E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Essbaum Hausfrau
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7325-1319-2
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-7325-1319-2
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wohin geht eine Frau, wenn es keinen Weg zurück gibt? Anna Benz, eine Amerikanerin Ende dreißig, lebt mit ihrem Schweizer Ehemann Bruno und ihren drei kleinen Kindern in einem Postkarten-Vorort Zürichs. Von außen betrachtet führt sie ein komfortables, abgesichertes Leben; im Inneren bricht sie auseinander. Jill Essbaum hat ein atemberaubend kraftvolles Debüt geschrieben. In der kunstvoll arrangierten Geschichte folgen wir einer Frau auf dem Weg in den Abgrund: gleichzeitig fasziniert und schockiert von der elektrisierenden Anna. Eine Protagonistin, die den Leser in den Bann schlägt.
Jill Alexander Essbaum hat mehrere Gedichtbände verfasst und an Lyrikanthologien mitgewirkt. Sie lebt und schreibt in Austin, Texas.
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1
Anna war eine gute Ehefrau. Meistens. Es war Nachmittag, und der Zug, in dem sie saß, zitterte kurz, glitt durch die Kurve und fuhr in den Bahnhof von Dietlikon ein, um vierunddreißig nach, wie immer. Es ist kein Gerücht, sondern eine Tatsache: Die Schweizer Bahn ist pünktlich. Die S8 startet in Pfäffikon, einer Kleinstadt rund dreißig Kilometer entfernt. Von Pfäffikon aus winden sich die Gleise am Zürichsee entlang, durch Horgen am Westufer, durch Thalwil, durch Kilchberg. Kleine Städte, in denen kleine Leben gelebt werden. Hinter Pfäffikon hielt die Bahn sechzehn Mal, bevor sie Dietlikon erreichte, die kleine Stadt, in der Anna ihr kleines Leben lebte. So kam es, dass ein gewöhnlicher Zugfahrplan Annas Tagesablauf regulierte. Der Dietliker Bus fuhr nicht bis in die Stadt. Taxis waren teuer und umständlich. Zwar besaß die Familie Benz ein Auto, doch konnte Anna es nicht fahren. Sie hatte keinen Führerschein. Ihre Welt war eng begrenzt durch die Ankunft und Abfahrt von Zügen, durch die Bereitschaft von Annas Mann Bruno oder Annas Schwiegermutter Ursula, sie an jene Orte zu bringen, die sich per Bus nicht erreichen ließen, und durch die Ausdauer ihrer Beine und die Strecken, die diese zurücklegen konnten; nur selten so weit, wie Anna es sich gewünscht hätte. Doch die Schweizer Bahn ist tatsächlich pünktlich, und so kam Anna trotz kleiner Unannehmlichkeiten zurecht. Sie fuhr gern mit dem Zug; auf sie hatte die schwankende Vorwärtsbewegung eine einschläfernde, tröstliche Wirkung. Edith Hammer, eine Zugewanderte wie Anna, hatte ihr einmal erzählt, die Schweizer Bahn verspäte sich höchstens aus einem Grund. »Wenn jemand sich davorwirft.« Frau Doktor Messerli fragte Anna, ob sie jemals an Selbstmord gedacht oder einen Selbstmordversuch unternommen habe. »Ja«, lautete Annas Antwort auf die erste Frage. Auf die zweite: »Definieren Sie ›Versuch‹.« Doktor Messerli war blond, zierlich und unbestimmbaren, doch fortgeschrittenen Alters. Sie empfing ihre Patienten in einer Praxis in der Trittligasse, einer schmalen, wenig befahrenen Kopfsteinpflasterstraße westlich des Zürcher Kunsthauses. Sie hatte in Amerika klinische Psychiatrie studiert und dann am Jung-Institut in Küsnacht, einer Gemeinde gut sieben Kilometer vor Zürich, eine Ausbildung zur Analytikerin gemacht. Doktor Messerli war gebürtige Schweizerin, sprach jedoch ein mustergültiges Englisch, wenn auch