E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Ernst / Hecht / Jalowczarz Hamburg hart + zart
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-944459-59-2
Verlag: Kadera-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
35 Geschichten · Neun autoren · Eine Stadt
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-944459-59-2
Verlag: Kadera-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Hamburg inspiriert - neun Autorinnen und Autoren ließen Sound und Emotionen der Multikulti-Metropole an Elbe und Alster zu Geschichten werden. Eine literarische Reise zwischen Tristesse und Verträumtheit, Alltagsereignissen und Kriminalität, Leben und Liebe. Mal hart. Mal zart. Mitunter schräg. Hamburg eben.
Zielgruppe
Hamburger, Hamburg-Touristen, Interessierte an neuen Autoren
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Schwarzbrand
Reinhard Jalowczarz »Heiraten?«, fragt Richard und streicht eine Strähne seiner blonden, glatten Haare aus dem Gesicht. »Golnas muss heiraten?« Mit einer tiefen Verbeugung, die eilfertige Geschäftigkeit eines Basarhändlers nachahmend, bittet ihn Karim Arasteh, auf dem mit dicken Teppichen belegten Boden Platz zu nehmen. Arasteh ist, unter Richards Leitung, auf der Baustelle für die Abnahmen der leit-, mess- und regeltechnischen Anlagen verantwortlich. Richard schätzt sein Engagement. Dennoch bereitet ihm seine übertriebene Höflichkeit immer wieder Unbehagen. Richard hockt 80 Kilo in den Schneidersitz und stöhnt kurz auf. Der aus Leder gefertigte Flechtgürtel schnürt ihm den Leib ein. In dieser Stellung wird er nicht lange sitzen können. Oft geübt und eben deshalb vor Arasteh unbemerkt geblieben, lockert er den Gürtel und öffnet den Knopf am Hosenbund seiner Jeans. Richard verlagert die Position, lehnt sich mit dem Rücken an die Wand und hofft, dadurch besser sitzen zu können. Er war schon des Öfteren bei Arasteh zu Besuch, um von dem schwarzgebrannten Kartoffelschnaps für sich und die Kollegen zu kaufen. Doch so niedergeschlagen wie heute hat er seinen iranischen Mitarbeiter bisher noch nie erlebt. Arastehs Tränensäcke sind noch schwärzer als sonst. Wie mit einem Teerquast sind sie ihm unter die tief in den Höhlen liegenden kastanienbraunen Augen gemalt. Richard weiß, dass Golnas, die in einer Mashhader Klinik als Krankenschwester ihr Geld verdient, Arastehs Cousine und Freundin zugleich ist. Was es jedoch mit ihrer Heirat auf sich hat, das hat er noch nicht ganz verstanden. Er wendet den Blick von Arastehs Gesicht ab und mustert aus den Augenwinkeln die spartanische Einrichtung des Souterrains der in Mashhad gelegenen Familienvilla. Eine antike Kommode aus Nussbaumholz mit klemmenden Läden und ein Kiefernholzregal, aus dem sich die Äste aus den Löchern verabschiedet haben, sind außer einem überquellenden Aschenbecher das einzige Mobiliar in dem den nach Zigarettenrauch miefenden Raum. In dem Regal stehen ein Koran, der vom unzähligen Blättern die goldene Aufschrift auf dem Buchdeckel verloren hat, und Fachbücher der Elektrotechnik in englischer Sprache. Am besten gefällt Richard der handgeknüpfte Wollteppich, auf dem sie sitzen. Er weiß, dass das schöne Stück alt ist und von den Nomaden aus Ferdows stammt. Arasteh wiegt sich hin und her, unterbricht das Schweigen und flüstert hinter vorgehaltener Hand: »Golnas wurde, als sie noch ein Kind war, einem dreißig Jahre älteren Mann versprochen. Jetzt hat sie das Alter erreicht, in dem sie ihn heiraten soll. Und aus diesem Grund fliegt sie nächste Woche nach Teheran.