Ewing Das Juwel - Die Gabe
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-402558-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Das Juwel
ISBN: 978-3-10-402558-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Amy Ewing ist selbst ein großer Fan von Fantasyliteratur. Sie ist in einer Kleinstadt bei Boston aufgewachsen, hat Kreatives Schreiben in New York studiert und lebt in Harlem. Bei FISCHER FJB erschienen die drei Bände ihrer ?JUWEL?-Trilogie, ?Die Gabe?, ?Die Weiße Rose? und ?Der Schwarze Schlüssel? die große internationale Erfolge und SPIEGEL-Bestseller waren.
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1
Heute ist mein letzter Tag als Violet Lasting.
So früh am Morgen sind die Straßen im Sumpf noch ruhig, man hört nur das Stapfen eines Esels und das Klirren von Glasflaschen, als ein Milchkarren vorbeifährt. Ich schlüpfe unter der Bettdecke hervor und ziehe mir den Bademantel über das Nachthemd. Der dunkelblaue Mantel, durchgescheuert an den Ellenbogen, hat früher meiner Mutter gehört. Er war mir immer zu groß, die Ärmel reichten über die Finger, der Saum schleifte über den Boden. In den letzten Jahren aber bin ich hineingewachsen – jetzt passt er mir so wie früher ihr. Ich liebe ihn. Der Bademantel gehörte zu den wenigen Habseligkeiten, die mir in Southgate nicht abgenommen wurden. Ich konnte von Glück sagen, überhaupt so viel mitnehmen zu dürfen. Die anderen drei Verwahranstalten sind deutlich strenger; in Northgate ist überhaupt nichts erlaubt.
Ich drücke das Gesicht gegen die geschwungenen schmiedeeisernen Stäbe vor meinem Fenster. Sie stellen eine Rose dar – als ob uns das hübsche Muster nicht dennoch einsperren würde.
Die unbefestigten Straßen glänzen mattgold im frühen Licht; fast kann ich mir einbilden, sie wären aus einem edlen Material. Die Beschaffenheit des Bodens hat dem Sumpf seinen Namen gegeben – Steine, Beton, Asphalt gingen in die reicheren Kreise der Stadt; für den Sumpf blieb nur der schwere braune Lehm, der nach Salz und Schwefel riecht.
Meine Nerven flattern wie kleine Flügel. Heute werde ich meine Familie sehen, zum ersten Mal seit vier Jahren. Meine Mutter, meinen Bruder Ocker und die kleine Hazel. Wahrscheinlich ist sie gar nicht mehr so klein. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie mich überhaupt sehen wollen, ob ich nicht eine Fremde für sie geworden bin. Habe ich mich sehr verändert? Ich kann mich nicht richtig erinnern, wie ich früher war. Was ist, wenn sie mich nicht wiedererkennen?
Mit einem ängstlichen Pochen in der Brust beobachte ich, wie in der Ferne die Sonne langsam über der Großen Mauer aufgeht, die die Einzige Stadt umgibt. Die Mauer, die uns vor dem wilden Meer dahinter schützt. Die uns Sicherheit bietet. Ich liebe Sonnenaufgänge noch mehr als Sonnenuntergänge. Irgendwie ist es aufregend, wenn die Welt in tausend Farben zum Leben erwacht. Hoffnungsvoll. Ich bin dankbar, diesen Sonnenaufgang erleben zu können. Ein Himmel in Rosa und Lila, der von rotgoldenen Streifen durchzogen wird. Ob ich so etwas wohl auch sehen werde, wenn ich mein neues Leben im Juwel begonnen habe?
Manchmal wünsche ich mir, nicht als Surrogat geboren worden zu sein.
Als Patienza mich abholt, liege ich, immer noch im Bademantel, zusammengerollt auf dem Bett und präge mir mein Zimmer ein. Es ist nicht groß: ein kleines Bett, ein Wandschrank und eine Kommode aus verblichenem Holz. Mein Cello lehnt in der Ecke. Eine Vase auf der Kommode wird jeden zweiten Tag mit frischen Blumen gefüllt, daneben liegen eine Bürste, ein Kamm, mehrere Haarbänder und eine alte Kette mit dem Ehering meines Vaters. Meine Mutter schenkte ihn mir, nachdem die Ärzte mich untersucht hatten. Kurz darauf kamen die Soldaten und holten mich ab.
