E-Book, Deutsch, 100 Seiten
Endruweit Empirische Sozialforschung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8463-4460-6
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wissenschaftstheoretische Grundlagen
E-Book, Deutsch, 100 Seiten
ISBN: 978-3-8463-4460-6
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Günter Endruweit war Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes, der Technischen Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Stuttgart
Autoren/Hrsg.
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inleitung: Wozu Wissenschaftstheorie der empirischen Sozialwissenschaften? 9
1 Begriffsklärungen 13
1.1 Wissenschaft 13
1.1.1 Wissen 16
1.1.2 Forschung 18
1.1.3 Theorie 20
1.2 Empirische Sozialwissenschaft 21
1.3 Wissenschaftstheorie 24
2 Wissenschaftstheoretische Aspekte des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses 27
2.1 Forschungsthema 27
2.2 Theorie 29
2.2.1 Theorie und Forschungspraxis 29
2.2.2 Quellen der Theorie 32
2.2.3 Bestandteile der Theorie 36
2.2.4 Funktionen der Theorie 49
2.3 Deduktion 50
2.4 Hypothesen 53
2.4.1 Formen der Hypothese 53
2.4.2 Formulierung der Hypothese 55
2.4.3 Falsifikation und Verifikation von Hypothesen 56
2.5 Operationalisierung 61
2.5.1 Begriff der Operationalisierung 61
2.5.2 Operationalisierung von Begriffen 62
2.5.3 Operationalisierung von Hypothesen 68
2.5.4 Stichprobe und Statistik 73
2.5.5 Probeuntersuchung 75
2.6 Datenerhebung 77
2.7 Auswertung 79
2.8 Theoriebilanz 81
2.8.1 Aufstellung der Theoriebilanz 81
2.8.2 Ergebnis der Theoriebilanz 88
2.9 Induktion 91
2.10 Theorie II 92
2.10.1 Eigene Theorien 93
2.10.2 Fremde Theorien 93
3 Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik 95
4 Wissenschaftstheorie und Wissenschaftswirklichkeit 97
Literatur 99
2. | Wissenschaftstheoretische Aspekte des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesse |
Im engeren Sinne versteht man unter Forschung in den Sozialwissenschaften die Feldforschung (field research), also die Datenerhebung in der natürlichen Umgebung unserer Forschungsobjekte. Der Interviewer mit dem Fragebogen gilt in öffentlicher Meinung und Karikatur als Prototyp des Sozialforschers. Für die Feldforschung gelten die folgenden Ausführungen besonders, aber auch die Laborforschung folgt diesem Muster.
Daneben gibt es aber auch in der Sozialforschung die Schreibtischforschung (desk research), die ansonsten eher für die Geisteswissenschaften typische Forschungsform. In den Sozialwissenschaften werden in dieser Form beispielsweise vorhandene (statistische u. a.) Daten in neuer Weise ausgewertet. Für sie muss – sofern sie nicht kompilatorische, exegetische oder apologetische Arbeit ist – im Grunde dasselbe gelten, wenngleich die Zäsuren zwischen den einzelnen Phasen nicht so sichtbar sein werden.
Diese Phasen finden sich auf der »5. Umschlagseite«, der eingeklappten Hälfte des doppelten Umschlagdeckels. Dieses Schema ist eine Weiterentwicklung eines Schemas von Walter Wallace12 und stellt den zeitlichen Ablauf des typischen sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses dar. Am besten hält man dieses Schema während der weiteren Lektüre aufgeklappt, damit man ständig die Position der Argumentation vor Augen hat.
2.1 | Forschungsthema |
Bevor der eigentliche Forschungsprozess beginnen kann, benötigen wir das Forschungsthema. Das ist eine einzige Frage oder ein Komplex von Fragen über soziale Zusammenhänge, deren Klärung von der Wissenschaft erwartet wird. Das Forschungsthema ist damit in der Regel der Punkt, an dem sich Wirklichkeit und Wissenschaft erstmals berühren. An dieser Stelle gibt die Realität eine Initialzündung zur Weiterentwicklung der Wissenschaft, die dann stets in einem formal recht gleichartigen Prozess weiterläuft.
