Engelmeier | Trost | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Engelmeier Trost

Vier Übungen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7518-0056-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Vier Übungen

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

ISBN: 978-3-7518-0056-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dass Lesen weit mehr ist als das sinnstiftende Erfassen von Buchstaben, zeigen die vier Übungen, die dieser Essay versammelt. Sie führen das Lesen zusammen mit dem Schreiben, dem Hören, dem Beten und dem Genießen: Der heute nur wenigen bekannte Franz Xaver Kappus regte Rilke durch seine Briefe zu einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Dichtens an, die bis heute Schreibende (und Lesende) inspiriert. Die Tonaufnahme von David Foster Wallaces Rede »This Is Water« und ein Hörspiel zu Walt Disneys Aristocats zeugen von einem Lesen, das Hören ist. Eileen Myles ?ndet als Kind ein Rollenmodell in der Lektüre eines Johanna-von-Orléans-Comics und Adorno gönnt sich neben Kritik auch mal Eiscreme. In dieser Engführung von Kritik und Enthusiasmus, Kanon und Pop, Alltag und Ästhetik, Persönlichem und Theoretischem o?enbart sich mit jedem weiteren Kapitel genau das, was der Titel verspricht: vier Übungen, die klug, voller Witz und doch mit Ernsthaftigkeit Text und Nebentext feiern und sich zu einer leisen,
aber unbedingten Leseempfehlung für schwere und nicht ganz so schwere Zeiten fügen.

