Enright Das Familientreffen
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-641-02526-7
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-641-02526-7
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Gewinnerin des Booker-Preises 2007!
Der Hegarty-Clan versammelt sich in Dublin, um Liam, das schwarze Schaf der Familie, zu Grabe zu tragen - doch schnell gerät der Anlass zur Nebensache. Nur Veronica wagt es, nach den Umständen zu fragen, die ihren Bruder in den Tod getrieben haben mögen. Ein beeindruckend intensiver Roman über die Frage nach Schuld und Verantwortung, nach der Liebe und ihren Folgen.Als Kinder haben sie sich stets alle Geheimnisse anvertraut, und auch als Erwachsene sind Veronica und ihr Bruder Liam noch immer aufs Engste miteinander verbunden. Doch dann stürzt Liam sich mit Steinen in den Hosentaschen ins Meer, und Veronica bleibt allein zurück mit der Frage nach dem Warum. Während sie im Dubliner Elternhaus die Beerdigung vorbereitet, überwältigen sie die Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihre Großmutter, die aus Vernunftgründen auf die Liebe ihres Lebens verzichtete, an ihre Mutter, die sich nach den vielen Geburten und Fehlgeburten nicht einmal die Namen all ihrer Kinder merken konnte. Und an jenen Tag, an dem ihrem Bruder Liam, gerade neun Jahre alt, etwas angetan wurde, vor dem sie ihn hätte beschützen müssen.Ein bewegender Roman, dessen sprachliche Finesse und eindrucksvolle Bildlichkeit einen bisher ungekannten Blick auf das verletzliche Wesen der menschlichen Seele zu werfen vermag.
Anne Enright, 1962 in Dublin geboren, zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde 2015 zur ersten Laureate for Irish Fiction ernannt. »Das Familientreffen« (2007) wurde unter anderem mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet, ist in gut dreißig Sprachen übersetzt und weltweit ein Bestseller. Für »Anatomie einer Affäre« (2011) erhielt sie die Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction, für »Rosaleens Fest« (2015) den Irish Novel of the Year Prize. »Vogelkind«, ihr achter Roman, stand auf der Shortlist des Women's Prize for Fiction und errang den Writers' Prize for Fiction 2024.
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2 Es gibt Tage, an denen ich mich an meine Mutter nicht erinnern kann. Ich betrachte ihr Foto, und sie entgleitet mir. Oder ich besuche sie an einem Sonntag, nach dem Mittagessen, wir verbringen einen angenehmen Nachmittag, und wenn ich gehe, wird mir bewusst, dass sie wie Wasser durch mich hindurchgeflossen ist. »Auf Wiedersehen«, sagt sie und verblasst bereits. »Auf Wiedersehen, mein Mädchen«, und sie hebt mir ihr weiches altes Gesicht zum Kuss entgegen. Das bringt mich heute noch in Rage. Die Art, wie sie sich verflüchtigt, sobald ich mich umdrehe, und wenn ich wieder hinschaue, sehe ich nur noch einen Schemen. Ich glaube, sollte sie sich jemals einen anderen Mantel kaufen, würde ich auf der Straße an ihr vorübergehen. Würde meine Mutter ein Verbrechen verüben, gäbe es keine Zeugen – sie würde gar nicht wahrgenommen werden. »Wo ist mein Portemonnaie?«, fragte sie immer, als wir noch Kinder waren – es mochten auch ihre Schlüssel sein oder ihre Brille. »Hat jemand mein Portemonnaie gesehen?« Und wenn sie dann von der Diele ins Wohnzimmer, in die Küche und wieder zurück lief, war sie für jene wenigen Sekunden beinahe greifbar. Schon damals blickten wir überallhin, nur nicht zu ihr: Sie war die Unruhe in uns, eine Art kollektiver Schuld, wenn wir uns im Raum umschauten, wohl wissend, dass unsere Augen über das dicke braune Portemonnaie hinweghuschen würden, selbst wenn es ganz deutlich zu sehen war. Dann fand Bea es. Immer ist ein Kind da, das nicht nur sehen, sondern auch wahrnehmen kann. Das stille Kind. »Danke, Schatz.« Um gerecht zu sein, meine Mutter ist eine so konturlose Person, dass sie sich möglicherweise nicht einmal selbst wahrnimmt. Möglicherweise fährt sie mit der Fingerspitze über eine Reihe Mädchen auf einem alten Foto und kann sich und die anderen nicht auseinanderhalten. Und von allen ihren Kindern bin ich diejenige, die am stärksten ihrer eigenen Mutter ähnelt, meiner Großmutter Ada. Das muss verwirrend sein.