Damit gehört das Forschungsthema nur teilweise zum wissenschaftlichen Forschungsprozess. Mit seinem anderen Teil gehört es in die Lebensrealität, aus der heraus es in die Wissenschaft als Aufforderung gestellt wird. In unserem Schema wird es deshalb, im Gegensatz zu den durchgezogenen Linien der Phasen des Forschungsprozesses, gestrichelt gezeichnet. Wieso das Forschungsthema ein Bindeglied zwischen Wirklichkeit und Wissenschaft darstellt, wird deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, woher Forschungsthemen üblicherweise kommen.
Forschungsauftrag
In manchen Fällen gibt es einen Auftraggeber, der eine Forschungsfrage per Ausschreibung an alle denkbaren Auftragnehmer oder per Direktauftrag an einen bestimmten Auftragnehmer stellt. Bei Auftragserteilung übernimmt der Auftraggeber in der Regel die Kosten der Forschung. Solche Aufträge fordern häufig zur Kritik an der empirischen Sozialforschung heraus. Soweit es dabei um wissenschaftstheoretische Probleme geht, sind die Aufträge relativ unbedenklich, wenn sie nicht wesentlich mehr als die Forschungsfrage(n) enthalten. Sollten sie noch Vorgaben für die Ergebnisse enthalten, ist der Auftragnehmer aus der Liste der Wissenschaftler zu streichen, weil es ihm nicht um die Wahrheit geht, sondern in Wahrheit nur um Geld. Schwieriger ist die Frage von Veröffentlichungsvorbehalten.
Forscherneugier
In anderen Fällen macht der Forscher selbst eine Beobachtung oder erhält aus Lektüre und Diskussionen eine Anregung, auf Grund derer er eine Frage aus der Wirklichkeit nicht mit der wissenschaftlich erforderlichen Genauigkeit beantworten kann. Dann ist Forschung geboten. Solche Forschung verlangt fast ausnahmslos Projekte, die kein einzelner Forscher und selten ein Institut aus Eigenmitteln durchzuführen in der Lage ist. Es müssen also interessierte Geldgeber für eine Untersuchung gefunden werden.
Beide Quellen eines Forschungsthemas, Forschungsauftrag und Forscherneugier, haben gemeinsam, dass jemand etwas über die Wirklichkeit wissen möchte. Sofern es darüber noch keine gesicherten Forschungsergebnisse gibt, muss also Forschung in Gang gesetzt werden. Dabei sehen wir ein sowohl wissenschaftstheoretisches wie wissenschaftspolitisches Problem: Wie kann angesichts der Tatsache, dass sowohl Auftraggeber wie Forscher ihr Forschungsthema in der Regel auf Grund ihrer persönlichen Interessen und Wahrnehmungen der Wirklichkeit formulieren und damit die Wissenschaft betont in diesem Bereich weiterentwickeln, gewährleistet werden, dass nicht die Wissenschaft in bedenklicher Weise beeinflusst wird? Bedenklich wäre das deshalb, weil die Wissenschaft durch Setzung von Forschungsschwerpunkten die Wirklichkeit verzerren könnte, indem sie einige Gebiete überbetont und andere vernachlässigt. Dafür gibt es einerseits den Versuch, durch staatlich finanzierte Förderorganisationen in Eigenverwaltung der Wissenschaftler Forschung zu ermöglichen, die von den Außeninteressen von Auftraggebern unabhängig ist. Das würde eine eher wissenschaftssystematisch »ausgewogene« Forschung erleichtern. Andererseits müssen wir aber auch angesichts unserer sozialen Definition von Wissenschaft sagen, dass ein Teil von Wirklichkeitsverzerrung geradezu natürlich ist. Was wissenswert ist, kann nicht nur auf Grund objektiver Wissenschaftssystematik festgelegt werden, sondern zu einem erheblichen Teil auf Grund sozialer Bewertung, d. h. sozial gewichteter = selektiver Wahrnehmung und Beurteilung der Wirklichkeit. Schließlich hat auch die Wirklichkeit, sofern sie nicht nur beschrieben wird, keine »objektive« Struktur, sondern eine sozial interpretierte. Das erklärt dann auch, warum plötzlich Phänomene mit viel Einsatz und Arbeitskraft erforscht werden, um die sich Jahrzehnte lang kaum jemand gekümmert hat, während bisher intensiv beackerte Felder nun unbearbeitet liegen bleiben, obwohl sie noch längst nicht unfruchtbar sind.
