Enzensberger Blaupause
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25763-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-446-25763-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Theresia Enzensberger wurde 1986 geboren und lebt in Berlin. Sie studierte Film und Filmwissenschaft am Bard College in New York studiert und schreibt als freie Autorin Prosa, Essays, Reportagen und Kritiken. 2014 gründete sie das preisgekrönte BLOCK Magazin. Bei Hanser erschien 2017 ihr erster Roman Blaupause, der in mehrere Sprachen übersetzt und mit der Alfred Döblin-Medaille ausgezeichnet wurde, sowie zuletzt ihr Roman Auf See (2022), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war.
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Ich weiß immer noch nicht, wo das Direktorenzimmer ist. Die große Uhr in der Eingangshalle zeigt schon kurz vor fünf, und ich irre durch die Gänge, in der Hoffnung, irgendwo ein Schild zu finden. Die Flure sind leer, nur aus der Tiefe des Gebäudes dringen gedämpfte Stimmen und Geräusche. Die anderen Studenten sind wohl noch in ihren Werkstätten. Als ich zum zweiten Mal über die große Wendeltreppe in den dritten Stock komme, sehe ich in der Ecke des Flures eine Gruppe stehen. Zu meiner Enttäuschung sind es Sidonie und die anderen Kuttenträger, vor denen ich mich unmöglich als Neue zu erkennen geben kann. Stattdessen gehe ich möglichst zielstrebig an ihnen vorbei, was ihnen nicht aufzufallen scheint, und biege dann um eine beliebige Ecke. Ich muss einen Jubelschrei unterdrücken, als ich am Ende des Ganges endlich den Namen »Walter Gropius« an einer Tür entdecke.
Auf ein etwas unwirsches »Herein« betrete ich ein helles Zimmer mit einem riesigen Schreibtisch in der Mitte, der unter haufenweise Papier begraben ist. Den Telefonhörer in der Hand, steht Gropius mit dem Rücken zu mir am Fenster. Das dicke Kabel spannt sich zum Apparat. Er ist größer als ich dachte, und obwohl ich sein Gesicht nicht sehe, spüre ich, wie gewohnt er es ist, mit dem größten Respekt behandelt zu werden. Sein Telefongespräch nimmt kein Ende. Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen? So tun, als hätte ich den kleinen Briefumschlag mit der Einladung zum Direktor nie bekommen?
»Dann rufen Sie mich doch bitte zurück, wenn Sie etwas wissen … Ja … Guten Tag!« Er spricht kontrolliert, aber seine Stimme ist voll unterdrückter Wut. Der Telefonhörer prallt unsanft auf die Messingärmchen, Gropius dreht sich um und sieht mich geistesabwesend an. »Diese Bürokraten, immer!« Ich versuche ein Nicken, das Verbrüderung gegen die ominösen Bürokraten ausdrücken soll, auch wenn das Gesagte natürlich nicht an mich gerichtet ist.
Kurz scheint sich Gropius über meine Anwesenheit in seinem Zimmer zu wundern, dann sammelt er sich. »Kommen Sie doch herein, setzen Sie sich. Was kann ich für Sie tun?« Jetzt bin ich irritiert, er hat mich schließlich hierher gebeten, wieso ist es jetzt meine Aufgabe, mich vorzustellen? Andererseits funktionieren die institutionellen Mechanismen am Bauhaus vielleicht auch nur nach klassisch bürokratischer Manier: Eine unsichtbare Hand, bestehend aus Protokoll, Regulation und Datierung, führt Menschen zusammen, die am Ende auch nicht so genau verstehen, wie es eigentlich dazu kam. Ich erkläre also, ich sei neu am Bauhaus. Man habe mir bedeutet, ich solle mich vorstellen und meine Mappe mitbringen. Gropius’ Miene hellt sich auf. »Richtig, eine neue Studentin. Verzeihen Sie, dass ich erst jetzt Zeit für Sie habe. Normalerweise sehe ich mir die Mappen sofort an, damit Sie gleich mit dem Unterricht beginnen können, aber die letzten Wochen waren einfach sehr hektisch. Dann zeigen Sie mal her«, sagt er und greift nach dem großen Karton, an dem ich mich bis jetzt festgeklammert habe. Die unerträglich langen Minuten, in denen er sich in meine Arbeit vertieft, verbringe ich damit, durch die großen Fenster in den sommerlichen Hof hinunterzuschauen. Immer wieder mustere ich verstohlen sein Gesicht, seine hohe Stirn, seine buschigen Augenbrauen, die er konzentriert zusammenzieht. Vielleicht kommt es von dem Telefonat, das er eben hat führen müssen, aber es liegt ein großer Ernst in seinem Blick, der seine Autorität noch unterstreicht.
