E-Book, Deutsch, 191 Seiten
Englert Haken schlagen: Ostfriesland-Krimi
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96152-167-8
Verlag: Schardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 191 Seiten
ISBN: 978-3-96152-167-8
Verlag: Schardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Stimmung von Hauptkommissar Jonte Janßen ist so trübe wie ein ostfriesischer Wintertag. Der brutale Mord an einer jungen Frau in Esens liegt schon einige Zeit zurück, doch der Fall lässt ihn nicht los. Vom Vorgesetzten als „dead case“ eingestuft, drehen sich seine Gedanken unaufhörlich darum – bis ein Geschäftsmann auf Durchreise erschlagen in der Tiefgarage seines Hotels aufgefunden wird und Jonte Janßen samt Team schleunigst Ermittlungserfolge vorweisen sollen. Weder die Polizeiinspektion noch die Stadt Aurich können sich weitere schlechte Publicity leisten. Als die wenigen Verdächtigen beginnen, Haken zu schlagen, nimmt sich Jonte Janßen vor, endlich aufzuräumen …
1948 in Brühl geboren, ist Oberstleutnant a. D. der Bundesluftwaffe. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Aurich. Bisher veröffentlichte er den Satireband 'Achten Sie auf Kokoschinski', den Roman 'Menschenskind, Mann!' und den Erzählband '... doch Agamemnon schwieg! ' Im Herbst 2012 erschien sein zweiter historischer Roman 'Die holländische Brille' im Leda-Verlag, 2013 'Friesisch Blau'. Nach der Vorlage von 'Friesische Freiheit' (2010) und 'Friesische Macht' (2015) vollendet Friesische Herrlichkeit die Ostfriesland Saga.
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1.
Er geht den Weg wie einer, der sich auskennt. Achtet nicht auf Stufen, nimmt Ecken und Türen blind wie jemand, der nicht läuft, sondern gezogen wird. Der Eingang zum Büro, der Schreibtisch, die Akten. Papierloses Büro? Lachhaft. Auf dem Regal an der Wand steht der verbotene Kaffeekocher, den man hier ebenso findet wie in jedem anderen Zimmer. Die Fenster sind geschlossen, aber es ist trotzdem kühl. Die Luft riecht abgestanden, muffig. Scheißmontagmorgen. Borussia Dortmund hat verloren, der frühe ostfriesische Herbst zeigt sich von seiner hässlichen Seite, nass und kalt, und auf dem Arbeitsplan steht der übliche Mist. Die tägliche Drecksarbeit. Betrug, eine Körperverletzung, zwei Beleidigungen, eine unappetitliche Sache, die sehr nach Erpressung riecht, zwei Diebstähle vom Ende letzter Woche. Wieder einmal ist ein lieber Opa auf den Enkeltrick hereingefallen, im Carolinenhof sind dänische Touristen beklaut worden, am Zentralen Busbahnhof haben sich Besoffene geprügelt.
An solchen Tagen fragt sich Hauptkommissar Jonte Janßen, Leiter im FK 1 der Polizeiinspektion Aurich, warum zum Teufel er Polizist geworden ist. Schollenbrecher wäre besser gewesen. Auch Geldeintreiber in einem Inkassobüro. Du könntest jetzt bei den Autoschraubern in Emden gemütlich in die Woche rutschen oder bei den Windleuten in Aurich ... aber nein, es musste ja der „bunte Rock“ sein, die Salbung durch ein öffentliches Amt. Also Polizeischule von der Pike auf. Danach hättest du sagen können, Moment, Leute, es ist gut. Streifendienst. Aber nein, der verdammte Ehrgeiz. Kriminalausbildung. Gehobene Laufbahn. Nun beklag dich nicht, du wolltest es so haben.
Jonte blickt sich finster im Büro um und denkt: Hier könnte auch mal einer aufräumen. Der Stapel mit Akten und Vorgängen türmt sich unordentlich, man könnte glauben, die hat jemand wirklich lieblos zusammengeworfen. Und mitten auf dem Schreibtisch der Fall Dorfmann. Den hat er selbst dorthin gelegt, am Freitagabend, als er die Nase gestrichen voll hatte und nach Hause gegangen ist. Der Fall Dorfmann ist einer der toten Fälle, ein , so leblos wie ein trockener Baumstumpf, das hat ihm jedenfalls der Alte gesagt.
