E-Book, Deutsch, Band 20, 217 Seiten
Erdin Personzentrierte Beratung bei Entwicklungsbesonderheiten
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-497-61989-4
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 20, 217 Seiten
Reihe: Personzentrierte Beratung & Therapie
ISBN: 978-3-497-61989-4
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Gisela Erdin, M.A. Erziehungswiss., Psychologie und Soziologie, "Master of Counselling" (GwG); langjährige Mitarbeit in Einrichtungen für Menschen mit einer geistigen Behinderung; Dozentin für Heilpädagogik und Psychosoziale Beratung an der Alanus Hochschule, Alfter.
Zielgruppe
Heil- und Sozialpädagog:innen, Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen und andere Fachkräfte in der psychosozialen Beratung von Menschen mit Entwicklungsstörungen oder geistiger Behinderung in Ausbildung, Lehre und Praxis
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung . 9
1 Psychosoziale Beratung, personzentriert fundiert . 14
1.1 Fachberatung oder psychosoziale Beratung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.2 Komplexe Beratungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.3 Was ist objektiv und lassen sich Menschen von sogenannten
objektiven Fakten leiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
1.4 Psychosoziale Beratung berücksichtigt das innere Erleben
des Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.5 Beziehung - Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
1.6 Beispiel einer Erziehungsberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2 Prozessverantwortung, aber nicht direktiv 29
2.1 Absichtslosigkeit statt geplanter Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.2 Ganzheitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.3 Prozessverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.4 Mitaushalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3 Empathie . 42
3.1 Bedingungen für eine heilsame Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3.2 Sich in das Erleben des anderen hineinbegeben . . . . . . . . . . . . . . . . 44
3.3 Die Gefahr der emotionalen Überflutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.4 Begegnung auf unterschiedlichen Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
4 Atmosphäre, Wertschätzung und Reframing . 52
4.1 Atmosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2 Bedingungsloses Wertschätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
4.3 Reframing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
4.4 Unbedingte Wertschätzung im Focusing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
4.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
5 Der dreidimensionale Zeitstrahl 64
5.1 Die drei Dimensionen des Zeitstrahls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
5.2 Zeitliche Dimension: vorne und hinten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
5.3 Ressourcen und Schwierigkeiten: rechts und links . . . . . . . . . . . . . 71
5.4 Verschiedene Bewusstseinsgrade: oben und unten . . . . . . . . . . . . . 72
5.5 Die Metaposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
5.6 Multisensorische, erlebnisvertiefende Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
5.7 Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
6 Innere Bilder, Symbolisierung und Narrative 77
6.1 Das gefühlsmäßige Erleben, Symbolisierung und das Spiel . . . . . . . 79
6.2 Das freie Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
6.3 Verschiedene Bewusstseinsgrade im Wachbewusstsein . . . . . . . . . . 82
6.4 Sich als Märchengestalt in einer Märchenwelt träumen . . . . . . . . . 86
6.5 Bilder, Geschichten und Deutungen in der Beratung . . . . . . . . . . . . 91
7 Der psychosoziale Beratungsprozess 93
7.1 Kontakt herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
7.2 Gewahrwerden (awareness) ermöglichen . . . . . . . . . . . . . .
1 Psychosoziale Beratung, personzentriert fundiert
Personzentrierte Beratung fußt auf dem Ansatz von Carl Ransom Rogers (1902–1987). Er war Psychologe und Psychotherapeut und arbeitete zwölf Jahre an einer heilpädagogischen Beratungsstelle für Kinderfragen in Rochester und New York. Er war fast dreißig Jahre lang psychotherapeutisch tätig, bevor er in seinem Buch „Eine Theorie der Psychotherapie“ seine Theorie der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsveränderung niederschrieb (Rogers, 1959 / 2009, S. 16). Er betonte:
„Aus dieser Arbeit, aus meiner Beziehung zu diesen Menschen, habe ich beinahe all das Wissen bezogen, das ich über die Bedeutung von Therapie, die Dynamik der interpersonellen Beziehungen und die Struktur und Funktion der Persönlichkeit besitze.“ (Rogers, 1959 / 2009, S. 16f)
Die enge Vernetzung von Praxiserfahrung und Theoriebildung zeichnet ihn folglich aus. Um darzustellen, was psychosoziale Beratung im Sinne von Rogers bedeutet, werde ich folgende Themen der Reihe nach darstellen:
1Was ist der Unterschied zwischen einer Fachberatung und einer psychosozialen Beratung?