»Es ist unüblich, dass Studenten mitten im Semester zu uns stoßen«, sagt er endlich und gibt mir meine Mappe zurück. »Wie haben Sie denn vom Bauhaus gehört?«
Kein Wort über die Architekturzeichnungen, die ich im Büro eines Familienfreundes angefertigt habe, abends, wenn alle gegangen waren. Ich habe mich damals so erwachsen gefühlt, wie eine echte Architektin, zwischen den akkurat angespitzten Bleistiften, den riesigen Linealen und dem speckigen, durchsichtigen Zeichenpapier.
Ich erkläre, dass mein Vater gusseiserne Pfetten herstellt, was ihn in regelmäßigen Kontakt mit den moderneren Berliner Architektenbüros bringt, unter anderem mit dem von Peter Behrens. Die Entwicklungen in Weimar werden dort mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Ich hätte aber wahrscheinlich trotzdem nie vom Bauhaus gehört, hätte mein Vater nicht unvorsichtigerweise eine Broschüre bei uns im Salon liegenlassen. Er stand meiner Begeisterung für die Architektur schon immer skeptisch gegenüber und hätte den Teufel getan, mir von einer Hochschule zu erzählen, an der man etwas anderes lernen kann, als eine gute Hausfrau zu werden. Meine Bewerbung schickte ich heimlich ab. Als dann die Zusage kam, bedurfte es einiger Überzeugungsarbeit und der Komplizenschaft meiner Mutter, damit er mich fahren ließ. Ich glaube, die Tatsache, dass es am Bauhaus eine Webwerkstatt gibt, war am Ende ausschlaggebend für seine zögerliche Zustimmung.
Obwohl ich mich nach Verbündeten sehne, lasse ich das alles weg und Gropius vorläufig im Glauben, meine Familie stehe hinter meinen Plänen, Architektur zu studieren. Er steht auf und sagt: »Ihre Zeichnungen haben Potential. Aber wir sind hier sehr darauf bedacht, unseren Studenten eine ganzheitliche Ausbildung zu bieten. Im Vorkurs und in den anderen Werkstätten werden Sie sicherlich einiges lernen, was Ihnen auch bei ihrer Arbeit mit der Architektur helfen wird. Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden.« Obwohl ich mir sicher bin, dass er diese Floskel öfters benutzt, erfüllt mich die Vorstellung, ihn möglicherweise als Mentor zu gewinnen, mit Stolz.
*
Maria sitzt auf meinem schmalen Bett und stopft die Kekse in sich hinein, die Frau Werner uns aufs Zimmer gestellt hat. Der Tee, den meine Wirtin bestimmt wieder aus irgendwelchen Kräutern aus ihrem Garten zusammengepflückt hat, riecht komisch, wir rühren ihn beide nicht an, aber das süße Gebäck ist eine angenehme Abwechslung zu dem Gemüsebrei, der uns in der Kantine vorgesetzt wird. Maria verdreht verzückt die Augen, lässt ihre langen Beine baumeln und sagt kauend: »Ich kann nicht glauben, dass diese albernen Kuttenträger sich jetzt auch noch beim Essen durchgesetzt haben! Ich habe heute Mittag keinen einzigen Bissen heruntergebracht. Dank sei der alten Wernerette und ihrem Backfanatismus!« Maria redet gerne so, mit ironischem Pathos und vielen Ausrufezeichen. Sie fühlt sich wohl hier, wirklich sehr wohl, denke ich und betrachte die Krümel auf meinem Bett. Ich kann ihr nicht verdenken, dass sie mein Pensionszimmer ihrer engen Dachkammer vorzieht, aber manchmal habe ich das Gefühl, sie ist bei mir eingezogen. Weder ihre Verfressenheit noch ihr Hang zur Dramatik spiegeln sich in ihrer schlaksigen Erscheinung. Sie hat fast hagere Gesichtszüge und große, etwas wässrige Augen.
