Erdmann | Die Ausweichschule | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Erdmann Die Ausweichschule

Roman | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2025: Die Vermessung des Unfassbaren
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3656-5
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2025: Die Vermessung des Unfassbaren

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-8437-3656-5
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Vermessung des Unsagbaren Am letzten Tag der Abiturprüfungen im Jahr 2002 fallen Schüsse im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Unser Erzähler erlebt diesen Tag als Elfjähriger, wird mit seinen Mitschülern evakuiert und registriert in den folgenden Wochen die Hilflosigkeit der Erwachsenen im Angesicht dieser Tat. Mehr als zwanzig Jahre später bricht das Ereignis völlig unerwartet erneut in sein Leben ein und löst eine obsessive Beschäftigung mit dem Sujet aus, die in ein Romanprojekt resultieren soll. Aber warum nach so vielen Jahren alte Wunden aufreißen? Hat er ein Recht dazu? Wie verhält es sich mit seinen Erinnerungen, welche Geschichten hat er so häufig erzählt, dass sie wahr wurden?  Kaleb Erdmanns Roman Die Ausweichschule ist ein gekonntes Spiel mit Perspektiven, ein Stück Autofiktion, das gleichermaßen publikumskritisch (wie voyeuristisch ist unser Interesse an der Aufarbeitung von Gewalttaten?) wie autokritisch ist (was gibt mir das Recht, über diesen Tag zu schreiben?). Ein pointierter, persönlicher, erschütternder Text über ein Phänomen, das uns weltweit umtreibt.  »Wie sich Kaleb Erdmann dem Erfurter Amoklauf literarisch annähert ist ein Kunststück - er findet Worte für das Unsagbare und lässt einen wortlos zurück. Das Traurigste, Lustigste und Beste, was ich seit langem gelesen h

Kaleb Erdmann, Jahrgang 1991, studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, sowie Soziologie und Politische Theorie in München und Frankfurt am Main. Er war Finalist des open mike, wurde für sein Theaterstück Unten für den Retzhofer Dramapreis nominiert und war als Autor und Redakteur Teil verschiedener Fernseh- und Unterhaltungsformate. Sein erster Roman wir sind pioniere wurde mit dem Debütpreis der LitCologne ausgezeichnet. Zuletzt schrieb er für das Berliner Ensemble das Stück Always Carrey On. Kaleb Erdmann lebt und arbeitet in Düsseldorf.
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Ich hab mir überlegt.

Eine gute Metapher für alte Erinnerungen, also, ich meine potenziell schmerzhafte Erinnerungen, die man vielleicht auch ein Stück weit verdrängt hat, ja?

Ja, sagt Hatice.

Wenn man sich mit solchen vergrabenen Erinnerungen beschäftigt, dann ist ein Aufguss eine schöne Metapher.

Ein Aufguss, sagt Hatice und schaut in das graue Wasser.

Wie in der Sauna?, fragt sie dann.

Nein, nicht wie in der Sauna, sage ich. Eher so in Richtung Tee. Man hat dieses ganze Zeug, dieses vertrocknete Zeug, verschrumpelt, tot, okay?

Okay.

Das liegt unten am Boden, und man schüttet jetzt das heiße Wasser drauf, und plötzlich kommt was in Gang. Alles bekommt wieder Farbe und Geruch und Geschmack. Ich fand das ganz gut. Es war nämlich wirklich so bei mir, während der Recherche, meine ich. Und dann dachte ich mir, das funktioniert vielleicht auch für die Figuren im Buch. Die Metapher greift aber irgendwie nicht so richtig, weil ein Aufguss ja schon was mit Genuss zu tun hat. Was ich aber meine, ist ja eher –

Ein Nutria schält sich aus dem Fluss.

Eher schmerzhaft, sage ich. Und schwierig.

Na ja, du kannst ja Tee nicht ausstehen, sagt sie. Also passt es vielleicht doch.

Stimmt, sage ich. Vielleicht.

Das Nutria erhebt sich auf die Hinterbeine und streckt eine seiner Pfoten aus. Ich gebe ihm ein Stück Brot. Das Nutria nimmt das Brot und streckt seine andere Pfote aus.

Nee, eins reicht, sage ich, gebe ihm dann aber doch noch ein zweites Stück, das letzte. Das Nutria steht nun etwas unschlüssig da, in jeder Pfote ein Stück Brot, und sein Blick schweift ab.

