E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Falkner Apollokalypse
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8270-7894-0
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7894-0
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georg Autenrieth ist eine zwielichtige Gestalt in zwiegesichtigen Zeiten, immer wieder taucht er auf in Berlin, der Mann aus Westdeutschland, hält Kontakt mit der Szene, durchsucht die Stadt und konfrontiert Laster, Lebensgier und Liebeskunst. Wohin aber verschwindet er dann? Wer ist der »Glasmann«? Und welche Rolle spielen seine Verbindungen zur RAF? Gerhard Falkners »Apollokalypse« ist ein Epochenroman über die 80er und 90er Jahre. Dem Vergeuden von Jugend, der Ausschweifung jeglicher Couleur und der Hypermobilität stellt er einen rauschhaften Rückverzauberungsversuch der Welt entgegen. Bulgakows Meister und Margarita begegnet dem Ferdydurke von Gombrowicz und Oskar Matzerath schrammt an Tyron Slothrop, Bruno Schulz und Wilhelm Meister. Die Hauptrolle spielt die Stadt Berlin selbst, haufenweise gehen Künstlerexistenzen an ihrer magischen Gestalt in die Brüche. Und wenn die RAF sich über den BND mit der Stasi berührt, gerät die Zeitgeschichte unter das Messer der Psychiatrie. Am Schluss nimmt der Teufel leibhaftig das Heft in die Hand. Ein mythologischer Roman von unvergleichlicher Sprachmächtigkeit.
Gerhard Falkner, geboren 1951, zählt zu den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart. Er veröffentlichte zahlreiche Lyrikbände, u.a. »Hölderlin Reparatur«, für den er 2009 den Peter-Huchel-Preis erhielt, und zuletzt »Ignatien« (2014). Für seine Novelle »Bruno« wurde ihm 2008 der Kranichsteiner Literaturpreis verliehen. Nach Aufenthalten in der Villa Massimo/Casa Baldi und der Akademie Schloss Solitude war er 2013 der erste Fellow für Literatur in der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul und 2014 Stipendiat in der Villa Aurora in Los Angeles. Seine Romane »Apollokalypse« (2016) und »Romeo oder Julia« (2017) standen auf der Long- bzw. Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurden von der Kritik gefeiert. Gerhard Falkner lebt in Berlin und Bayern. Bio 2: für Übersetzungen: Gerhard Falkner, einer der vielseitigsten und wichtigsten zeitgenössischen Autoren Deutschlands, übersetzt seit vielen Jahren gemeinsam mit der freischaffenden Künstlerin Nora Matocza aus dem Englischen, u.a. Werke von Anne Michaels, Tom Drury und Mark Z. Danielewski.
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Nach der Schlacht
Es könnte Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre einen Mann gegeben haben, der auf der Oranienstraße, zwischen Moritzplatz und Mariannenstraße, einem Frühlingstag ins Auge geblickt hat, an den er sich später nicht mehr erinnert. Es mag ein schwach von der Braunkohle gesüßter Frühlingstag gewesen sein, April oder Anfang Mai, wie er für SO 36, wo es noch unzählige Wohnungen mit Kaminfeuerung gab, typisch war. Vielleicht kam die Süße der Braunkohle auch aus dem Osten, der jenseits der Mauer darauf wartete, vom Westen verheizt zu werden. Nirgends war der Osten so nah wie in Kreuzberg. Das Frühlingslicht schien den lebhaft aufglühenden Fassaden einmassiert wie Sonnenöl den Rücken badender Frauen am Wannsee. Die Naunynstraße stand noch ganz in ihrer unrenovierten Strenge und Riehmers Hofgarten zeigte gelassen die abgetakelten Züge würdiger Verwitterung. Darüber hinaus brachten entweder die Türken Farbe rein mit ihren Obstkisten-Barrikaden vor den Geschäften oder die Autonomen mit auf Bettlaken gesprühten und aus den Fenstern gehängten Kampfparolen oder Hausbesetzersprüchen. Ich lebe nun schon, solange ich denken kann, und es ist auch eine Menge in meinem Gedächtnis haften geblieben, aber an diesen besagten Tag konnte ich mich tatsächlich nicht mehr erinnern. Vielleicht, weil er den vielen anderen so ähnlich war, die sich, wenn man es denn genau nähme, alle nicht wirklich glichen. Aber in dieser Geschichte wird meinem Gedächtnis ja auf die Sprünge geholfen. Der Mann, von dem ich wahrheitsgemäß