2Was ist objektiv und lassen sich Menschen von sogenannten objektiven Fakten leiten?
3Psychosoziale Beratung berücksichtigt das innere Erleben des Klienten und nimmt es ernst.
4Erziehungsberatung ist eine komplexe Beratung.
1.1Fachberatung oder psychosoziale Beratung?
Zu einer Fachberatung geht man, wenn man fachliche Information haben möchte. Heute hilft man sich oft selbst. Man gibt einen Begriff bei Google oder einer anderen Suchmaschine im Internet ein und holt sich dort die nötigen Informationen. Vielleicht möchte man eine neue Waschmaschine kaufen und man möchte wissen, wie der Wasserverbrauch oder der Energieverbrauch ist, ob die Wäsche sauber wird, wie lange man mit ihr waschen kann, bevor man sie reparieren muss usw.
Häufig wird vernachlässigt, dass jede Information, die gegeben wird, nicht nur eine sachliche Information enthält, sondern auch eine Information, die über das Beziehungsverhältnis zwischen allen Gesprächsbeteiligten etwas aussagt. So wird der Verkäufer die Waschmaschinen seiner Firma „schön“ reden und es wird schwierig sein, einen neutralen oder einen objektiven Verkäufer zu finden. Aber was ist überhaupt objektiv?
1.2Komplexe Beratungsformen
Nicht immer lassen sich die Fachberatung und die psychosoziale Beratung so eindeutig trennen. Wenn die Beratung einen Fachanteil und einen psychosozialen Anteil hat, dann ist es eine komplexe Beratungsform. Beispielsweise ist die Erziehungsberatung im pädagogischen und heilpädagogischen Feld eine komplexe Beratung. In die Erziehungsberatung kommen Eltern, bei denen eine Schwierigkeit aufgetaucht ist. Vielleicht ist das Kind unruhig im Unterricht oder es hat sogar eine Diagnose erhalten, z. B. ADHS, Autismus oder etwas anderes. In den meisten Fällen kennen die Familien die Störungen nicht oder sie haben nur ein oberflächliches Bild von dieser Störung.
Damit die Familie ihr Kind optimal unterstützen kann, sollte sie sich ein gründliches Wissen über die Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes erwerben und sich emotional damit auseinandersetzen, wenn ihr Kind von ihrer persönlichen (oder gesellschaftlichen) Erwartung abweicht. Egal, ob die Erzieher:innen den Eltern mitteilen, dass es sich im Kindergarten oder Schule auffällig verhält, in der Entwicklung verzögert ist oder ihnen eine Diagnose einer Entwicklungsauffälligkeit mitgeteilt wird – die Nachricht von einer Entwicklungsstörung oder Verhaltensauffälligkeiten ist in der Regel ein Schock für die Eltern. Volker Schönwiese beschreibt drei verschiedene Phasen der Bewältigungsstrategie der Eltern, die durch die Mitteilung – ihr Kind würde vom Normalen abweichen – bei den Eltern ausgelöst werden (Schönwiese 1997):
ADie erste Phase steht unter der Dominanz des Schocks. Die Realität wird abgelehnt. Es wird eine Position der Verleugnung eingenommen.
BIn der zweiten Phase wird die Verhaltensauffälligkeit gesehen, aber abgewehrt. Es entsteht Wut, Aggression gegen die Verhaltensauffälligkeit des Kindes. Häufig wird nach jemandem gesucht, der an der Verhaltensauffälligkeit Schuld haben soll. Es wird nach etwas gesucht, dass das Verhalten zum Verschwinden bringt: ein Medikament, eine Technik, eine Therapie, welches das Kind gewissermaßen repariert und was die Fachkraft zur Verfügung stellen soll. Tatsächlich gibt es sehr viele pädagogische Methoden, mit denen man ein Kind mit einer Behinderung oder einer Verhaltensauffälligkeit in seiner Entwicklung unterstützen kann. Diese Methoden sind aber keine Zaubermittel, die das Kind reparieren. Ganz im Gegenteil, pädagogische Methoden setzen voraus, das Kind in seinem So-Sein anzunehmen, zu lieben und es sich nicht anders zu wünschen. Dazu werde ich im Anschluss, wenn ich auch die dritte Phase der Bewältigungsstrategie der Eltern geschildert habe, ein kleines, aber prägnantes Beispiel schildern.