„Bleiben Sie mir vom Hals mit dem Kram“, hat Kriminaloberrat Hesselbarth geknurrt, „sehen Sie lieber zu, dass Sie den laufenden Mist regeln.“
Jonte sieht den Fall anders. Er steckt ihm im Kopf, er wird ihn nicht los. Es quält ihn, dass die Sau noch frei herumläuft. Immer wieder holt er den Ordner vom Regal, zwischendurch, wenn mal Luft ist, oft auch, wenn keine Luft ist.
Er nimmt den Vorgang Dorfmann und schiebt ihn zur Seite, wie einer, der sich abgestoßen fühlt. Dann zieht er ihn wieder zu sich heran. Er will mit dem Alten darüber reden. Muss. Heute. An diesem Scheißmontagmorgen. Wieder einmal. Obwohl er die Antworten schon kennt. Ohne Kaffee geht das auf keinen Fall. Er füllt den Kocher. Von nebenan kommt das Gezwitscher der Mädels aus dem Sekretariat.
Elfriede schiebt ihren weißblonden Kopf um die Ecke.
„Keine Morgenandacht heute. Hesselbarth ist im Haus“, sagt sie.
Morgenandacht, das ist die Lagebesprechung der Fachkommissariate. Montags trifft sich gewöhnlich die große Runde mit dem Leiter der Polizeiinspektion. Heute also nichts von alledem, das ist die gute Nachricht. Hesselbarth ist schon da, das ist die weniger gute.
„Im Altertum wurden Überbringer schlechter Nachrichten enthauptet!“, knurrt Jonte. Sie grinst und schließt die Tür. Er zieht die Schultern hoch und spannt die Bauchmuskeln an wie einer, der einen Schlag in den Magen erwartet. Die Akte Dorfmann. Sie ekelt ihn an. Vorsichtig ausgedrückt. Sie stößt ihn ab und lässt ihn doch nicht los. Es ist die Tat, die dahintersteckt. Jonte öffnet den Ordner und beginnt zu lesen. Eigentlich unnötig, denn er kennt jedes Wort. Dieser Fall macht ihm das Leben sauer. Zu viele offene Fragen, zu viele lose Enden, Hindernisse und Rätsel, wohin man sich auch wendet, eine ewige Baustelle. Widerlich. Zum Kotzen. Aber dann, wenn er daran denkt, packt ihn die Wut. Und dann kommt die Gier, der Drang nach Erfolg. Erfolg? Nein. Genugtuung. Er will den Täter fassen und bestraft sehen. Auch des Opfers wegen.
Er ist mit Schwung eingestiegen, als Leiter der Sonderkommission, die bald zu einer normalen Ermittlungsgruppe zusammengeschmolzen ist, die er ebenfalls geführt hat. Aber rasch wurde klar, es geht nicht vorwärts damit. Die Spurenakte ist so dünn wie das Punktekonto von Werder Bremen. Die Kollegen am Tatort haben schon merkwürdig geguckt, irgendwie mitleidig, als wollten sie sagen, ihr armen Schweine, dann macht mal schön. Viel Glück und Gott befohlen. Es dauerte auch nicht lange, und der Fall lief sich fest. Keine Spuren. Das war zu erwarten; der Tatort war flächig abgespritzt, zuerst mit einem Pulverlöscher, dann mit einem Schaumlöscher, das hatte bereits die Tatortgruppe festgestellt. Dabei hat der Täter offenbar sogar kaltblütig gewartet, das Pulver wirken lassen, ehe er den Schaum ausbrachte. Das Pulver hat alle Feuchte aufgesaugt und jedes bisschen Fett gebunden. Der Schaum hat das Pulver zu einem schmierigen Brei verklebt. Alles Verwertbare an Täterhinweisen ist verloren gegangen, so sieht es jedenfalls aus. Kein Haar, keine Hautschuppe, kein Blut außer dem des Opfers, keine Fingerabdrücke des Mörders, wenn es sie denn überhaupt gegeben hat.