behauptet habe, nicht zu wissen, dass ich es selbst gewesen sein könnte, wird mit dem Orientexpress, wie die Linie 1 der Türken wegen genannt wurde, vom Nollendorfplatz gekommen und am Kottbusser Tor ausgestiegen sein. Durch das heillose Fiasko von Hunden, Punks, Türken, Trödlern, Freaks, Junkies und Müslis wird er hinübergegangen sein in die Oranienstraße, um dort, vielleicht in der O-Bar, in der ich in jenen Jahren tatsächlich verkehrte, einen Drink zu nehmen. Diese Bar war damals einer der ersten Orte im Land, der wirklich cool war. Und cool hieß: schwarz, stolz, stumm und grundlos selbstverliebt. Kreuzberg kochte in diesen Tagen ein Süppchen, von dem sich heute weder der Kessel noch auch nur Spuren des Gebräus wiederfinden. Es war ein schwarzes Loch, über dem die bunteste aller möglichen Sonnen explodierte und in dem die Nacht sich durch die Straßen bewegte wie eine Künstlerin oder eine Kakerlake. Kreuzberg war Westberlins kritische Zustandsgröße, der Übergang von der festen in die, wie wir damals sagten, zweitfeste Wirklichkeit. Welche der allgemeinen geistigen Verfassung die zuträglichere war, darüber wurde gestritten. Warum jeder Dritte, den ich kannte – dies nur nebenbei bemerkt –, in der Wrangelstraße wohnte, so wie später, nach der Wende, jeder Dritte in der Dunckerstraße, ist mir schleierhaft. Hätte er, oder ich in diesem Falle, sich erinnert, so, wie Henriette sich erinnert haben muss, würde er wissen, dass dieser Tag begann wie eine gewisse Erzählung Dostojewskis. Man erwartete zum Mittagessen wichtige Leute, auch wenn die Aufmachung dieser Leute von der gewöhnlichen Aufmachung wichtiger Leute, und erst recht von der Aufmachung wichtiger Leute heute, ziemlich abwich. Das Treffen fand in der Wrangelstraße statt. Mit dem Rücken gegen das offene Fenster im vierten Stock gelehnt hätte ich, oder er, der nun ich gewesen sein soll, auf der gegenüberliegenden Hauswand die von einer Kalaschnikow durchbohrten Initialen RAF lesen können, während der Trupp wichtiger Leute, einschließlich Henriette, nachdem man schließlich vollzählig war, über einen durch einen Schrank verdeckten Mauerdurchbruch in die angrenzende Wohnung verschwand. Das Mittagessen wurde mit größter Wahrscheinlichkeit aus dem Papier eingenommen. Trotz aller Stilbrüche hatte die Operation etwas Bestechendes. Vielleicht hatte ich das Ganze absichtlich vergessen, weil es mich gekränkt hatte, von diesen Desperados wie Luft behandelt zu werden. Man muss es mir angesehen haben, dass ich von einem anderen Stern kam. Nach einer halben Ewigkeit war es dann endlich Nachmittag. Zwecklos, sich heute auf die genaue Uhrzeit besinnen zu wollen. Irgendwann um die Zeit, als er zu träumen begann, und zwar nicht wie die Mädchen, sondern wie die Tiere. Die Männer und Gudrun, neben Henriette die einzige Frau, waren durch das Wandloch zurückgekehrt, schoben den Schrank wieder davor, und weg waren sie. Ihre Stimmen hallten noch eine Weile durchs Treppenhaus. Dann erstarben sie, und nach dem Zufallen der Haustür schien die Straße plötzlich stummgeschaltet. Nach einer weiteren halben Ewigkeit trat Henriette mit einem schweren, blauen Handtuch umwickelt aus ihrem badewannenlosen Bad ohne Dusche. Augenblicklich stellte ich mir vor, es sei Winter. Die milde Luft, die durch das Fenster hereinströmte, vermochte das nicht zu verhindern. Henriette wirkte auf mich mit dem polaren Weiß ihrer Haut wie die Abgeordnete einer eisigen Region, die mir die in blaue Baumwolle gewickelte Frühlingsbotschaft zu überbringen gedachte. Mein limbisches System nahm eine kleine körpereigene Dusche. Obwohl man damals immer in dem Gefühl lebte, mit allem rechnen zu müssen, erinnerte nichts in diesem Augenblick an die Möglichkeit, der Kommunismus könnte die Segel streichen oder das Leben könnte damit aufhören, einen verrückten Tag nach dem anderen zu spendieren. Es war noch das Kreuzberg der auf dem Boden liegenden Matratzen, der gardinenlosen Fenster, selbstgebastelten Bücherregale und Chai Tees. Auch Momente des Glücks nahmen hier notfalls behelfsmäßig ihren