte ich schon mit neuneinhalb durch und dann machte ich mich über Dads Bibliothek her, und die kann sich sehen lassen. Was soll ein Kind auch machen, wenn es keine Freunde hat. Wobei das so eigentlich nicht stimmt – ich hatte nämlich einen Freund: den kleinen Henry. Seit wann ich ihn hatte, weiß ich nicht mehr, aber er begleitete mich einige Jahre lang. Der kleine Henry hat Mum und Dad ziemlich Kopfzerbrechen bereitet. Er wusste zum Beispiel immer, wo Mum die Schokolade versteckt. Natürlich bekam ich die Schimpfe ab, wenn dann wieder ein brauner Fleck auf dem Wohnzimmersofa pappte. Und einmal hat er unten im Laden eine sauteure Keramikurne runtergeworfen. Mum war stinksauer, als ich ihr tränenreich meine Unschuld beteuerte. Ich weiß auch noch, dass ich dem kleinen Henry nächtelang Geschichten erzählt hab. Und oft haben wir uns lustige Wörter zusammen ausgedacht, die meine Eltern aber gar nicht lustig fanden, weil die meisten mit Arsch oder Scheiß anfingen. Jedenfalls brachten sie mich zu einem Kinderpsychologen und der sagte, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, und dass nur sehr fantasiebegabte und wortgewandte Kinder imaginäre Freunde hätten. Irgendwann blieb der kleine Henry schließlich weg, was wohl daran lag, dass ich größer wurde und Henry immer gleich klein blieb. Aber es war eine gute Zeit mit ihm, an die ich gern zurückdenke. Ja, manchmal vermisse ich ihn sogar heute noch, denn ich tu mich ziemlich schwer damit, Kontakte zu schließen.
»Ich versteh das nicht, Valentine«, sagt Mum oft und schaut mich in dieser unerträglichen Mischung aus Mitleid und Ratlosigkeit an. »In deinem Alter hatte ich zig Freundinnen. Dein Bruder ist doch auch kein Einzelgänger und er ist im selben Haushalt aufgewachsen wie du.«
Ja, super, aber ich bin nicht wie Felix! Ich möchte fast sagen: leider. Sein Name ist Programm – der Glückliche! Anders als ich, kommt er ganz auf Mum. Er ist schlank, groß und blond und hat blitzblaue Augen, so ein Boygroup-Typ. Die Mädchen fliegen auf ihn wie Brummer auf einen Kuhfladen. – Okay, der Vergleich hinkt etwas, dabei hab ich echt nichts gegen ihn. Aber wir hatten früher kaum Gemeinsamkeiten, außer, dass er immer so supergute Noten in der Schule hatte wie ich. Felix ist sechs Jahre älter und das ließ er mich mit Vorliebe spüren. Sechs Jahre, das ist ja auch definitiv eine Menge. Als ich in die Grundschule kam, war er schon im Gymnasium, hatte Pickel und hörte Techno, während ich noch Bibi-Blocksberg-Fan war und mir einen Besen wie Kartoffelbrei gewünscht hab. Wir haben im Grunde nebeneinander hergelebt, bis er vor einem Jahr auszog. Mann, er hat ein Abi mit 1,2 hingelegt und auf Anhieb einen Studienplatz für Medizin bekommen! Das ist schon cool. Dad war darüber nicht so begeistert, weil damit feststand, dass er das Geschäft nicht übernehmen würde und das heißt doch Engel und Sohn.
Mum allerdings war schon immer der Meinung, jedes Kind sollte das Recht haben, seinen Beruf frei zu wählen, und Felix sollte es mal nicht so ergehen wie Dad. Mein Vater wollte nämlich ursprünglich Buchhändler werden – das ist auch der Grund, warum wir geschätzt eine halbe Million Bücher im Haus haben. Das Einzige, was Mum an Felix’ Berufswahl zu bemäkeln hat – sie mäkelt sonst nie an etwas herum, das Felix tut –, ist, dass er Pathologe werden will, weil sie sagt, dass man als Orthopäde oder Schönheitschirurg sehr viel mehr Geld machen kann. Da muss ich ihr recht geben, aber daran sieht man eben, dass auch Felix von der Umgebung seiner Kindheit geprägt worden ist.
Jedenfalls hat sie mir Felix in puncto Freunde immer als leuchtendes Vorbild vor die Nase gehalten. Ja, der schöne Felix war auch Klassensprecher … Ich müsse mich eben mehr bemühen … Aber Felix musste sich nie groß bemühen. Erstens sieht er, wie schon gesagt, verdammt gut aus. Zweitens waren seine Schulfreunde fast alle Jungs, und Jungs sind nun mal nicht halb so hysterisch wie Mädchen, wenn es um bestimmte Dinge geht. Dass Felix viel früher ausgezogen ist als die meisten seiner Freunde, liegt, wenn man mich fragt, genau daran – nämlich, dass keines seiner Mädels bei uns übernachten wollte. Dabei sind meine Eltern in dieser Hinsicht wirklich tolerant. – Mum hat es zwar fast das Herz gebrochen, als er seinen Kram gepackt hat, aber dann hat sie ihm sogar die Vorhänge für seine Bude genäht.
Wie dem auch sei. Anders als Felix stand ich auf der Beliebtheitsskala nie oben. Was soll’s? Irgendwo hab ich mal ein superschlaues Zitat gelesen, von Schopenhauer, glaub ich. – Da heißt es sinngemäß: Überlegenheit ist, wenn man die anderen nicht braucht und es ihnen zeigt. Respekt kriegt man eben nicht geschenkt, wenn man dicke Brillengläser trägt und vier Kilos zu viel hat – Mum behauptet sechs, aber da übertreibt sie.
Nein, Leute, ich mach nicht mit bei Wer-ist-die-Dünnste-und-Schönste-im-ganzen-Land. – Ich hätte eh keine Chance. – So ziemlich alles, was die Mädchen in meiner Klasse interessiert, langweilt mich schlicht zu Tode, ihre Zeitschriften, die Musik, die sie hören. Dabei sind die meisten sogar zwei Jahre älter als ich. Außerdem hab ich definitiv kein Pink-Problem, ich hasse diese süßliche Bonbonfarbe. Und mit Castingshows kann man mich jagen. Ich kann einfach nicht ohne Brechreiz zusehen, wie diese Supergirlies so appetitlich und leider auch ebenso intelligent wie ein Pfund Schnitzel von den Medien verarscht werden. Da mutiere ich zur Hardcore-Emanze!
Und was die Jungs angeht – die sind dermaßen kindisch, dass ich mir manchmal vorkomme wie auf dem Affenfelsen. Ich glaub, die Hälfte von denen ist sowieso auf Ritalin. Auch wenn sich das vielleicht so anhört, prinzipiell hab ich nichts gegen Gleichaltrige, ich hab bisher nur noch keinen getroffen, mit dem man sich halbwegs auf Niveau austauschen könnte.
Mum sagt, heutzutage könnte man Freundschaften doch auch...