Wahrscheinlich bin ich inzwischen zu vernagelt, blind, sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das hat er auch dem Alten gesagt. Der hat ihn angesehen wie ein Professor einen Sonderschüler und dann den Kopf geschüttelt. „Zu vernagelt und blind fällt mir allerdings das eine oder andere ein, Janßen“, hat er spröde bemerkt und sich rüde weggedreht. „Nun lassen Sie mal die Hände davon. Es gibt eine alte Indianerweisheit; wenn dein Pferd tot ist, steig ab!“
Kriminaloberrat Hesselbarth. Ein Sprücheklopfer aus dem Emsland. Auch nicht gerade eine Erleichterung der Arbeit. „Ich reite nicht und bin auch kein Indianer“, hat Jonte dem Alten nachgerufen, aber da war der schon durch die Tür.
Jonte seufzt und blättert. Der Fall Dorfmann. Über gelöste Fälle schlägt Janßen, auch wenn sie hässlich waren, ein gnädiges Kreuz, eine Geste der Versöhnlichkeit: Du hast mich zwar angekotzt, aber nun, Schwamm drüber und endgültig aus meinen Augen. Hier ist es anders. Die Sache Dorfmann ist besonders abstoßend, besonders widerwärtig, besonders erschütternd. Das hat Jonte sofort empfunden, bei der ersten Begehung des Tatorts. Die Spurensicherung war noch bei der Arbeit.
Er erinnert sich: Eine Frau wurde ermordet, aber das reichte dem Täter nicht. Sie wurde bestialisch geschlachtet, doch das schien ihm nicht zu genügen. Sie hing mit dem Mund in einem Garderobenhaken, bei dem der Holzstopfen eigens entfernt worden war. Der Haken war mit großer Brutalität durch den Gaumen in den Schädel hineingetrieben worden und trat am Tränenbein wieder aus. Der Täter war folglich nicht nur ein Sadist, er musste über erhebliche Kraft verfügt haben. Und er war ruhig zu Werk gegangen, hatte sich bei allem Zeit gelassen, ein bestialischer Zyniker. Die Tote war klein und zierlich. Trotzdem hatte der Haken ihr Gewicht nicht lange getragen. Als man sie fand, lag sie auf dem Boden, das Garderobenbrett bedeckte ihr Gesicht, sodass man diese grausame Verletzung nicht sofort sah. Der Anblick reichte trotzdem, der Fotograf vom Erkennungsdienst wurde augenblicklich grün im Gesicht. Und das sind harte Jungens, denen kannst du ins Bier spucken, sie trinken es, ohne zu zucken.
Am Tatort der beschriebene schmierige Dreck, Blut und Schweiß des Opfers, das Opfer selbst, die üblichen Hinterlassenschaften einer bösen Tat. Aber keine Spuren des Täters, keine DNS-Nachweise. Dabei war der Mann weder von geisterhafter Körperlosigkeit gewesen, noch hatte ihn ein Vakuum umschlossen. Er hatte sich mit Sorgfalt bekleidet und war vorsichtig gewesen. Die weiteren Fakten waren gleichfalls dünn und halfen nicht weiter. Das Opfer, eine junge Frau aus Wangerland, unbescholten und ehrbar. Sie arbeitete in einem Supermarkt und lebte allein. Die Befragung ihrer Familie im Ruhrgebiet erbrachte kein brauchbares Indiz, keinen verwertbaren Hinweis. Die Nachbarn ebenso unergiebig. Niemand konnte sagen, wann sie mit welchem Ziel, begleitet oder allein, ihre kleine Wohnung zum letzten Mal verlassen hatte.
Der Tatort, ein für den Winter abgestelltes Wohnmobil in einer Scheune bei Esens, warf unzählige Fragen auf. Der Besitzer der Scheune war ein Bauer vom Stadtrand, nun Rentner, der auf seinem alten Hof lebte. Er war bei seiner ersten Vernehmung derart entsetzt, dass er sich nicht zusammenhängend äußern konnte. Es war sein Wohnmobil. Er fand auch die Frau. Wie sie dort hinkam, konnte er nicht erklären. Zeugen gab es keine, alle Ermittlungen liefen ins Leere. Die Tür des Wohnmobils sauber geöffnet, keine Spuren eines Kampfes am Tatort. Natürlich deutete zunächst alles auf den ehemaligen Bauern als Täter, auch auf seine Frau, weil man von beiden DNS-Spuren fand, nicht bei der Leiche und in ihrer Nähe, aber...