Lauf. In eine dieser auf dem Boden liegenden Matratzen trieb nun, nachdem das blaue Handtuch kurzerhand zum offenen Fenster hinausgesegelt war, Henriette ihre schrillen, spitzen Seufzer wie Polsternägel, und die Kohlmeisen, die draußen monoton nach ihren Partnern bimmelten, stimmten ein. Wäre Henriette, die sich nie Rieke nennen lassen wollte und die auch nicht vorhatte, früh zu sterben, damals nicht mit jenem Mann zusammen gewesen, der vielleicht für beides verantwortlich war und der mit seinem runden, gedrungenen Kopf und seinem kleinen, wagemutigen Körper Alleinanspruch auf sie erhob, wäre ich, oder der, für den ich mich inzwischen wohl halten muss, wahrscheinlich gleich über Nacht bei ihr geblieben. So aber wurde jener kleine, wagemutige Körper, der nicht nur eine Strickmaske, sondern auch eine Waffe besaß und den besagte Abordnung um 18 Uhr in einer Kaschemme hinter dem Mariannenplatz treffen wollte, in Kürze erwartet, und ich hatte das Feld zu räumen. Ich sollte ab Mitternacht in der Roten Harfe nach einem Lutzi fragen, der den Schlüssel zu einer Wohnung dabeihaben würde, in der ich übernachten konnte. Jene Nacht, jedenfalls knapp zwei Stunden davon, verbrachte ich, wie ich heute weiß, in der Eisenbahnstraße. Ein ebenfalls kleiner Mann mit fanatischen Augen und einem Gipsfuß gab mir den Schlüssel, als ich kurz vor zwei in diesem überwiegend aus Zigarettenrauch bestehenden Laden eintraf. Teufel noch eins, dachte ich, hier mischen sich aber die Sphären. Alle Gesichter waren vom Qualm wie in Watte gepackt und viele Stühle und Stimmen waren umgeworfen vor lauter Lärm. Die Wohnung lag wie gewöhnlich im vierten Stock rechts. Egal, wo ich damals hinmusste, immer lagen die Wohnungen im vierten Stock rechts. Im Treppenhaus reichte der trübe Schimmer der Nacht, um das Schlüsselloch zu finden. In der Wohnung selbst aber gab es nicht einmal eine Ahnung von Licht. Sie musste durch Gummivorhänge oder dergleichen verdunkelt sein. Die Augen schienen wie zugenäht von der Schwärze. Egal, wie lange mein Arm mit wehenden Bewegungen die Wand abtastete, kein Schalter gab sein Versteck preis. Kein Laut, kein Licht, kein Drink, kein Blick, keine Unterlage – nichts. Wie der blinde Seher, die Arme so vorgestreckt, dass die Finger auf Gott deuteten, durchwatete ich die Schwärze, bis mein Fuß gegen den federnden Widerstand einer Kreuzberger Bodenmatratze stieß, auf die ich hinabglitt. Die Art, wie diese Wohnung den Augen einfach keine Hoffnung versprach – und nicht einmal, wie noch die dunkelsten Kinos der Welt, nach einer Weile wenigstens Konturen preisgab –, ließ mich eine Weile steif und mit gerecktem Hals dasitzen, bis mir klar wurde, dass diese Finsternis durch keine lauernde Haltung je zu bezwingen war. Mein ganzer Körper wölbte sich wie ein Parabolspiegel, um entlang eines doch wohl ganz sicher irgendwo angehaltenen Atems endlich den Horizont eines heimlichen Luftschöpfens aufzufangen. Keine Chance. Dennoch schien es mir mit der Zeit, während ich dalag und kaum atmete, immer wahrscheinlicher, dass diese Wohnung in ihrer undurchdringlichen Finsternis mit einer weiblichen Person ausgerüstet war, einer Person, irgendwo zwischen Angst, Schlaf oder Betäubung. Entweder nur durch eine angelehnte Tür getrennt oder sogar direkt in diesem Raum, auf einer am anderen Ende liegenden Matratze. Eine Frau, die vielleicht nicht nackt dalag, nicht lustvoll geblendet von der Dunkelheit und begierig, von mir entdeckt zu werden, wie mir ein aberwitziger Gedanke weismachen wollte, je dichter sich mein Registrationsschirm mit Partikeln ihrer Existenz beschlug, sondern die in dieser Dunkelheit einfach untergebracht war. Versteckt. Vergraben. Eingemauert. Vielleicht auch gekocht oder zerstückelt. Was konnte ich schon wissen. Das Spüren wurde so stark, dass meine Ohren dünn und hart wurden wie Glas, die das kleinste Hämmerchen eines Lauts hätte zerspringen lassen. Meine Finger spreizten sich im Gegenzug so nervös, als müssten sie totes Fleisch berühren, und sogar die Zähne, vom Schutz der Lippen durch die Anspannung teilweise...