Auch wenn vier Jahre vergangen sind: Ob ihr der Ring wohl gefehlt hat? Ob ich ihr wohl gefehlt habe, so wie sie mir? Die Ungewissheit liegt mir wie ein Stein im Magen.
Seit ich damals herkam, hat sich dieses Zimmer nicht sonderlich verändert. Keine Bilder. Kein Spiegel. Spiegel sind in den Anstalten nicht erlaubt. Das einzig Persönliche ist mein Cello – und das gehört eigentlich gar nicht mir, sondern Southgate. Wer wohl darauf spielen wird, wenn ich nicht mehr da bin? Komisch, aber ich glaube, dieses Zimmer wird mir fehlen, so langweilig und steril es auch ist.
»Wie kommst du zurecht, Schätzchen?«, fragt Patienza. Sie gibt uns immer Kosenamen, »Schätzchen«, »Mäuschen«, »Lämmchen«. Als hätte sie Angst, unsere richtigen Namen zu benutzen. Vielleicht will sie sich einfach nicht zu sehr an uns gewöhnen. Sie ist schon sehr lange Betreuerin in Southgate. Wahrscheinlich hat sie schon Dutzende von Mädchen in diesem Zimmer gesehen.
»Mir geht’s gut«, lüge ich. Es ist sinnlos, ihr zu sagen, wie es wirklich um mich bestellt ist – dass meine Haut kribbelt und ich ein schweres Gewicht ganz tief in mir spüre.
Ihr Blick prüft mich vom Scheitel bis zur Sohle, sie spitzt die Lippen. Patienza ist eine pummelige Frau mit grauen Strähnen im dünnen dunklen Haar. Ihre Miene ist so leicht zu deuten, dass ich errate, was sie sagen will, noch bevor sie den Mund aufmacht.
»Willst du das wirklich anlassen?«
Ich nicke, reibe den weichen Stoff des Bademantels zwischen Daumen und Zeigefinger und springe aus dem Bett. Surrogat zu sein hat auch seine Vorteile. Wir dürfen uns kleiden, wie es uns gefällt, dürfen essen, was uns schmeckt, dürfen am Wochenende lange schlafen. Wir bekommen eine Ausbildung. Eine gute Ausbildung. Wir werden mit frischen Nahrungsmitteln und Wasser versorgt, haben immer Strom und müssen niemals arbeiten. Armut soll für uns ein Fremdwort sein – und die Betreuerinnen erzählen uns, dass es uns noch bessergehen wird, wenn wir erst mal im Juwel leben.
Nur Freiheit werden wir nicht haben. Davon ist nie die Rede.
Patienza verlässt mein Zimmer, ich folge ihr. Die Korridore der Verwahranstalt Southgate sind mit Teak- und Palisanderholz getäfelt; an den Wänden hängt Kunst, bunte Farben, nichts Gegenständliches. Alle Türen sehen gleich aus, dennoch weiß ich, zu welcher wir gehen. Patienza weckt uns nur, wenn wir einen Arzttermin haben, wenn es einen Alarm gibt oder wenn der Tag der Bilanz gekommen ist. In diesem Stockwerk gibt es außer mir nur ein Mädchen, das morgen zur Auktion geht. Meine beste Freundin, Raven.
Ihre Tür steht offen, Raven ist schon angezogen. Sie trägt eine hochtaillierte braune Hose und einen weißen Pulli mit V-Ausschnitt. Ich weiß nicht, ob Raven hübscher ist als ich, denn ich habe mein Spiegelbild seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Aber ich würde schon behaupten, dass sie eins der schönsten Surrogate in Southgate ist. Wir haben beide schwarze Haare, aber das von Raven ist relativ kurz, glatt und glänzend, während mir meins in Wellen bis auf den Rücken reicht. Ravens Haut hat einen satten Karamellton, ihre Augen sind mandelförmig und fast so dunkel wie ihr Haar. Ihr Gesicht ist ein perfektes Oval. Sie ist größer als ich, und das will schon etwas heißen. Ich habe einen elfenbeinfarbenen Teint, ein starker Kontrast zu meinen Haaren, und violette Augen. Um das zu wissen, brauche ich keinen Spiegel. Ich wurde nach meinen Augen benannt.