»Ach, hallo«, sagte sie, als sie mir die Haustür öffnete. Das war an dem Tag, an dem ich von der Sache mit Liam erfahren hatte. »Hallo, Schatz.« Dasselbe hätte sie auch zur Katze sagen können. »Komm rein. Komm rein.« Aber sie bleibt im Eingang stehen und tritt nicht beiseite, um mich einzulassen. Natürlich weiß sie, wer ich bin, nur mein Name ist ihr entfallen. Während sie gedanklich einen Namen nach dem andern abhakt, huschen ihre Augen hin und her. »Hallo, Mammy«, sage ich, um ihr einen Hinweis zu geben. Und schiebe mich an ihr vorbei in die Diele. Das Haus kennt mich. Immer ist es kleiner, als es sein sollte; die Wände stehen enger beisammen und in einem schärferen Winkel zueinander, als man sie in Erinnerung hat. Das Haus ist immer zu klein. Hinter mir öffnet meine Mutter die Tür zum Wohnzimmer. »Magst du etwas? Eine Tasse Tee?« Aber ich will nicht ins Wohnzimmer gehen. Ich bin kein Gast. Dies ist auch mein Haus. Ich war in ihm, als es wuchs, als das Esszimmer mit der Küche zusammengelegt wurde, als die Küche den hinteren Garten verschluckte. Es ist der Ort, der noch immer die Kulisse für meine Träume bildet. Nicht, dass ich jemals wieder hier leben werde. In diesem Haus, das nur aus Anbauten besteht. Selbst das Kabuff neben der Küchentür hat hinten noch eine Tür, sodass man sich, um zum Klo zu gelangen, einen Weg vorbei an Mänteln und dem Staubsauger bahnen muss. Verkaufen ließe sich das Haus nicht, denke ich manchmal, höchstens als Baugrundstück. Alles einebnen und wieder von vorn beginnen. Die Küche riecht noch genauso wie früher – der Geruch, ganz schwach und vom frischen primelgelben Anstrich überdeckt, trifft mich trotzdem in seiner ganzen Widerlichkeit an der Schädelbasis. Schränke voll alter Laken; ein verkochter und staubiger Mief vom Isoliermantel des Heißwasserboilers; der Sessel, in dem mein Vater immer saß, die Armlehnen glänzend und kalt von vielen Jahren vergeudeter Lebenszeit. Ich muss würgen. Dann rieche ich ihn nicht mehr. Er ist einfach da, unser Geruch. Ich gehe zur hinteren Küchentheke und hebe den Wasserkocher hoch, aber als ich ihn füllen will, verfängt sich mein Ärmelaufschlag am Wasserhahn, und der Ärmel füllt sich mit Wasser. Ich schüttle erst die Hand, dann den Arm, und als der Kessel gefüllt und eingesteckt ist, ziehe ich meinen Mantel aus, stülpe den nassen Ärmel nach außen und schwenke ihn heftig hin und her. Meine Mutter betrachtet die seltsame Szene, die sie an etwas zu erinnern scheint. Dann tritt sie zur nächsten Arbeitsfläche, wo auf einer Untertasse ihre Tabletten versammelt sind. Geistesabwesend legt sie sich eine nach der anderen auf die schlaffe Zunge. Sie hebt das Kinn und schluckt sie trocken hinunter, während ich mir mit der Hand den nassen Arm abreibe und mir anschließend mit der feuchten Hand durchs Haar streiche. Eine letzte grüne Kapsel verschwindet in ihrem Mund, und sie erstarrt, macht eine angestrengte Schluckbewegung. Einen Moment lang schaut sie aus dem Fenster. Dann dreht sie sich achtlos zu mir um. »Wie geht’s dir, Schatz?« »Veronica!«, möchte ich sie anschreien. »Du hast mir den Namen Veronica gegeben!« Wenn sie doch nur nicht so unsichtbar wäre, denke ich. Dann könnte ich sie einfangen und ihr die Wahrheit ins Gesicht schreien, ihr die Schwere dessen, was sie getan hat, ins Bewusstsein rufen. Aber sie bleibt nebelhaft, ungreifbar, zu sehr geliebt. Ich bin gekommen, um ihr zu sagen, dass man Liam gefunden hat. »Geht’s dir gut?« »Ach Mammy.