« Tränen kullern aus Arastehs Augen. Rollen übers Kinn und werden vom marineblauen Woll-Pullunder aufgesogen. Bei Richard fällt der Groschen. Der Traum der Liebenden ist von Golnas Eltern zerstört worden. »Allerdings gibt es noch ein Problem!«, fährt Karim Arasteh fort. Richard beugt sich ihm so weit entgegen, dass er dessen Atem riechen kann. »Sie ist keine Jungfrau mehr. Ich helfe ihr, die Angelegenheit zu regeln. Morgen früh begleite ich sie. Wir gehen zu einem Arzt. Einem Spezialisten, der einen Eingriff vornimmt, bei dem sie ihre Unschuld zurückerhält.« Richard ist nicht bekannt, ob Arasteh und Golnas heimlich eine Ehe auf Zeit geschlossen haben. Eine solche Beziehung ist den Schiiten zwar erlaubt, aber schlecht angesehen. Besonders Frauen müssten um ihren guten Ruf fürchten. Aus Höflichkeit fragt Richard nicht weiter nach. Er fährt sich mit zwei Fingern in den Hemdkragen. Seine Hände kribbeln. Er atmet kurz ein und lang aus, um ein Hyperventilieren zu vermeiden. Langsam wird es ihm zu eng in dem überheizten Kellerraum. Und da er los möchte, bittet er Arasteh, Golnas seine besten Wünsche und alles Gute auszurichten. Dann dreht er sich zur Seite und zeigt auf die Plastikkaraffen, die in der Ecke neben der Kommode stehen. »Sechs davon sind für Sie, Mister Gotha«, sagt Karim Arasteh, »sechs mal fünf Liter vortrefflich gebrannter Wodka.« Der Deal ist perfekt. 600 Toman – rund zwanzig Mark – und sechs ordinäre Wasserflaschen, gefüllt mit Kartoffelschnaps, wechseln die Besitzer. Richard sieht auf die Uhr. Die Zeit drängt! Er will nach Hause, bevor es dunkel wird. Zurück ins Camp. Er steht auf, schließt den Knopf der Jeans, steckt das blaukarierte Baumwollhemd zurück in den Hosenbund und greift vier der Karaffen. Karim folgt ihm, nimmt den Hausschlüssel von der Kommode und packt sich die anderen zwei Behälter. Sie gehen durch den kleinen Flur und an der Küche vorbei. Richard wirft einen Blick hinein. Neben dem Gasherd, auf dem eine Flamme blau-gelb züngelt, sitzt eine für ihre Körpergröße zu schwere Frau. Der mit Sonnenblumen bedruckte Kittel umhüllt nur mit Mühe ihren Leib. Dem Baumwolltuch, das vom Kopf in den Nacken gerutscht ist, schenkt sie keine Beachtung. Andächtig saugt die Frau, deren dunkelblondes, glattes Haar straff nach hinten gebürstet ist, am Schlauch einer Wasserpfeife. »Meine Tante!«, stellt Arasteh im Vorbeigehen die Raucherin vor. »Sie kocht für uns. Davon bekommt sie immer Kopfweh. Sagt sie jedenfalls. Ein wenig Opium in die Pfeife und ihre Kopfschmerzen sind wie weggeblasen!« Arasteh reibt sich die Nase, die von der Seite her gesehen Ähnlichkeit mit dem Schnabel eines Falken hat. »Chodâ haféz!«, grüßt die Frau Richard und schiebt das abgekaute Mundstück wieder zwischen die Lippen. »Chodâ haféz! Auf Wiedersehen!«, ruft Richard zurück. Am Ende des Flurs, an dessen Decke eine 25 Watt-Lampe ihr Bestes gibt, führen drei Stufen nach oben. Arasteh öffnet die schwere Holztür, die in den Innenhof führt, welcher als Stellplatz für den 280-er Mercedes von Arastehs Vater genutzt wird. Karim stemmt sich gegen das mannshohe Eisentor, das den Hof zur Straße hin abgrenzt. Richard schlüpft als erster durch das Gatter und geht auf die VW-Pritsche zu, die er vor dem Haus am Straßenrand geparkt hat, und stellt die Karaffen auf den Bürgersteig. Mit dem Autoschlüssel öffnet er die rostige Klappe, die sich unterhalb der Ladefläche zwischen Vorder- und Hinterrad befindet, und schiebt das Schmuggelgut in den Bauch der Pritsche, während Karim Arasteh Schmiere steht. »Take care!