»Großer Tag heute, hm?«, sagt Raven zu mir und gesellt sich zu uns in den Gang. »Das willst du heute anziehen?«
Ich überhöre ihre Frage. »Morgen wird ein noch größerer Tag.«
»Stimmt, aber morgen können wir uns nicht aussuchen, was wir tragen. Und danach auch nicht mehr. Also … eigentlich nie wieder.« Sie schiebt sich eine Strähne hinters Ohr. »Ich hoffe, dass ich bei derjenigen, die mich kauft, in Hosen herumlaufen darf.«
»Da würde ich mir keine allzu großen Hoffnungen machen, Spätzchen«, sagt Patienza.
Ich muss ihr zustimmen. Das Juwel scheint kein Ort zu sein, wo Frauen Hosen tragen, höchstens vielleicht die Dienstmädchen, die im Verborgenen arbeiten. Selbst wenn wir von einer Kaufmannsfamilie aus der Bank ersteigert würden, wären Kleider wahrscheinlich die Aufmachung der Wahl.
Die Einzige Stadt ist in fünf Kreise unterteilt, die jeweils durch Mauern voneinander getrennt sind. Außer dem Sumpf tragen alle eingängige Bezeichnungen, abgeleitet von der dort vorherrschende Erwerbstätigkeit. Der Sumpf ist der äußerste Ring, der ärmste. Dort gibt es keine Industrie, dort stehen die Unterkünfte der meisten Arbeiter, die in den anderen Kreisen ihr Geld verdienen. Der vierte Kreis ist die Farm, wo die Lebensmittel produziert werden. Dann kommt der Schlot, wo die Fabriken stehen. Der zweite Kreis nennt sich Bank, weil dort die ganzen Kaufleute ihre Geschäfte haben. Und dann gibt es den innersten Kreis, das Juwel. Das Herz der Stadt. Dort leben die Angehörigen des Adels. Und dort werden ab morgen auch Raven und ich leben.
Wir folgen Patienza die breite Holztreppe hinunter. Düfte von frisch gebackenem Brot und Zimt wehen aus der Küche zu uns herauf. Sie erinnern mich daran, dass meine Mutter an meinem Geburtstag Zimtschnecken backte, ein Luxus, den wir uns nur selten leisten konnten. Jetzt kann ich Zimtschnecken essen, wann immer ich will, aber sie schmecken nicht mehr so gut wie früher.
Wir kommen an einem Klassenzimmer vorbei – die Tür ist offen, ich verharre kurz, um hineinzusehen. Die Mädchen sind noch jung, wahrscheinlich erst elf oder zwölf Jahre. Neuankömmlinge. So wie ich damals. Damals, als Auspizium lediglich ein Wort war und bevor mir erklärt wurde, dass ich etwas Besonderes bin, so wie alle Mädchen in Southgate. Dass wir durch eine Abweichung im Genpool die Fähigkeit besitzen, den Adel zu retten.
Die Mädchen sitzen an Pulten, neben ihnen stehen kleine Eimer, vor ihnen liegen säuberlich gefaltete Taschentücher. Fünf rote Bauklötze sind vor jeder Schülerin aufgereiht. Eine Betreuerin sitzt an einem großen Schreibtisch und macht sich Notizen. Hinter ihr an der Tafel steht das Wort GRÜN. Die Kinder üben das erste Auspizium, Farbe. Halb lächele, halb zucke ich zusammen bei der Erinnerung an all die Male, die ich diesen Test ablegen musste. Ich beobachte das Mädchen, das mir am nächsten ist, und drehe einen imaginären Baustein in den Händen, während sie zu einem roten Klotz greift.