CIn der dritten Phase wird die neue Realität in das eigene Bewusstsein integriert. Es werden die Besonderheiten des Kindes gesehen und wertfrei genau erfasst. Die Realität wird anerkannt und die Beziehungspersonen Eltern, Lehrer:innen usw. versuchen, das Kind zu verstehen und übernehmen die Verantwortung, es in seiner Besonderheit zu unterstützen. Die Anerkennung der Wirklichkeit, auch wenn sie nicht den Vorstellungen und Wünschen der Eltern bzw. den Lehrer:innen entspricht, ist Voraussetzung, dem Kind überhaupt helfen zu können. Rogers nennt dies Wertschätzung. Wertschätzung bedeutet, das Kind (oder den Erwachsenen) so wie es ist, gern zu haben und es sich nicht anders zu wünschen. Dies ist nicht gleichzusetzen mit laissez faire. Ganz im Gegenteil, es schließt das Vertrauen in das Kind ein, dass es sich – wenn es unterstützt wird – von selbst weiterentwickeln wird. Rogers sagt, in jedem Menschen liegt die Kraft der Selbstaktualisierung. Diese entfaltet ihre Wirksamkeit, sofern ihm seine Bezugspersonen wertschätzend, empathisch und authentisch begegnen (Rogers, 2009, S. 26f). Als Personzentrierte:r Erziehungsberater:in hat man also – neben der fachlichen Beratungsfunktion – auch die Aufgabe, die emotionale Verarbeitung zu unterstützen.
1.3 Was ist objektiv und lassen sich Menschen von sogenannten objektiven Fakten leiten?
Objektiv nennt man eine Information, die sich nur nach der Sache, dem Objekt, richtet und die Beziehung, die die Menschen zu dieser Sache haben, außer Acht lässt. Mit anderen Worten, gleichgültig, welche Person über eine Sache spricht, sie würde das Gleiche über eine Sache sagen. Man kann sich überlegen, wo das überall der Fall ist.
Beispielsweise ist die Gleichung 2 + 2 = 4 unabhängig davon, wer diese Rechnung ausführt. Die meisten anderen Informationen, vor allem wenn sie aus dem Bereich der Sozialwissenschaften, Anthropologie, Pädagogik, Psychologie usw. stammen, sind nicht so eindeutig. Eigentlich sind Informationen nur auf einem sehr hohen Abstraktionsgrad – wie die Mathematik – und Informationen, die sich auf tote Materie beziehen, in dieser Weise objektiv. Deshalb wird häufig vertreten, dass nur die Naturwissenschaften als objektive Wissenschaften bezeichnet werden können und die Geisteswissenschaften keine exakten Wissenschaften seien. Die Psychologie, also die Wissenschaft vom menschlichen Verhalten und Erleben, hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Platz in den Naturwissenschaften erobert. Gemäß dem materialistisch naturwissenschaftlichen Modell wollte John B. Watson (1878–1958), Vater des Behaviorismus, das Verhalten des Menschen erklären, ohne das Erleben des Menschen durch Introspektion – wie es damals in der Psychologie üblich war – zu erforschen. Nach seiner Vorstellung sollte sich die Psychologie auf das äußere Verhalten, also auf das, was man beobachten kann, beschränken. Was in dem Menschen vorging, bezeichnete er als Blackbox (Watson 1913; Abb. 1).
Abb. 1: Blackbox
Eine weitere Frage ist wahrscheinlich noch wichtiger: Lassen Menschen sich von sogenannten objektiven Fakten oder von wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen leiten? Diese Frage kann man klar mit „nein“ beantworten, meistens nicht. Wir alle haben weitreichende Erfahrung damit. Raucher wissen, dass Rauchen ungesund ist. Aber auch bezüglich Ernährung, Bewegung, Umweltschutz und vielem mehr verhalten sich Menschen nicht nach den neuesten – häufig gut gesicherten – wissenschaftlichen und rationalen Erkenntnissen. Ja, es geht noch weiter, viele Menschen ziehen sich zurück und wollen gar nichts mehr hören, wenn es ihnen schlecht geht. Sie denken: „Bitte sag jetzt nichts und versuch mir nicht zu helfen, es geht mir so schon schlecht genug.“
| ! | Was hält uns davon ab, auf wichtige Erkenntnisse, die von außen an uns herangetragen werden, zu hören? Es ist die innere Erlebniswelt. |
Edward C....