«, ruft Arasteh zum Abschied in das Führerhaus. »Chodâ haféz! See you tomorrow morning!«, antwortet ihm Richard. Er dreht den Zündschlüssel. Beim zweiten Versuch erwachen die 50 PS des 1600-er zum Leben. Der Keilriemen schrillt sein Lied dazu. Richard kurbelt das Seitenfenster hoch und löst die Handbremse. Er tritt die Kupplung, drückt den Gang rein und tippt vorsichtig mit der Fußspitze auf das Gaspedal, als gelte es, sechs mit Nitroglyzerin gefüllte Fässer zu transportieren. Die Dämmerung bricht an. Richard zieht den Reißverschluss seiner Feldjacke bis zum Hals und schaltet die Scheinwerfer ein. Er dirigiert das Fahrzeug, das er sich für den Transport der Karaffen von der Elektro-Montagetruppe ausgeliehen hat, den Asia Highway entlang. Richard kämpft gegen die aufkeimende Anspannung an. Er achtet, noch aufmerksamer als an anderen Tagen, auf den Verkehr. Sollten die Pasdaran, die Revolutionswächter des Landes, ihn mit dem Schnaps erwischen, gäbe es riesigen Ärger! Im schlimmsten Fall hagelte es zweiundsiebzig Stockschläge! Das ist Gesetz im Iran und so steht es zur Warnung aller am Schwarzen Brett im Baubüro geschrieben. Richard lässt den Abbieger nach Tus rechts liegen. Er schiebt die Fernbrille, die er beim Autofahren tragen muss, zurück auf die Nasenwurzel. In seinem Kopf surrt es. Heute ist er mitten drin! Mitten im Leben! Heute hat er viel über die Gebräuche im Land erfahren und dazugelernt! Er lässt den Nachmittag Revue passieren: Golnas muss einen dreißig Jahre älteren Mann heiraten, weil sie ihm versprochen war. Arasteh erweist sich als »Gentleman« und übernimmt die für die Intim-Korrektur anfallenden Kosten. Seine unverheiratete Tante ist gewaltig aus dem Leim gegangen, kocht für die Familie und tröstet sich mit Opium. Arastehs Vater, ein angesehener Rechtsanwalt, sitzt am Wochenende mit hohen Militärs im Souterrain der Villa, um zu pokern und Whisky zu trinken. Ballantine‘s finest Malt! Bottled Whisky in Irak! Unglaublich! Und er schmuggelt schwarz gebrannten Wodka, nach Erbrochenem riechenden Fusel, für sich und seine Kollegen ins Camp! Als Bauleiter und Führungskraft sollte er hier eher Vorbild sein! Er fragt sich, warum er eigentlich den Schnaps schmuggelt. Unverdünnt lässt sich der Sprit gar nicht trinken. Auf Eis mit Cola geht es ja. Warum geht er das Risiko ein? Womöglich ist es der Kick! Weil es bei Strafe verboten ist? Die Regeln des Landes ignorieren? Das könnte ein Grund sein. Darum hat Alkohol in dieser Abgeschiedenheit einen so immens hohen Stellenwert! Das meint Helen auch. Sie kann mit dem Leben hier nicht mehr viel anfangen! Sie hat keine Lust mehr auf das Camp am Ende der Welt! Mag es nicht mehr, dass sie, wenn sie zum Einkauf das Camp verlässt, ein Kopftuch tragen muss. Sie interessiert sich nicht für Dichter aus dem zehnten Jahrhundert, während er die Schönheit der Landschaft, das Fahlgelb des Himmels, die kraftstrotzende Technik, mit der er täglich arbeitet, liebt. Richard lässt keine weiteren Gedanken an sich rankommen. Er nimmt den Fuß vom Gas und schaltet zurück in den zweiten Gang. Weit hinter ihm mahnt die Dreiklangfanfare eines zitronengelben Mack zur Eile. Der Schwertransporter, der zwei 1000 KVA-Transformatoren geladen hat, faucht heran wie ein stählernes Monster. Richard schaut in den vom Staub erblindeten Rückspiegel. Der gewaltige Kühlergrill, auf dem sich eine verchromte Bulldogge bissig in Fahrtrichtung streckt,...