E-Book, Deutsch, 360 Seiten
Esser »Wie kaum in einem anderen Land ...«?
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-593-44591-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Differenzierung der Bildungswege nach Fähigkeiten und Leistungen und ihre Wirkung auf Bildungserfolg, -ungleichheit und -gerechtigkeit. Band 1: Theoretische Grundlagen
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-593-44591-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hartmut Esser, Prof. Dr., lehrte an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim Soziologie und Wissenschaftslehre.
Autoren/Hrsg.
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1.Der Streit um die Leistungsdifferenzierung
Es gibt praktisch kein Land der Welt ohne soziale Bildungsungleichheiten, aber es finden sich auch beträchtliche Unterschiede darin. Sie beziehen sich sowohl auf die Bildungsbeteiligung wie auf die Leistungen in der Sekundarstufe und danach. Von den verschiedenen Hypothesen darüber wurde von Beginn an auf Effekte der unterschiedlichen Bildungssysteme verwiesen, insbesondere auf die (frühe) Differenzierung in getrennte Schultypen nach Fähigkeiten und Leistungen (»Tracking) gegenüber der Integration eines ggf. bis zum Ende der Pflichtschulzeit ununterbrochenen »gemeinsamen Lernens« (vgl. für die aktuelleren Übersichten bei Blossfeld et al. 2016, Part I: 1 ff.; Gross et al. 2016: 11 ff., Triventi et al. 2016: 3 ff., Dollmann 2019, Kapitel 4; Skopek et al. 2019, Kapitel 5; s. auch schon die Vorbemerkungen).
Als Begründung die Differenzierung wird angenommen, dass eine Homogenisierung der schulischen Lernumgebung nach den kognitiven Fähigkeiten den Lernerfolg verbessere, nämlich durch eine dann besser mögliche Passung der Curricula an die unterschiedlichen Fähigkeiten und Neigungen der Schülerinnen und Schüler und die darüber mögliche stärkere Fokussierung des Unterrichts darauf (Sörensen 1970: 356 ff.; Sörensen und Hallinan 1977: 275 ff.; Gamoran und Mare 1989: 1148; Brunello und Checchi 2007: 974 ff.; Huang 2009: 781 ff.; Betts 2011: 343; Deunk 2015, Abschnitt 4.4: 38 ff.). Dieser Effekt wäre, so insbesondere die frühen Begründungen weiter, umso stärker, je mehr der jeweilige schulische Einfluss über den Schulalltag hinweg ununterbrochen und fokussiert und in andauernde soziale Kontakte eingebunden ist (»« bei Sörensen 1970: 362 f.): räumliche Trennung, gemeinsamer Lehrstoff, dauerhafte Klassenverbände, stabiles Lehrpersonal und ggf. auch eine besondere Identifikation mit der Schule oder »Anstalt«, auch aus einer gewissen Exklusivität heraus, dass nicht allzu viele auf die »Elite«-Schulen kommen (vgl. zu den verschiedenen Dimensionen des -Tracking Domina et al. 2019). Eine solche Differenzierung wäre gerade auch für die weniger talentierten oder leistungsschwächeren Kinder von Vorteil: Auf deren Anforderungen und Bedürfnisse könnte ebenfalls besser eingegangen werden und sie müssten sich im Vergleich des Schulalltags nicht beständig mit einem Leistungsniveau vergleichen, dem sie nur schwer folgen können.
die Differenzierung wird dann angeführt, dass die weniger talentierten Schüler über die Trennung von einer anspruchsvolleren und besseren Lernumgebung und den -Kontakten einer integrierten Schule nicht profitieren könnten und dass sie über die Verweisung in eine geringer bewertete Schulform durch Stigmatisierung und eine negative Selbstwahrnehmung eher schlechtere Leistungen zeigten. Die Differenzierung nach den kognitiven Fähigkeiten führe so nicht nur unweigerlich zu einer Stratifikation in der Bildungsbeteiligung und in den Leistungen, sondern insbesondere auch nach der sozialen Herkunft, weil die für die Sortierung auf die verschiedenen Bildungswege wichtigen Ressourcen, Aspirationen, Bewertungen und Aktivitäten nach der Positionierung der Familien systematisch unterschiedlich verteilt seien (Oakes 2005 (1985): 40 ff.; Gamoran und Mare 1989: 1148 f.; Becker und Hadjar 2011: 51 ff.; Betts 2011: 343 f.; Allmendinger 2012, Kapitel 10; Becker 2016: xxviif.; Becker und Lauterbach 2016: 30 f.). Große Zweifel daran gibt es nicht. In ihrer breiten Übersicht über die Effekte des -Tracking fassen Müller und Kogan (2010) das so zusammen:
» of early sorting usually assume that segmenting pupils into groups of homogeneous ability and school performance makes teaching and learning because it can be better adapted to the pace of students. However, effects in this direction are at and its advantages can be by negative consequences of stigmatization of students in low achievement tracks and by weakening social integration and cohesion. As discussed further below shows, it can be widely that early tracking is furthermore associated with the generation of educational with particular for lower class and migrant families.« (ebd.: 227; Hervorhebungen nicht im Original)
Es ist die zur Frage nach Differenzierung und Integration (vgl. dazu die Vorbemerkungen bereits).