« Zum letzten Mal geweint habe ich in dieser Küche, als ich siebzehn Jahre alt war, eigentlich zu alt zum Weinen, wenn vielleicht auch nicht in unserer Familie, in der jeder in jedem Alter zu sein scheint, alle immer zugleich. Mit meinem nassen Unterarm wische ich über den Tisch aus Kiefernholz mit seinem harten Plastikglanz. Ich wende ihr mein Gesicht zu und setze eine passende Miene auf, um die rituellen Worte zu sprechen (wie ich merke, mit einer gewissen Schadenfreude), doch plötzlich ruft sie: »Veronica!«, und geht – rennt fast – zum Kessel. Während die Wasserblasen immer heftiger gegen das Chrom anbrodeln, legt sie die Hand auf den Bakelitgriff, hebt den noch immer eingesteckten Kocher hoch und schüttet etwas Wasser in die Kanne, um sie vorzuwärmen. Er hat sie nicht einmal gemocht. Drüben bei der Tür ist eine Scharte in der Wand. Die war entstanden, als Liam ein Messer nach unserer Mutter warf, und alle haben gelacht und gejohlt. Eine unter vielen anonymen Dellen und Kerben. Berühmt. Das Mal, das Liam hinterließ, weil meine Mutter sich duckte, bevor alle anderen losbrüllten. Was hatte sie wohl zu ihm gesagt? Womit könnte sie ihn provoziert haben – diese liebenswerte Frau? Und dann schleifte Ernest oder Mossie, einer der beiden Ordnungshüter, ihn zur Hintertür hinaus auf den Rasen, um ihn zu verprügeln. Auch darüber haben wir gelacht. Und selbst mein Bruder Liam, der keine Chance hatte, lachte: Der Messerwerfer, jetzt wurde er verprügelt, und er lachte und fasste nach dem Fußgelenk seines älteren Bruders, um ihn zu Fall zu bringen. Ich auch – ich erinnere mich, ich lachte ebenfalls. Bei unserem Anblick gluckste meine Mutter und kümmerte sich dann wieder um ihre eigenen Angelegenheiten. Meine Schwester Midge hob das Messer auf, hielt es aus dem Fenster und schwenkte es vor den miteinander raufenden Jungen, bevor sie es in das Waschbecken voll Schmutzgeschirr warf. Wenn wir auch sonst nichts hatten, Spaß hatte unsere Familie allemal. Meine Mutter setzt den Deckel auf die Teekanne und sieht mich an. Ich zittere haltlos von der Hüfte bis zu den Knien. In meinen Eingeweiden breitet sich eine furchtbare Hitze aus, mein Körper erschlafft, ich möchte nur noch die Fäuste zwischen den Schenkeln vergraben. Eine Empfindung, die mich verstört – irgendetwas zwischen Durchfall und Sex -, diese Trauer, die fast schon etwas Geschlechtliches hat. Es muss wegen irgendeines Exfreundes gewesen sein, als ich das letzte Mal hier geweint habe. Gewöhnliche Tränen, Familientränen, bedeuteten in dieser Küche nichts, sie waren einfach Teil des ewig herrschenden Lärms. Es zählte nur eines: Er hat angerufen oder Er hat nicht angerufen. Irgendeine Katastrophe. Etwas, das einen nach fünf Flaschen Cider dazu brachte, mit den Fingernägeln an den Wänden entlangzukratzen. Er hat mich verlassen. Sich zusammenzukrümmen, die Arme um den Unterleib zu schlingen, zu heulen und zu würgen. Er ist nicht mal gekommen, um seinen Schal abzuholen. Der Junge mit den türkisfarbenen Augen. Und dabei sind wir – so vermute ich – großartige Liebhaber, wir Hegartys. Tiefe Blicke, drauflosvögeln und nie wieder loslassen. Bis auf diejenigen, die überhaupt nicht lieben konnten. Wie, in gewisser Weise, die meisten von uns. Die meisten von uns. »Es ist wegen Liam«, sage ich. »Liam?«, sagt sie. »Liam?« Meine Mutter hatte zwölf Kinder und – wie sie mir eines düsteren Tages anvertraute – sieben Fehlgeburten. Die Lücken in ihrem Gedächtnis sind nicht ihre Schuld. Trotzdem, nichts davon habe ich ihr je verziehen. Ich kann es einfach nicht. Ich habe ihr meine Schwester Margaret nicht verziehen, die wir Midge nannten, bis sie im Alter von zweiundvierzig Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Ich verzeihe ihr meine schöne Schwester Bea nicht, die sich immer nur treiben lässt. Ich verzeihe ihr meinen ältesten Bruder Ernest nicht, der Priester in Peru war, bis...