Island-Roman
Buch, Deutsch, 352 Seiten, Format (B × H): 1500 mm x 2100 mm, Gewicht: 460 g
ISBN: 978-3-937037-85-1
Verlag: Silver Horse Edition
Wie reagiert man, wenn im Leben alles schiefläuft, wenn
man glaubt, dass alles zerbricht und nichts mehr repariert
werden kann? Dies ist ein Abschnitt im Leben des isländischen
Teenagers Jón. Dieser Roadtrip ist nicht nur eine Reise
durch Teile eines wunderbar wilden Landes, es ist vielmehr ein
Sichtschacht in die Dunkelwelten einer jungen Seele. Lange
Tage als Einsiedler in der Kargheit des Hochlandes, eine zerbrochene
erste Liebe zu einem Mädchen in den Ostfjorden,
der ungeklärte Tod des geliebten Vaters: Fragen über Fragen
tauchen auf, die meisten bleiben ungelöst. „Lohnt sich das
Sterben eigentlich?“ fragt er einen Touristen, der ihn per Anhalter
mitnimmt Richtung Berufjörður im Osten der Insel. Oder
„Können die Toten aus dem Meer entkommen?“ Ein Roman,
den Kritiker im Vorfeld schon als „isländischen Tschick“ gelobt haben. Dramatisch, mit viel
Galgenhumor, aber auch mit viel Trauer gewürzt. Ein Roman, der die Natur der Insel ebenso
aufblättert wie die Gedanken und Gefühle eines Menschen, der zwischen zwei Welten lebt,
der zerfließenden Kindheit und dem langsamen Erwachsenwerden. Dem aber beide Welten
zuwider sind. „Blumen sind schon ok“, sagt er. „Aber ich mag keine Menschen!“
Zielgruppe
Island-Freunde, Kenner moderner Literatur, Coming of age
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
– XVI –
Am nächsten Tag klopft es. Er sitzt mit seiner Gitarre im Wohnzim- mer und versucht, einen Song zu schreiben. Natürlich für und über Sara. Aber irgendwie findet er keine passende Melodie. Er legt das Instrument beiseite und öffnet. Sara steht vor seiner Tür. Er ist so überrascht, dass er sie mit offenem Mund anstarrt.
»Passt es gerade nicht?» fragt sie besorgt.
Er fasst sich, stammelt ein »Nein, nein, wie kommst du auf die Idee?« bittet sie herein. Aber sie winkt ihn zu sich. Sie möchte nur mit ihm kurz am See sitzen. Er folgt ihr wie ein Hündchen. Dann sieht eine freundliche Sonne zu, wie zwei Menschen das stille Wasser bewun- dern. Leichter Wind kommt auf, aber es ist Hochsommer und warm. Sogar hier, an der Meeresküste, wo normalerweise ein kühleres Klima herrscht, hat es heuer ungewöhnlich warme Temperaturen. Der Junge denkt jetzt oder nie.
»Ich spring mal schnell ins Wasser, mir ist so warm!« erklärt er, zieht T-Shirt und Jeans aus und verschwindet mit einem Platscher in den blauen Fluten.
Der See ist nicht tief, bis etliche Meter vom Ufer kann man stehen. Hatte er damit gerechnet, dass sie ihm folgt, so sieht er sich getäuscht.
»Komm doch rein«, lockt er, »ist angenehm, gar nicht kalt!« Aber sie schüttelt den Kopf und bleibt an Ort und Stelle.
Hat er damit gerechnet, dass sie beim Anblick seines halbnackten Körpers schwach wird, sieht er sich ebenfalls getäuscht. Sie schaut ihn nicht mal an. Und hatte er gehofft, dass sie ihm folgt und er sie im Badeanzug oder gar Bikini sehen kann, nun ja. Dito. Schließlich kommt
er aus dem Wasser, schwer enttäuscht. Ok. Schon wieder einen Fehler
gemacht. War ja klar.
»Ja, ich werde mich schnell abtrocknen, bin dann gleich wieder da«, sagt er. Aber sie schüttelt den Kopf.
»Lass nur, ich gehe dann!« Das klingt nicht unbedingt euphorisch. Er steht vor ihr, zittert ein wenig, ist tropfnass.
»Aber warum denn?« Sie steht nur da und presst die Lippen auf- einander.
»Aber du bist doch extra… komm halt einfach mit rein, setz dich ins Wohnzimmer. Ich ziehe mich schnell um.«
»Weißt du, ich wollte mit dir reden, aber…« Sie stockt. Jón weiß nicht, was er mit der Situation anfangen soll. So ein Mist.