mit schwerem Akzent. Ihr th kam als s daher, und ihre Vokale waren so offen und langgezogen wie Brückenbögen: Wot duuu juuu sink, Anna?, fragte sie gern (meistens dann, wenn Anna am wenigsten bereit war, ehrlich zu antworten). In einem Werbespot für eine bekannte Sprachenschule weist ein Marineoffizier den neuen Bordfunker ein. Der Funker bezieht seinen Posten, und Sekunden später fängt der Transmitter zu rauschen an. »Mayday, Mayday«, tönt eine eindeutig amerikanische Stimme aus dem Lautsprecher, »can you hear us? We are sinking! We are sinking!« Der Funker überlegt, beugt sich vor und spricht freundlich ins Mikrofon: »Dis is de Dschörmen Küstenwache. Wot are juuu sinking about?« In dem Fall zuckte Anna, ausnahmslos faul, mit den Schultern und sagte, was ihr einzig sagenswert erschien: »Ich weiß es nicht.« Obwohl sie es natürlich fast immer wusste. Der Nachmittag war regnerisch. Das Schweizer Wetter ist unbeständig, im Kanton Zürich aber selten extrem, schon gar nicht im September. Und es war September, denn Annas Söhne gingen längst wieder zur Schule. Vom Bahnhof aus legte Anna langsam und schuldbeladen den letzten halben Kilometer auf Dietlikons Hauptstraße zurück und verharrte vor jedem Schaufenster, um kleine Verzögerungen herauszuschlagen. Die postkoitale Euphorie war verflogen, und Anna blieben nur die Zügel des Ennui, schlaff in ihrer Hand. Das Gefühl war ihr nicht neu. Sie spürte es oft, eine stumpfe Mattigkeit, die sich zog und dehnte. Die reduzierten Brillen in der Auslage des Augenoptikers ödeten sie an. Die Pyramide aus homöopathischen Heilmitteln im Schaufenster der Apotheke entlockte ihr nur ein Gähnen. Die Schütte vor dem SPAR, gefüllt mit Handtüchern im Ausverkauf, langweilte sie praktisch zu Tode. Die Langeweile half Anna durch die Tage, so wie die S-Bahnen. Ist das wahr?, dachte Anna. Das kann nicht die ganze Wahrheit sein. War es auch nicht. Noch vor einer Stunde hatte Anna nackt, nass und offen auf einem Bett in einer fremden Wohnung im Zürcher Niederdorf gelegen, vier Stockwerke über den gewundenen Gassen und den Bruchsteinmauern der Altstadt, wo in Kebab-Buden Döner gefüllt und Spieße in Fonduetöpfe gesteckt wurden. Was immer ich an Scham besaß, ist weg, dachte sie. »Gibt es einen Unterschied zwischen Scham und Schuld?«. »Scham ist psychische Erpressung«, antwortete Doktor Messerli. »Scham lügt. Flößt man einer Frau Schamgefühle ein, wird sie sich im Grunde ihres Wesens verkehrt fühlen, von Grund auf verdorben. Sie wird an nichts mehr glauben als an das eigene Scheitern. Und niemand wird sie je davon abbringen.« Es war schon fast drei Uhr, als Anna die Schule ihrer Söhne erreichte. Die Primarschule Dorf stand an der Ostseite des Marktplatzes, zwischen der Stadtbücherei und dem dreihundert Jahre alten Gemeindehaus. Einen Monat zuvor, am Nationalfeiertag, hatten sich die Bürger der Stadt auf dem Platz gedrängelt, Würstchen gegessen und wie volltrunken zur Volksmusik geschunkelt, während der Himmel über ihren Köpfen von Feuerwerk erleuchtet worden war. Wenn Armeemanöver stattfanden, parkten die Soldaten ihre Nachschublaster lässig schräg vor dem Brunnen auf der Platzmitte. An Sommertagen planschten hier nackte Kinder, deren Mütter auf den Bänken saßen und Bücher lasen oder Joghurt löffelten. Bruno hatte seinen Wehrdienst schon vor Jahren abgeleistet. Aus jener Zeit war ihm nicht viel mehr geblieben als ein Sturmgewehr im Keller. Anna