Zahllose Beiträge hat es zu dieser Kontroverse gegeben (vgl. dazu ausführlich noch den zweiten Band). Sie bezogen sich auf Effekte der Umstellung von der externen auf die interne Differenzierung wie die in den USA in den 1960er und 1970er Jahren oder auf die international vergleichenden soziologischen Mobilitätsstudien zur Bildungsbeteiligung und Statusvererbung in den 1990er Jahren. Einige der Übersichten kamen ganz dezidiert zu dem Ergebnis, dass die Differenzierung die Bildungsungleichheit in der Tat verstärke (etwa: Kerckhoff 1986, Gamoran und Mare 1989; Gamoran 2009: 4 ff.), aus anderen war das so eindeutig nicht herauszulesen (Kulik und Kulik 1982; Slavin 1987; Betts 2011: 351 f.), und wieder andere verwiesen darauf, dass es entscheidend darauf ankomme, die Differenzierung auch nach den der Kinder vorzunehmen und dafür zu sorgen, dass keine anderen Kriterien, wie die soziale Herkunft oder der Migrationshintergrund die Verteilung bestimme (Hallinan 1994). So schien etwa die als Übergang zur Integration verstandene Umstellung auf die interne Differenzierung in den USA die Stratifikationseffekte der externen Sortierung eher nur zu verbergen, als wirklich zu verringern (Lucas 1999, Kapitel 8). Und die in der soziologischen Mobilitätsforschung gefundenen Unterschiede in den Herkunftseffekten bei der Bildungsbeteiligung, etwa zwischen den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten mit ihren integrierten Bildungssystemen und den kontinentaleuropäischen Ländern mit stark differenzierenden Systemen, erwiesen sich bei näherem Zusehen auch nicht als so ausgeprägt, dass man hätte sagen können, dass die Differenzierung die soziale Mobilität sonderlich behindert hätte (Shavit und Blossfeld 1993: 16 ff.; Müller und Karle 1993: 15 ff.; Müller 1996: 178 f.). Es wurde aber auch erst nach und nach klar wie voraussetzungsvoll die korrekte Identifikation von Systemeffekten des -Tracking ist und dass es nicht damit getan ist, einfach Schulen, Regionen oder Länder mit und ohne Differenzierung zu vergleichen, wie das auch heute immer noch geschieht (vgl. zu diesen methodischen Problemen schon früh: Betts und Shkolnik 2000).
Diese Diskussion blieb lange Zeit eher verborgen, ganz besonders in Deutschland während und nach einer langen Phase der – seinerzeit: dringend nötigen – Bildungsexpansion. Wie tief saß da der PISA-Schock im Jahr 2000: das Leistungsniveau gerade in Deutschland deutlich unter dem internationalen Durchschnitt! Und nahezu der stärkste Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg überhaupt (vgl. Tabelle 1.1 unten)! hatte man nicht für möglich gehalten – auf beiden Seiten der bildungspolitischen Lager und der, wie gesagt, damals eher verhaltenen Kontroverse. Die Erklärung lag, wie es aussah, auf der Hand, zumal sich die Lage u.a. in Österreich und der Schweiz und ihren auch stark differenzierenden Systemen ähnlich darstellte und es u.a. in Schweden und besonders in Finnland mit ihren vollauf integrierten Systemen ganz anders zu sein schien: Je mehr Optionen ein Bildungssystem an getrennten Bildungswegen anbiete und je früher die Separation erfolge, umso stärker würden die »sozialen Disparitäten« bei der Bildungsbeteiligung, wie bei den Leistungen in der Sekundarstufe:
»… Deutschland (gehört) zu den Ländern, in denen die 15-Jährigen ein durchschnittliches Kompetenzniveau erreichen und in denen die Kopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb nachweisbar ist.« (Baumert und Schümer 2001: 402; Hervorhebungen nicht im Original)
Ein Gespenst geht um seitdem, ganz besonders in Deutschland, und alle drei Jahre wird gebannt auf den neuesten OECD-Bericht schon als eine Art Staatsereignis gewartet. »Kaum irgendwo sonst«, so heißt es seitdem in...