Engström Heimliche Sehnsucht
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86278-969-6
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mittsommergeheimnis
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: MIRA Taschenbuch
ISBN: 978-3-86278-969-6
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Mittsommernacht ist nicht mehr fern, als Linnea ins schwedische Dalarna fährt - zu ihrem Mann Kristian. Sie will ihn um die Scheidung bitten. Doch jedem Ende wohnt der Zauber eines Anfangs inne, und die Mittsommerliebe folgt ihren eigenen Gesetzen.
Pia Engström liebt das wunderbare Schweden über alles - das ist wohl auch der Grund, warum sie den Handlungsort für ihre Geschichten hier ansiedelt. Dennoch packt ihren Mann und sie ab und an das Fernweh, und sie haben schon Reisen in einige entlegene Winkel der Erde unternommen. Die Liebe zur ländlichen Umgebung hat sie jedoch nie vergessen, und so verbringt sie möglichst viel Zeit in der freien Natur. Schon als kleines Mädchen wusste sie, was sie später einmal werden wollte: Prinzessin oder Schriftstellerin. Da der erste Wunsch sich nur schwerlich realisieren ließ, hat sie umso härter daran gearbeitet, sich zumindest den zweiten zu erfüllen - inzwischen mit beachtlichem Erfolg.
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1. KAPITEL
Der Tag stand von Anfang an unter einem schlechten Stern.
Mit vollem Tempo preschte der Geländewagen den unbefestigten Weg entlang, vorbei an weiten grünen Wiesen, saftigen Rapsfeldern und dem Fluss Lillälv, der sich wie ein silbernes Band durch ganz Dvägersdal zog, einem kleinen Örtchen in der mittelschwedischen Provinz Dalarna. Die Sonne strahlte am beinahe wolkenlosen Himmel, und der Wind, der von den Bergen her kam, sorgte dafür, dass es trotzdem nicht zu warm wurde.
Kristian Västarsand liebte die schwedische Landschaft über alles, vor allem jetzt im Frühling, wenn nach einem scheinbar endlosen, eisigen Winter die ersten Blumen und Obstbäume blühten und die Tage endlich länger wurden.
Doch an diesem Vormittag nahm er das alles nicht einmal am Rande wahr.
schrie er aufgebracht in die Freisprechanlage seines Handys. “Sag ihrem Manager, dass ich dafür keineswegs Verständnis habe. Wir hatten eine Vereinbarung! Wo sollen wir denn jetzt so schnell Ersatz herbekommen?”
Wütend beendete er das Gespräch und brachte den Wagen so heftig zum Stehen, dass die Bremsen quietschten und der Staub unter den Rädern aufwirbelte. Dann stellte er den Motor ab und fuhr sich mit der Hand durch sein welliges dunkelbraunes Haar.
Heute war eindeutig nicht sein Tag. Schon beim Aufstehen hatte er gespürt, dass es Probleme geben würde. Prompt war dann auch so ziemlich alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte: Erst gab es Schwierigkeiten mit einer eigentlich schon fest zugesagten Baugenehmigung, dann hatte sein Wagen nach einer Ortsbesichtigung in Rättvik einen Platten gehabt – und jetzt kam, auf dem Weg zurück nach Hause, auch noch die Absage von Svenja Normansson.
Kristian seufzte. Vor knapp fünfeinhalb Jahren hatte er gegründet – eine Agentur, die “Urlaub in der heimischen Wildnis” anbot. Das Projekt war aus der Not heraus entstanden. Weil sein Leben zu diesem Zeitpunkt in Trümmern lag und er nicht mehr so weitermachen wollte wie bisher.
Und um jemandem zu beweisen, dass er mehr war als ein idealistischer Träumer.
Linnea.
Wut packte ihn, wie immer, wenn er an sie dachte. Im Grunde trug sie auch die Schuld daran, dass nun schon seit Wochen nichts mehr richtig rund lief bei ihm. Seit dem Tag, an dem er diesen unsäglichen Brief erhalten hatte.
Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten. Fast sechs Jahre lang hatte er nichts von ihr gehört, und dann plötzlich brachte sie sich wieder in Erinnerung. Jedoch nicht, um sich zu entschuldigen, o nein! Auf so einen Gedanken kam eine Frau wie Linnea überhaupt nicht. Es ging ihr nur um …
Er schüttelte den Kopf. Es wäre falsch, sich weiter damit zu belasten. Er hatte angemessen auf das Schreiben reagiert, und jetzt gab es Wichtigeres in seinem Leben, um das er sich kümmern musste.
Als er damals gründete, hatte er nicht zu hoffen gewagt, einmal so großen Erfolg mit der Agentur zu haben. Doch schnell zeichnete sich ab, dass er eine Marktlücke entdeckt hatte, und heute nahmen sein Angebot nicht nur immer mehr abenteuerlustige Skandinavier in Anspruch, es kamen auch regelmäßig Buchungen aus dem europäischen Ausland.
Und genau aus diesem Grund hatte er sich nun zu einer umfangreichen und kostspieligen Werbemaßnahme entschlossen: Um seine Agentur in ganz Europa bekannt zu machen, hatte er ein erfolgreiches schwedisches Model engagiert, sich beim “Urlaub in der heimischen Wildnis” von einem Fotografen begleiten zu lassen. Svenja Normansson sollte potenziellen Gästen auf anschauliche Weise näher bringen, wie durch organisierte Ferien abliefen und welche Vorteile sie boten. Anschließend würden entsprechende Erlebnisberichte mit zahlreichen Fotos in vielen europäischen Zeitschriften und Urlaubskatalogen erscheinen.
So weit der Plan – doch leider entwickelte die Realität sich vollkommen anders als erwartet. Womit er wieder beim eigentlichen Thema war.
Kristian unterdrückte einen Fluch. Die Kampagne stand kurz vor dem Beginn, alle Vorbereitungen waren getroffen – entsprechend groß war der Schock gewesen, als sein Mitarbeiter Lasse ihm soeben telefonisch die Hiobsbotschaft überbracht hatte, dass Svenja Normansson sich aufgrund eines überraschenden Engagements in den USA nicht imstande sah, ihren Verpflichtungen nachzukommen.
Sie ließ einfach ihren Vertrag platzen!
Kristian kochte vor Wut. Keine Frage, dass dieses Verhalten Konsequenzen für das Model nach sich ziehen würde. Der Vertrag, den er mit ihr geschlossen hatte, sah für einen solchen Fall eindeutig entsprechende Konventionalstrafen vor.
Doch das brachte ihn im Moment auch nicht weiter. Viel wichtiger war jetzt die Frage, wie er auf die Schnelle einen angemessenen Ersatz finden sollte. Immerhin fand das erste Shooting schon morgen statt!
Er griff zum Zündschlüssel, um den Motor wieder anzulassen, hielt dann aber inne, als sein Blick nach Osten fiel. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wo er während des Telefonats mit Lasse angehalten hatte: ganz in der Nähe von Linneas Elternhaus.
Es lag am Fuße des Hangs, auf dem die Straße nach Dvägersdal entlangführte, am Rande eines Birkenwäldchens. Nur ein einziger schmaler Weg führte hinunter zu dem in rotbraunem Falun getünchten Holzhaus. Und gerade als Kristian den Blick wieder abwenden wollte, sah er einen ihm unbekannten Kombi auf das Haus zufahren.
Er wusste selbst nicht, warum er sich überhaupt dafür interessierte, aber unwillkürlich fragte er sich, um wen es sich bei dem Ankömmling handeln könnte. Stina Eklund besaß kein Auto und lebte seit dem Weggang ihrer Tochter und dem Tod ihres zweiten Mannes sehr zurückgezogen. Nur die geistig leicht zurückgebliebene Malin kam zwei Mal die Woche, um ihr bei den Hausarbeiten zur Hand zu gehen und sich um den Garten zu kümmern.
Jetzt ging die Tür des Wagens auf, und eine Frau stieg aus.