Als ich an dieser Brücke das erste Mal ein Nutria gesehen habe, war ich richtig ehrfürchtig. Langsam bin ich in die Knie gegangen und habe seinen Fellrücken im Wasser beobachtet. Ein Biber, mitten in Frankfurt, dachte ich, unmöglich. Neben dem Brückeneingang sind diese Stufen, und man kann runter an den Fluss. Das Nutria kam aus dem Wasser direkt auf mich zu und hat sich vor mich hingestellt. Es hatte statt dieses breiten Paddels einen Rattenschwanz, es war also sofort klar: kein Biber. Mehr wusste ich damals nicht. Trotzdem ein magischer Moment. Es hat aber nicht lange gedauert, bis ich verstand, dass diese Tiere absolut keinen Respekt vor sich selbst haben und vor jedem beliebigen Besucher bereitwillig hin und her stolzieren, um im besten Fall ein paar Essensreste abzustauben. Im Sommer ist die Brücke eine richtige Attraktion, und Kinder überreichen den kleinen Wesen in Scharen die Reste ihrer aufgeweichten Eiswaffeln.

Tee trinken hat ja etwas Masochistisches, das dachte ich schon immer, sage ich. Dieses brühend heiße Wasser, man schüttet dieses brühende Wasser in sich rein, es muss gerade so heiß sein, dass es den Mund nicht verletzt, aber Schmerz ist ganz klar Teil des Rituals, den Schmerz auszuhalten, das ist ein zentraler Teil der Tee-Erfahrung.

Ich weiß, antwortet Hatice. Das erzählst du mir praktisch täglich.

Sorry, sage ich. Aber es ist wahr.

Das Nutria lächelt und setzt sich charmant in Szene. Wir blicken beide ratlos hinab auf das prätentiöse kleine Tier. Ich nehme das Aufguss-Thema wieder auf.

Ich hab das mit dem Aufguss-Bild mal ausprobiert auf jeden Fall, sage ich. Und auch ziemlich ausgebreitet, seitenlang. Und hab dann nachträglich in alles, was ich schon hatte, noch diese Sache mit dem Aufguss reingeschrieben, so was wie: Die Wucht der Ereignisse schlug ihm entgegen wie heißer Dampf, oder: Die Erinnerung entfaltete sich und gab ihren Duft frei, so was in der Art, solches Zeug, die ganze Zeit solches Zeug. Dann hab ich mir gedacht, scheiße ist das blumig, das ist zu blumig, viel zu, ich weiß nicht.

Zu blumig, sagt sie.

Ja. Viel zu blumig. Ich hab’s dann wieder rausgestrichen, die ganze Aufguss-Sache. Ich glaube es gibt jetzt nur noch eine einzige Stelle, da sagt jemand so was wie: Als ob man heißes Wasser drüberschüttet.

Wo drüberschüttet?

Ich weiß es nicht mehr genau. Irgendwo drüber.

Okay.

Ich glaube nicht, dass man versteht, wie es gemeint ist.

Okay.

Ja. Morgen ist das Treffen.

Das wird schon. Der Text ist gut.

Das Nutria wendet sich jetzt an Hatice.

Ich hab auch nichts mehr, sagt sie.

So ein schönes Bild, wenn man eins gefunden hat, dann pusht einen das ein paar Tage, sage ich. Aber nicht lange. Eher wie ein Big Mac, man hat sofort wieder Hunger.

Ein Kind hüpft neben uns die Betonstufen hinunter. Sein Gesicht ist verschmiert und krustig, in seiner Hand hält es einen Eiswaffelbatzen. Der kleine Mund steht leicht offen. Das Nutria und das Kind blicken sich an.

Katze, sagt es.

Na ja, sage ich.

Das Kind streckt die Hand mit dem Batzen dem Nutria entgegen. Das Nutria scheint kein Interesse daran zu haben. Es wendet sich ab, lässt sich ins Wasser gleiten und schwimmt davon, die Schnauze knapp über der Oberfläche.

Katze, sagt das Kind noch mal.

Ja, sage ich.

Sie schreiben hier –

Mein Exposé liegt plötzlich auf dem Tisch – woher kommt es – und leuchtet wie eine Neonröhre. Eddingspuren strahlen aus dem Text, und Herr Mertens setzt seinen Finger auf eine davon.

Sie schreiben hier, dass Ihr Buch sich mit der Tat und deren Auswirkungen auf das frühere Ich des Autors auseinandersetzen will. Da ist ja nichts dagegen zu sagen, aber ich frage mich – entschuldigen Sie die Frage –, aber ich frage mich, ist das von Interesse für ein größeres Publikum?