»Können wir doch, machen wir doch – gleich!« Schließlich traut er sich, fasst sie mit seinen nassen Händen an der Schulter und sieht sie bettelnd an. »Jetzt komm doch mit rein, bitte. Was hast du denn plötz- lich? Hab ich was falsch gemacht, sag‘s mir ruhig, ich weiß schon, ich kapier manchmal nichts!« Sie schüttelt den Kopf.
»Bist du sauer, weil ich in den See gesprungen bin? Habe ich sonst was verbrochen oder was?« Sie schweigt. Dann sagt sie plötzlich:
»Ist schon ok, gehen wir.« Sie sitzt auf der Wohnzimmercouch, als er von oben runterkommt, für beide Cola holt und sich neben sie setzt. Haben sie sich nichts zu sagen? Doch. Sie:
»Ich wollte dir schon lange sagen, dass unsere Ausritte sehr schön sind.« Er runzelt die Stirn. Ach, das ist alles?
»Ich weiß nicht, Sara, irgendwas ist schon komisch, meinst du nicht auch? Jetzt kennen wir uns nur ein paar Tage, aber mir kommt es vor, als seien es Monate. Ich bin…« – er sucht nach Worten, dann dreht er mit Daumen und Zeigefinger ihr Gesicht zu seinem hin, ganz sanft, ganz zart. Sie ist erstaunt, lässt es aber geschehen. »Ich bin… Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich bin so gern mit dir zusammen. Ich
glaub na ja...« Sie lächelt. Sie lächelt tatsächlich, aber nicht ihr Von- oben-herab-Lächeln, ganz freundlich, ganz lieb und souverän wirkt es.
»Soso, du glaubst also na ja..." Ihre Zöpfe, ihre Augen, ihre Lippen, denkt einer seiner Sinne. Inzwischen ist zu diesem Trio etwas Viert- es hinzugekommen. Ihr Körper, denkt er. Will es aber nicht denken. Denkt es trotzdem. Und vor lauter Denken denkt er nicht daran, dass er sich dem Mädchen auf Kussdistanz genähert hat. Beide sehen sich zwischendurch an, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt. Sie reißt sich schließlich los:
»Ich muss heim, zum Onkel. Packen.« Jón sieht sie mit offenem Mund an. Sein Lächeln ist gerade im Hlíðarvatn untergegangen.
»Was???«
»Ach, Jón, es ist doch so, dass ich nur ein paar Tage hier zu Besuch bin, das wollte ich dir eigentlich sagen. Und morgen geht’s zurück.« Er sieht sie immer noch fassungslos an.
»Mittags bringt mich mein Onkel bis nach Höfn. Dort holen meine Leute mich mit dem Auto ab. Ich wollte es dir am See schon sagen, aber du musstest ja unbedingt ins Wasser! Das war... halt nicht so pri- ckelnd, weißt du, deswegen habe ich so reagiert.«
Jón verschluckt sich an der Cola und hustet.
»Wie? Du gehst weg? Einfach so?« Sara hebt die Schultern.
»Ja, was soll ich denn machen, ich muss zurück. Aber, wir sind doch nicht aus der Welt«, tröstet sie sich und ihn, »wir tauschen Adressen und irgendwann treffen wir uns wieder!«
Als er sie nach wie vor ungläubig ansieht, streichelt sie ihm über die Wangen: »Dummkopf, jetzt schau doch nicht so! Ja, ich muss weg, aber ich flieg doch nicht zum Mond, wir sehen uns ganz sicher wie- der!«
Er zieht ihren Kopf zu sich heran und krault ihr das Haar, das sie heu- te offen trägt. Dann fragt er vorsichtig, ob sie sich am nächsten Vor-
mittag nochmals treffen können. Bei ihm. Und dabei sieht er sie mit einem Blick an, dem sie nicht ausweichen kann.
»Morgen früh, bevor ich fahre – ok, wir sehen uns nochmal. Verspro- chen!« sagt sie, schwingt sich auf von der Couch.
Doch Jón hält sie fest und schmiegt sich an das Mädchen. »Sara!« sagt er nur. Sein Blick bettelt. Sie windet sich aus seinen Armen.
»Ach Jón, bitte!« kommt aus ihrem Mund, dann verschwindet sie wie eine aufgelöste Fata Morgana und lässt einen großen, leeren Raum zurück. Jón sitzt lange, wo er vorher saß. Auch wenn er möchte – er kann einige Zeit nicht aufstehen. Endlich gelingt es ihm.