Obwohl wir beide vorgeben, uns nicht für sie zu interessieren, kommt das Gespräch immer wieder auf die Gruppe um Johannes Itten. Meistens machen wir uns über sie lustig; über ihre Gewänder, braune Jacken mit Kapuzen, die Mönchskutten ähneln; über ihre seltsamen Gebräuche, Turnereien und Diäten; und über die Gesänge, die sie manchmal unvermittelt anstimmen. Ich erzähle Maria von meinem Treffen mit Gropius und meiner verzweifelten Suche nach dem Direktorenzimmer, für die sie mich liebevoll auslacht. Dann sagt sie: »Aber mal im Ernst, das ist doch eine Unverschämtheit! Jetzt entscheidet eine Gruppe von vielleicht zehn Leuten über das Essen der gesamten Schule!«
»Ich finde den Fraß auch schrecklich. Aber ich habe gehört, das Budget ist gekürzt worden, vielleicht kann sich die Schule einfach kein Fleisch mehr leisten?«
Maria schüttelt den Kopf. »Ich bin mir sicher, dass die dahinterstecken. Und angeblich zahlen die noch nicht einmal Schulgeld!«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Es gibt Leute, die sagen, es liegt daran, dass sie Juden sind und bevorzugt werden.«
Über das Schuldgeld habe ich nicht mehr nachgedacht, seit ich meinen Vater überredet habe, mich hier studieren zu lassen. Woran erkennt man eigentlich in solchen Fällen, wer jüdisch ist? Mein Bruder Otto redet ständig von den Juden, aber letztlich kenne ich nur eine Familie, die zwei Häuser weiter in unserer Straße in Berlin lebt. Und bei denen würde man auch nur den Vater an den Schläfenlocken und dem Hut erkennen.
Maria sagt: »Ich glaube, das ist Quatsch. Nicht alle Itten-Jünger sind Juden, und die meisten von ihnen waren auch schon in Wien auf seiner Kunstschule. Wahrscheinlich hat er da mit Gropius irgendwas ausgemacht. Trotzdem, gerecht ist das nicht.«
»Kann schon sein, aber schenken wir ihnen nicht zu viel Aufmerksamkeit? Vielleicht sollten wir sie einfach ignorieren«, sage ich.
»Ignorieren! Wenn das so einfach wäre. Hinter jeder Ecke stehen diese albernen Gesangsvögel. Wenn sie wenigstens nicht so exklusiv tun würden! Mit uns reden sie ja nicht einmal. Und Sidonie ist die Schlimmste von allen. Wie die sich immer aufspielt!«
Ich finde Sidonie mit ihren kurzen roten Locken, von denen immer nur ein paar aus der Kapuze herausschauen, wahnsinnig schön, aber das behalte ich für mich.
*
Während der Atemübungen, mit denen wir den Vorkurs beginnen, spüre ich, wie mir der Schweiß langsam den Rücken hinunterläuft. Normalerweise liebe ich die Hitze, mehr, als das für eine durchschnittliche Mitteleuropäerin normal ist. Ich mag es, wenn die Windstöße so heiß sind, dass man meint, sie kämen aus einem Ofen. Ich mag es, wenn es nicht einmal nachts kühler wird und man im Bett das Laken von sich werfen muss. Aber die großen, gebogenen Fenster...