2.2 | Theorie |
Am Anfang jeder empirischen Forschung steht stets die Theorie; ohne sie gibt es weder wissenschaftliche Forschung noch Wissenschaft.
2.2.1 | Theorie und Forschungspraxis |
Schon bei den Überlegungen zum Forschungsthema müsste der Gedanke nahe gelegen haben, dass die Theorie am Anfang jeder Forschungspraxis stehe. Wenn das Forschungsthema in der Regel eine Frage aus der Alltagswirklichkeit an die Wissenschaft ist, dann müsste entsprechend unserer Wissenschaftsdefinition die Wissenschaftsfabrik zuerst die Abteilung Theorie mit der Suche nach vorhandenem Erklärungswissen beauftragen, bevor sie nach einer Fehlanzeige der Theorieabteilung einen Produktionsauftrag für neues Wissen erteilt.
Mit diesem Hinweis auf zwei Phasen zu Beginn einer wissenschaftlichen Problemlösung haben wir übrigens einen vor allem bildungspolitisch bedeutsamen Unterschied zwischen zwei wissenschaftlichen Arbeitsweisen ins Blickfeld bekommen, nämlich den Unterschied zwischen forschungs- und anwendungsorientierter Wissenschaft. Abbildung 1 gibt einige Elemente dieser Unterscheidung wieder.
Dabei zeigt sich, dass man eine Wissenschaft nur dann anwendungsorientiert betreiben kann, wenn sie oder andere Bezugswissenschaften zuvor so forschungsorientiert betrieben wurden, dass genügend gesicherte Ergebnisse vorliegen, um sie ohne weitere Forschung anwendungsorientiert zur Gestaltung der Wirklichkeit verwenden zu können. Große Teile der Ingenieurwissenschaften lassen sich anwendungsorientiert betreiben, weil Physik und Chemie gesichertes Wissen bereitstellen. Anwendungsorientierte Sozialwissenschaften, etwa Unternehmensberatung, Klinische Psychologie und Erziehungsberatung, sind nur dann verantwortbar, wenn sie sich ebenfalls auf gesichertes Wissen aus validierten Theorien stützen können.
Abb. 1: Grundorientierung empirischer Wissenschaften
In diesem Buch geht es ausschließlich um die forschungsorientierte wissenschaftliche Arbeit. Sie ist diejenige wissenschaftliche Tätigkeit, auf die das Universitätsstudium zugeschnitten ist; anwendungsorientierte Wissenschaftsnutzung sollte auch nach einem Fachhochschulstudium möglich sein, in dem nicht unbedingt die Ausbildung zu selbstständiger Weiterentwicklung der Wissenschaft betrieben werden muss.
Die nun erkennbare enge Verknüpfung von Theorie und Empirie in der forschungsorientierten Sozialwissenschaft impliziert jedoch nicht, dass es sich stets um hochkarätige Probleme handelt. Selbst die profane Frage, unter welchem Stichwort im Register eines Buches, einer Zeitschrift oder eines Verzeichnisses von Forschungsprojekten man wohl nähere Information zum Inhalt oder Umfeld des eigenen Forschungsthemas finden könne, ist im Kern nichts anderes als die Frage nach dem theoretischen Zusammenhang des Forschungsthemas.
Trotzdem klingt die Behauptung, alle Forschung beginne mit Theorie, für viele Menschen überraschend. Aus manchem Vorverständnis von...