Der Finger bleibt jetzt erst mal dort liegen. Über der Leuchtmarkierung steht in krakeliger Kugelschreiberschrift etwas, das ich nicht richtig entziffern kann, entweder Haha, Jaja oder Na ja.

Das ist natürlich ein Thema, klar. Ein Thema ist es schon. Aber es ist als Thema, denke ich, also fürchte ich, etwas, na ja, klein. Denn es geht ja auch um anderes, eher Alltägliches. Da ist das Großwerden eines Wessi-Jungen im Osten der Republik – auch das ein ziemlich enger Fokus, eine etwas stille Angelegenheit.

Herr Mertens zieht jetzt mit bestimmter Geste die Papierhülle von seinen Stäbchen und reißt sie entzwei, dass es splittert. Ich blicke hinunter in meine gigantische Suppenschüssel und überlege, an welcher Seite ich mit dem Essen beginnen soll.

Kennen Sie Joachim Meyerhoff?, fragt er.

Klar, lüge ich.

Dieser Joachim Meyerhoff, der ist ganz toll.

Er versenkt die Spitze seiner Stäbchen im Teriyaki und löst aus der glänzend braunen Masse ein Stück heraus.

Sein großer Roman heißt , ähm, , nein, , nein, –

Er hebt sich das braune Stück behutsam in den Mund. Vorsichtig tauche ich den Löffel in meine Riesensuppe. Obenauf liegt ein Ei, ich nehme es auf und beiße hinein, es hat die Temperatur eines glühenden Stücks Kohle. Ich keuche. Der Rest fällt wie ein kleiner, nasser Sack zurück in die Suppe, das Eigelb verläuft in der Brühe.

! So heißt dieses Buch. Also da geht es um eine Kindheit. Der Autor erzählt da eine Kindheitsgeschichte, aber wirklich ein bisschen abgefreakt, die Hauptfigur wächst nämlich auf dem Gelände einer psychiatrischen Einrichtung auf, aber das alles ganz alltäglich, wirklich super geschrieben mit so einem Twist, immer lebendig, nie langatmig, mit einer Nonchalance. Wirklich, wirklich, wirklich super.

Ich lächele freundlich. Cool, sage ich. Das klingt wirklich interessant, sage ich dann.

Die Stäbchen werden nun von Herrn Mertens auf der Serviette abgelegt und hinterlassen braune Schlieren. Er greift nach seinem Weinglas.

Wenn Ihr Roman so wäre, wenn Ihr Roman etwas hätte von Meyerhoffs, von Joachim Meyerhoffs –

Das leere Weinglas kommt zum Stehen.

Art.

Herr Mertens blickt sich jetzt nach dem Kellner um, fast hilflos. Der Kellner kommt und stutzt, denn er fragt sich, wohin der erst vor wenigen Minuten gebrachte Wein verschwunden ist.

Ich bin schnell, sagt Herr Mertens.

Der Kellner nimmt eine zweite Weinbestellung entgegen.

Wenn Ihr Roman so eine Meyerhoff’sche Art hätte, dann wäre das auch interessant, und wie sage ich Ihnen das, ohne dass es Sie verletzt, es wäre nicht so steif, verstehen Sie, nicht so steif eben. Ich finde, dass Ihr Text, dafür, dass er von einem jungen Mann geschrieben wurde –

Er zeichnet mit der Hand meine junge, nudelsuppenessende Silhouette nach.

einen etwas ernsten, fast akademischen Ton hat, der dem Ganzen etwas Braves gibt, wenn ich das mal so sagen darf.

Der Wein kommt.

Ich habe Ihr Debüt gelesen, sagt Herr Mertens und hebt das Glas zum Mund.

Es ist gut.

Danke, sage ich.

Es ist sehr gut, sagt Herr Mertens.

Vielen Dank, sage ich.

Umso überraschter war ich von diesem Text, der so.

Er beendet den Satz nicht.

Sie nehmen mir das nicht übel, sagt er stattdessen.

Natürlich nicht, antworte ich.

Darf ich Ihnen vielleicht einen kleinen Rat geben.

Unbedingt, sage ich.

Sie müssen sich, denke ich, entscheiden, ob Sie einen ernsten literarischen Text schreiben möchten oder einen Zeitgeistroman. Im Moment hängt das noch ein wenig zwischen den...



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