Die Nacht ist trübe. Schwarze Wolken haben einen Schutzschirm um den Himmel gezogen. Den Jungen stört alles nicht. Er liegt mit gro- ßen Augen in seinem Bett und starrt die Decke an. Wenigstens gibt es nichts zum Grübeln. Keine lästigen Gedanken. Nur Gefühle. Gefühle. Gefühle. Wieder diese gefährlichen Feinde, die sich heimlich einschlei- chen und nicht mehr aus dem Körper wollen, die alle Sinne umnebeln, die ihn fernsteuern von innen. Immer wieder liest er den Zettel, den sie ihm dagelassen hat. Ihr Name, ihre Adresse, ihre Telefonnummer, ihre Internetdaten. Und ein Pferdekopf, den sie ungelenk hingekritzelt hat. Er malt ihn aus, fügt die Seitenansicht ihres Kopfes hinzu. Ein Ja- nuskopf entsteht. Da Pferd, da Mädchen. Nein, das ist Blödsinn, sagt er sich, übermalt seine Zeichnung mit einem großen, dick ausgefüllten Stern.
Auf seinem Handy häufen sich die Herzchen, die schier unentwegt eintrudeln aus gar nicht so weiter Ferne. Schlaf gut, Jón! entziffert er.
»Ja, wie denn?« ruft er ins Zimmer. Er versucht krampfhaft an Schul- sachen zu denken, fingert sogar ein Mathebuch aus einem Regal, das er zum Lernen mit hierher genommen hat und überfliegt eine Auf- gabe. Aber das schwimmt alles davon. Vor seinem Gesicht gibt es nur eine Gleichung, und die hat einen Namen und einen wunderschönen Körper. Das Wetter rettet ihn. Eine heftige Regenfront zieht übers
Land. Schwerste Tropfen peitschen das Land. Natur kämpft gegen Na- tur. Die vor dem Fenster gewinnt. Denn nach ein paar verquälten Mi- nuten nickt er tatsächlich ein und döst weg aus dieser Welt.
Er ist ganz früh auf den Beinen, dreht eine Runde ums Haus, duscht, tritt vors Haus, geht wieder rein. Er macht Frühstück, tischt auf, was er an Vorräten noch finden kann, kocht Eier, stellt zwei Gläser bereit, macht Musik, irgendwas Sanftes von Sigur Rós. Gewaschen hat er sich inzwischen dreimal, viel Spray, Zähne geputzt, sein Zimmer aufge- räumt, in der Küche und im Wohnzimmer peinlichst sauber gemacht. Sogar rasiert hat er sich mit den vorsintflutlichen Utensilien, die ihm sein Vater hinterlassen hat. Also: Die noch immer glatte, haarlose Haut rasiert. Stimmt so nicht ganz. Am Kinn und an der Oberlippe hat er im Spiegel hauchdünne Pfirsichhärchen entdeckt. Zuviel für ein glattes Gesicht und zuwenig für einen Bart. Weg damit. Fünf Kilo Schaum und dann nochmals mit dem Rasiermesser drüber.
Noch wischt er die letzten Schaumreste aus dem Gesicht, als es klopft. Dreimal. Er reißt die Haustüre förmlich auf. Der Postmann. Ein Werbeschreiben und ein kleines Päckchen. Der neue Wasserhahn, den Einar noch für das obere Bad bestellt hat. Super! Aber dann geht er wieder vors Haus. Er will draußen warten, auf der kleinen Bank, auf der sie schon so oft saßen. Der See ist ruhig, die Sonne gnädig, warm, nicht unangenehm. Und als sie endlich den leichten Hügel herauf- kommt, mit Rucksack und großer Tasche in der Hand, hüpft etwas in ihm. Merkwürdig: Sie sieht aus der Ferne viel älter aus und wird immer jünger, je näher sie kommt. Hinter dem Mädchen entdeckt er ihren Onkel, der sie begleitet hat. Als er den Jungen sieht, hebt er die Hand zum Gruß, umarmt das Mädchen, spricht noch kurz mit ihr, schaut nochmals zu Jón, deutet auf sein eigenes Gesicht, dann dreht er ab.
Jón stutzt, fährt mit der Hand übers Gesicht, dann kapiert er und wischt schnell einen großen Flocken Rasierschaum weg, den er am Kinn übersehen hatte. Er springt auf, nimmt ihr die Tasche aus der Hand, stellt sie neben die Bank. Hilft ihr, den Rucksack abzulegen.
Dann sitzen sie nebeneinander und schauen auf das ruhige Wasser. Sara deutet mit einer Hand vage nach hinten. »Ólafur kommt mittags vorbei und holt mich ab. So gegen Zwölf. Ist das ok für dich?« Jón hört gar nicht richtig zu. Er nickt nur.
»Wie wär’s mit einem Frühstück in Jón’s Tausend-Sterne-Hotel?« Ihr Lächeln fasziniert ihn. Es beginnt ganz sachte, spielt um die
Mundwinkel, bis es ausbricht, sich auf dem ganzen Gesicht ausbrei-
tet. Sie strahlt richtig, freut er sich. Ihren Blick kann er nicht deuten. Aber ihre Arme versteht er. Und ihre Hände. Und die Reaktion seines Körpers.