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Ich hab gehört, nur eines sei möglich: Entweder du glaubst daran, dass man beim Lesen eines Textes eine Stimme hört, die Stimme der Autorin oder des Autors, die ebenso wie ein Gesicht dazu in der Lage ist, zurückzublicken, Gefühle auszudrücken oder zu verbergen.a Oder aber du glaubst das alles nicht und weißt, wie es zu diesem physiognomischen Irrglauben gekommen ist, und dann weißt du auch, dass er naiv ist:b So wie Kinder noch nicht genau unterscheiden können zwischen der aufgezeichneten Synchronstimme einer Figur in einem Zeichentrickfilm, der Figur selbst und dem Menschen, der der Figur ihre Stimme gibt. In dieser Phase ist alles ein und dasselbe. Glückliche Zeit, in der sprechende Katzen und singende Kerzenleuchter nur ein winziger Ausschnitt aus einer universalen Animation waren, in der jedes Ding sein eigenes Gesicht hat. Wo man sich auch hinwendet: Alle Welt singt dein Lied. Mit dem Verständnis von Medientechnik sinkt die Bezauberungswahrscheinlichkeit ab. Das hat auch Vorteile. In einem Video aus dem Jahr 2006 sieht man David Foster Wallace bei einer Lesung auf Capri, er trägt ein weißes Bandana mit schwarzem Muster, sein Markenzeichen. Das Bandana war für lange Zeit der Haupthinderungsgrund, mich überhaupt mit dem Autor zu beschäftigen. David Foster Wallace, das ist ›der mit dem Bandana‹, so hatte sich das Bild des Autors über seine Texte gelegt, deshalb konnte ich seine Stimme nicht hören und wollte seine Geschichten nicht lesen, und dass das keine sehr originelle Idiosynkrasie war, merkte ich viel später. Alle, die Wallace kennen, kennen dieses Bandana, und vermutlich sollte das auch so sein.c Erst nachdem D. T. Max in einem Essay im New Yorker kolportiert hatte, dass der Autor während seiner Schulzeit ein Handtuch in den Nacken zu legen pflegte, das ihn als Tennisspieler auswies, eigentlich aber dazu da war, den Angstschweiß des Depressiven aufzusaugen,1 hatte ich den Eindruck, möglicherweise sei doch etwas in seinen Texten zu finden, möglicherweise gäbe es doch einen Sicherheitsabstand zwischen ihm und den anderen Bandanaträgern, an die ich mich erinnern konnte; eigentlich war aber auch das nur einer, nämlich Axl Rose. Das Video, das ich meine, ist beispielsweise über die Suchanfrage »Conversazioni David Foster Wallace«2 zu finden, über die Suchanfrage »I’m a failure Wallace« gelangt man ins Nichts – und dass ich zuletzt dabei scheiterte, auf diese Weise ans Ziel zu gelangen, passt ja ganz gut. Wallaces Haar, beziehungsweise der Teil seines Haars, der nicht durch das Bandana stillgestellt ist, weht im Wind, er beginnt zu sprechen und seine Rede ist mit italienischen Untertiteln unterlegt, was dem Ganzen die Qualität einer Opernübertragung im Fernsehen gibt. Wallace spricht Englisch und beginnt mit der Selbsterniedrigung eines jeden berühmten Autors, der vor Publikum Auskunft über sein Werk oder überhaupt über die schriftstellerische Arbeit gibt, aber aus einer intellektuellen Spezialeitelkeit um jeden Preis Arroganz vermeiden möchte. Seine Sprechstimme ist angenehm. Ruhig plaudernd reißt sie nicht vor Aufregung nach oben aus, nur manchmal atmet er etwas heftig und presst Wörter raus, die er in dem dialektfreien Amerikanisch vorbringt, das mit Fulbright-Stipendien und Graduiertenseminaren in Verbindung zu bringen vor allem auf den Weg der Zuhörenden zum Autor verweist. Wenn ich Wallace höre, spricht jemand in einer Fremdsprache zu mir. Mein Englisch reicht dafür aus, aber es ist nicht meine Muttersprache, ich kann nicht hören, ob es doch einen Hauch dialektaler Einfärbung in seiner Stimme gibt, und falls ja, was diese verraten könnte. Wallace spricht in diesem Video also davon, ein Versager zu sein, und alle, die andere Muttersprachen als seine sprechen und schreiben, schnauben vor sich hin: Denn mindestens in Wallaces Englisch ist keinerlei Versagen festzustellen, es schnurrt ebenso vor sich hin wie seine Karriere, deren Verlauf ihn genau zu dieser Veranstaltung gebracht hat. Des einen Schnurren ist der anderen Versagen, das ist das Tauschgeschäft dieses Videos. Unter den Voraussetzungen des »Heute« meines Textes ist nicht leicht zu verstehen, worin die Selbsterniedrigung dieses Auftritts in seinen Augen besteht. Zu diesen Voraussetzungen gehört all das, was man über Wallace nun wissen kann, beispielsweise dass er zum Zeitpunkt der Videoaufnahme auf Capri bereits der Autor von einem Roman war, der alle anderen Romane, gewissermaßen also DENROMANANSICH übersteigern sollte (Unendlicher Spaß). Seinen Ruhm vergrößerten einfacher zu lesende Reportagen, Storys und Essays über populäre Themen von Porno-Convention bis Humor bei Franz Kafka, überhaupt vor allem Kurzstreckensachen.d Angereichert wird die Geschichte durch die Details seiner Biografie, die dem Label des Genies noch das Attribut