Kristian kniff die Augen zusammen. Nein, das konnte nicht sein. Das war doch …
Hastig griff er zu seinem Fernglas, das auf dem Beifahrersitz lag und das er aus beruflichen Gründen immer dabeihatte. Er hielt es an die Augen und sah die Besucherin jetzt in voller Größe, jedoch nur von hinten, da sie ihm den Rücken zukehrte. Sie war nicht sehr groß und ausgesprochen zierlich, und ihr haselnussbraunes Haar reichte ihr bis zu den Schultern.
Fast wie … Kristian schüttelte den Kopf. Kein Zweifel, zumindest von hinten sah sie Linnea zum Verwechseln ähnlich.
Aber das konnte nicht sein! Sie würde es doch nicht wagen, persönlich …
Er nahm das Fernglas herunter und schloss für einen Moment die Augen. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Plötzlich sah er sich, wie er als junger Bursche abends heimlich Steinchen an Linneas Fenster warf. Oder als er sie zum ersten Mal küsste. Auch ihre erste gemeinsame Nacht kam ihm unweigerlich in den Sinn. Damals war er …
Er hielt inne. Das waren die guten Erinnerungen. Doch leider gab es noch mehr schlechte. Wie hatte er nur jemals so dumm sein können, auf Linnea hereinzufallen?
Wütend öffnete er die Augen wieder. Da bemerkte er, dass Linneas Doppelgängerin sich langsam umdrehte.
Sofort hielt er das Fernglas wieder an seine Augen und betrachtete das Gesicht der Frau näher. Sah die großen graublauen Augen, die von dichten dunklen Wimpern beschattet wurden. Die fein geschnittenen Züge. Die kleinen Grübchen, die sich auf ihren Wangen abzeichneten, wenn sie lächelte oder emotional angespannt war.
Überrascht schnappte er nach Luft, als ihm mit einem Schlag klar wurde, dass er es keineswegs mit einer Person zu tun hatte, die Linnea einfach nur ähnelte.
Nein, dort unten stand sie selbst: Linnea – seine Ehefrau.
Das Haus meiner Kindheit, dachte Linnea und atmete tief durch.
Sie stand neben ihrem Mietwagen, mit dem sie am Morgen nach einem langen Flug aus London und einer Nacht im einzigen Hotel zwischen Mora und Dvägersdal aus losgefahren war. Mit einer Hand schirmte sie nun die Augen ab, während sie sich einmal um die eigene Achse drehte. Was sie sah, ließ melancholische Gefühle in ihr aufsteigen.
An diesem Ort war sie aufgewachsen, am Fuße der Berge, deren schroffe Gipfel geradewegs bis in den Himmel zu reichen schienen. Ringsum erstreckten sich tiefgrüne Wälder, nur durchbrochen von einer düster wirkenden Felsformation aus schwarzgrauem Granit, die wie ein mahnender Finger in die Höhe ragte.
– der Trollfelsen.
Viele Legenden rankten sich um diesen Ort. So sollten Trolle kleine Kinder entführen und sie zu sich in den Berg hineinziehen, um sie nie wieder in die Freiheit zu entlassen. Linnea wusste, dass es so etwas nicht geben konnte. Aber daran, dass irgendetwas mit diesem Berg nicht stimmte, zweifelte sie auch nicht. Nicht seit …
Sie atmete tief durch und zwang sich, den Blick abzuwenden. Der Trollfelsen erinnerte sie an Dinge, über die sie besser nicht nachdenken sollte. Stattdessen betrachtete sie nun den Vorgarten ihrer Mutter, der in der rauen Natur, von der er umgeben war, wie ein kleines Paradies wirkte. Hier gediehen bunte Frühlingsblumen in allen Farben des Regenbogens. Leuchtend gelbe Narzissen wetteiferten mit violettem Rittersporn und purpurnem Eisenhut, und auch die Apfelbäume standen in voller Blüte.
Im Schatten einer knorrigen Eiche stand eine Bank, die Linneas Vater einst aus den Überresten eines vom Blitz getroffenen Baumes gezimmert hatte. Wie oft hatte er an lauen Sommerabenden so dort gesessen: Seine alte Meerschaumpfeife im Mundwinkel, in der einen Hand ein Schnitzmesser, in der anderen einen Scheit Holz, aus dem er in stundenlanger...