»Später vielleicht…« antwortet sie lächelnd und steht auf. Später? Meint sie das jetzt wirklich? Irgendwann hält er das Zaudern und Zö- gern, das Genieren und das Umschreiben nicht mehr aus. Alles will er ihr sagen, sofort, öffnet den Mund, bringt jedoch nur »Ich...« heraus. Sie fährt ihm in den Satz:
»Jón, du bist ein so lieber Mensch!« sagt sie. Und als er mit offenem Mund dasteht wie ein Holzklotz, setzt sie noch hinzu: »Es soll ein schö- ner Abschied sein! Ich mag dich so sehr!« Er wird rot, stammelt etwas wie »So etwas wollte ich eigentlich dir sagen…« – kommt nicht weiter, da sie inzwischen so nahe ist, dass er in ihren Augen wie in einem Spiegel lesen kann.
Standhaft bleiben, liest er dort und Nein, liest er dort. Sara, liest er dort. Und plötzlich liest er gar nichts mehr, weil die Augen verschwim- men, zu einem endlosen See werden und die Lippen ihresgleichen su- chen und noch denkt er, dass sie sich anders anfühlen als… Aber dann drückt er den Schalter in seinem Denkzentrum auf off und schwimmt davon in einem Strudel aus Gefühlen. Das fast unhörbare Klacken, wenn zwei Zahnreihen leicht aneinanderstoßen, das vorsichtige Su- chen und sich Umschlingen zweier Zungen. Der wohlige Schmerz, der durch den Körper fährt, dass es sich anfühlt, als zögen sich sämtliche Muskeln gleichzeitig zusammen. Ein Bogen, der gespannt wird. Zwei
Münder, die sich öffnen und halb schließen, um ein Mund zu werden. Die selige Ohnmacht bei vollem Bewusstsein kommt über zwei Men- schen auf einer kleinen Bank vor dem Hlíðarvatn diesseits von Eden.
Standhaft bleiben, war seine Devise. Wenn man so will, trifft es durchaus zu, aber nur in einem ganz bestimmten Sinne. Der See sinkt in sich zusammen und wird Brachland. Fische schießen aus dem Was- ser und fliegen davon. Die Haustüre fällt aus den Angeln, die Treppe nach oben ebnet sich zu einem Laufband ins Unendliche. Durch das Fenster flattern Vögel als Traumwolken ins Zimmer. Die Welt wird ein einziges Mit- und Ineinander, eingebettet in einen Kosmos aus Zärt- lichkeit.
– XVII –
Sie sitzen am Frühstückstisch, eng aneinander gekuschelt. Musik streichelt die Wände. Draußen vor den Scheiben läuft ein merkwür- diger Film ab. Tiere kommen darin vor, Wasser, Wind, Berge. Der Kopf eines Bauern hüpft vorbei. Die Beiden haben nur Blicke füreinander. Hände werden gehalten, Schenkel liegt an Schenkel, Wange an Wan- ge. Nichts mehr denken, denkt der Junge, der an diesem Morgen viele Jahre älter geworden ist, aber merkwürdigerweise immer noch aus- sieht wie 15.
Irgendwann ist jedes Frühstück zu Ende. Nur das, was vorher ge- schehen ist, soll nie zu Ende sein. Das ist der Wunsch zweier Menschen. Aber die Zeit ist eine von den Bösen und sagt nein, auch ein gewisses Auto sagt nein. Und so führt der letzte Weg des Miteinanders eine Treppe hoch, in eine erstaunte Dusche, die zwei Menschen auf einmal bewässern muss, in ein Zimmer, das plötzlich wieder wie ein normales Zimmer aussieht. Ein Zimmer, das neben Möbeln auch viele Kleidungs- stücke beherbergt, die wahllos verstreut auf Stühlen, dem Bett und dem Boden liegen. Doch sie sind nicht Eigentum des Zimmers. Zwei Menschen sammeln die Kleider auf, stecken ihre Körper hinein, schlie- ßen die Tür, steigen die Stufen hinunter, die jetzt wieder eine normale Treppe ist. Sie nimmt ihre Tasche und ihren Rucksack auf. Den großen Rucksack, dessen Taschen viel fassen, Kleidung, Wasserflaschen, ein wenig Essbares, eine Geldbörse, ein Handy. Das alles füllt den schwar- zen, dicken Rucksack. Da fällt ein kleiner, roter Kieselstein gar nicht auf, eingebettet in all das Zeugs ringsum. Jón weiß ganz genau, in welcher der vielen kleinen Nebentaschen er steckt.
Er begleitet sie bis zur Hauptstraße. Von Ferne blitzt der Spitzturm