hingegen machte sich nichts aus Büchern, und wenn ihre Söhne schwimmen wollten, ging sie mit ihnen ins Stadtbad. An diesem Tag war auf dem Platz nicht viel los. Vor der Bücherei standen drei Frauen und plauderten. Eine hatte einen Kinderwagen dabei, an der Leine der zweiten hechelte ein Deutscher Schäferhund, die dritte stand mit leeren Händen da. Mütter, die auf ihre Schulkinder warteten, alle um die zehn Jahre jünger als Anna. Sie wirkten milchig und drall, wo Anna sich verschrumpelt und eingesunken fühlte. Sie strahlten, fand Anna, eine leuchtende Gelassenheit aus, eine entspannte Haltung, ein einheimisches Glühen. Anna fühlte sich selten wohl in ihrer Haut. Ich bin verhärmt und siebenunddreißig, dachte sie. Ich bin die Summe meiner Tics. Eine der Mütter winkte und lächelte sie freundlich, wenn auch unverbindlich an. Sie hatte den Fremden im Deutschkurs kennengelernt. Aber Anna, erinnerte sie sich, du hattest seinen Schwanz im Mund. Eigentlich ist er gar kein Fremder mehr. War er auch nicht. Er war Archie Sutherland, Schotte, zugewandert und Sprachenschüler wie Anna. Anna Benz, Sprachenschülerin. Doktor Messerli hatte sie ermutigt, sich zum Deutschkurs anzumelden (Bruno wiederum hatte, gnadenloser Bumerang der Ironie, darauf bestanden, dass sie eine Psychotherapie anfing: Ich habe genug von deinem verdammten Elend, Anna, hatte er gesagt, geh und lass dich in Ordnung bringen). Doktor Messerli überreichte Anna das Kursprogramm mit den Worten: »Es ist für Sie an der Zeit, sich auf eine neue Flugbahn zu begeben und umfassender am Leben ringsum teilzunehmen.« In ihrer affektierten Ausdrucksweise klang die Analytikerin herablassend, aber sie hatte Recht. Es war an der Zeit. Es war überfällig. Am Ende jener Sitzung, nach weiteren Spitzfindigkeiten und Überredungsversuchen, erklärte Anna sich bereit, sich zum Anfängerkurs Deutsch in der Klubschule Migros anzumelden. Zu dem Kurs, den sie hätte besuchen sollen, als sie neun Jahre früher in die Schweiz gekommen war, ohne Sprachkenntnisse, ohne Freunde und an ihrem Schicksal verzweifelnd, damals schon. Vor einer Stunde hatte Archie aus seiner Küche gerufen. Ob sie einen Kaffee wolle? Einen Tee? Etwas zu essen? Ob sie etwas brauche? Irgendwas? Was auch immer? Anna hatte sich vorsichtig angezogen, so als wären in die Säume ihrer Kleidung Dornen eingenäht. Von der Straße drang das Geschrei der Kinder herauf, die nach der Mittagspause auf dem Rückweg in die Schule waren, dazu die Stimmen amerikanischer Touristen, die auf dem Weg zum Zürcher Grossmünster über die Steigung des Hügels schimpften. Die Kathedrale ist ein massiges Gebäude, mittelalterlich grau, einzigartig mit den zwei symmetrischen Türmen, die bündig mit der Kirchenfassade abschließen, weit über die Dachwölbung hinaus in die Höhe ragen und an einen aufmerkenden Hasen erinnern. Oder an einen Gehörnten. »Wo liegt der Unterschied zwischen einem Wunsch und einem Bedürfnis?« »Ein Wunsch kann in Erfüllung gehen oder auch nicht, er ist nicht essenziell. Ein Bedürfnis verlangt nach etwas, ohne das man nicht leben kann.« Und dann fügte Frau Doktor noch hinzu: »Wenn man ohne dieses Etwas nicht leben kann, wird man es auch nicht.« Was auch immer? Wie Doktor Messerli sprach auch Archie mit einem prächtigen Akzent, geprägt nicht von den formwandlerischen Konsonanten des Hochalemannischen, sondern durch Wörter, die gleichermaßen verschleierten und offenbarten. Ein rollendes r...