der Qual hinzufügen. Jedenfalls spricht er als Erstes über seine eigene Provinzialität, und über den Bildschirm läuft in einer Type, die direkt aus einem frühen Videospiel zu stammen scheint, die italienische Übersetzung »non sono come gli altri scrittori che sono venuti qui, non viaggio molto« – er sei nicht wie die anderen Autorinnen und Autoren hier, er reise nicht so viel. Durch seine Unfähigkeit, zu erkennen, wo ein Wort in der Satzmelodie des Italienischen anfange und aufhöre, sei er, Wallace, wieder viel aufmerksamer für die Emotionen geworden, die durch die Sprache transportiert würden, wie ein Baby sei er darauf angewiesen, in Gesichtern zu lesen und darauf zu reagieren, was er aus diesen Gesichtern schlösse. Es gibt Gründe für Misstrauen. Wallace sagt »baby«, aber in der Videospieltype steht »bambino«, was eben kein Baby mehr ist. Eine Stimme gehört zu einem Gesicht, so die Idee, zumindest zu einem, das man sich vorstellen kann, was aber nicht heißt, dass man auch verstehen kann, was sie sagt, die Stimme, so schiebt Wallace hier unter. Er versage im Italienischen, aber er denke insgesamt eigentlich nicht über die Kategorie des Scheiterns oder Versagens nach. Nicht zu hören ist, ob er vom Moderator des Gesprächs, in dem er sich offenbar befindet, nach Becketts rund gelutschtem »fail better«-Diktum gefragt wurde, der schlimmsten aller Aufforderungen: danach, sich auch noch im Scheitern verbessern zu müssen, es wieder und wieder versuchen zu müssen, um was auch immer dann eben wieder nicht zu schaffen; warum darf man nie einfach aufgeben und schreiend rausrennen? Wahrscheinlich ist sogar das vorgesehen, Beckett kann nichts fürs Rund-gelutscht-Werden. Die Kamera zoomt kurz danach so zurück, dass man noch eine andere Gesprächspartnerin und den Moderator sehen kann, schon zuvor gibt es einen Schwenk ins Publikum, wohl auch um zu zeigen, dass sich unter den Zuhörenden Zadie Smith und Jonathan Franzen befinden.e Die Kamera stellt die Multiplikation schriftstellerischer Starpower bereit, aus der eine Gleichung zu ziehen nun für die Zuschauenden, auf deren Kenntnis dieser Starpower man allerdings setzen muss, ein Leichtes sein dürfte. Er denke nicht über das Scheitern nach, sagt Wallace. Mittlerweile ist der Sprecher für einige so etwas wie ein Heiliger, für andere ist er, und das gehört vielleicht dazu, wenn man für einige ein Heiliger ist, vor allem ein Ärgernis und als Ikone bloß das Symbol eines falschen Verständnisses von Literatur, für homosoziale und potenziell unterdrückerische Verehrungsgemeinschaften.3 Wie bei allen ernst zu nehmenden Heiligen ist es auch bei ihm so, dass man an ihn glauben muss, damit er etwas für einen bewirkt. Was das in seinem Fall sein könnte, steht nicht nur in gewichtigen Sammelbänden und Texten, sondern auch in einem Zentralorgan der Gläubigen, die »DFW« eine Zeitschrift gewidmet haben. Immerhin hat er den postmodernen Roman auf ein Niveau getragen, von dem er (der postmoderne Roman) sich nicht erholt und deshalb abwirtschaftet, er hat den New Journalism noch newer gemacht, er hat die Literatur nach Strich und Faden gefußnotet. Es gibt dementsprechende Sprachregelungen: Die anderen Genies, die seine Freunde sind, sprechen von ihm als »David«, oder in der nächsten Intimitätsstufe als »Dave«, siehe seinen Freund Jonathan Franzen, der mehr gesundheitliches Glück hatte als »Dave«. Wer leben kann, wird kein Heiliger, wer kein Heiliger ist, darf überleben. Meine Wallace-Lektüre wurde wie gesagt zunächst durch sein Bandana verhindert. Ich hatte dieses Bild erst ignorieren können, als mich die Nachricht von seinem Tod erreichte. Ich las, dass er sich erhängt hatte, und die Kollegin in der Redaktion, zu der ich unsicher sagte, dass David Foster Wallace sich ja nun umgebracht hätte – unsicher, weil ich nicht wusste, was die Nachricht denn eigentlich bedeutete –, antwortete: Ja, das ist schade. Ein paar Monate später berichtete mir ein anderer Kollege vom Suizid eines guten Freundes, in dem darauffolgenden Gespräch erzählte ich ihm vom Suizid durch Regionalexpress eines...


Engelmeier, Hanna
Hanna Engelmeier, geboren 1983 in Münster, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Sie promovierte mit einer Arbeit über die Geschichte der deutschen Anthropologie zur Zeit der frühen Darwin-Rezeption. Seit 2014 ist sie Autorin der Zeitschrift Merkur, wo seit Beginn diesen Jahres ihre Kolumne über »Körperliche Ertüchtigung« läuft.

Hanna Engelmeier, geboren 1983 in Münster, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Sie promovierte mit einer Arbeit über die Geschichte der deutschen Anthropologie zur Zeit der frühen Darwin-Rezeption. Seit 2014 ist sie Autorin der Zeitschrift Merkur , wo seit Beginn diesen Jahres ihre Kolumne über »Körperliche Ertüchtigung« läuft.



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