Fava | Bevor sie Euch töten | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Fava Bevor sie Euch töten

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30367-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-293-30367-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Vier Männer halten sich in den Bergen Siziliens versteckt, alle gegen ihren Willen zu Banditen geworden. Denn in dieser Welt des Umbruchs nach dem Weltkrieg gilt ein Menschenleben wenig. Die Reichen lassen prügeln und morden, und die Armen, gedungen und gezwungen, müssen es selber tun. Paolo, Antonio, Lorenzo und Michele versuchen um jeden Preis, einen Pass nach Venezuela zu bekommen. Aber ihr Traum vom besseren Leben wird sich kaum je erfüllen, das wissen sie im Grunde schon längst. Für die Menschen in den Dörfern ist es nicht anders. Es bleibt wenig Zeit zum Nachdenken in diesem verzweifelten Sizilien; es bleibt kaum Zeit, ein paar Augenblicke zu leben, »bevor sie euch töten«.

Giuseppe Fava, geboren 1925 in Palazzolo (Provinz Syrakus), wurde am 5. Januar 1984 vor dem von ihm gegründeten Theater in Catania, in dem sein Anti-Mafia-Stück L'ultima violenza (»Die letzte Gewalttat«) aufgeführt wurde, ermordet. Als Romancier, Dramatiker und Journalist hatte er sich mit der mafiosen Gesellschaft seiner Heimat auseinandergesetzt. Ehrenwerte Leute schrieb Fava 1975. Der Roman wurde unter dem Titel Werkzeug der Mächtigen von Luigi Zampa verfilmt.
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Das Glück


Vier Männer lebten seit vielen Monaten auf einem Gipfel, der sich, vierzig Kilometer vom Meer entfernt, öde und nach allen Seiten steil abfallend, über das umliegende Bergland erhob. Unten hatte sich früher eine kleine Eisenbahn talabwärts zum Meer geschlängelt, aber jetzt wuchs Gras auf den Gleisen. Hier und da an den Hängen leuchtete noch das Rot der Bahnwärterhäuschen, in denen die Hirten schliefen, wenn sie ihre Herden auf die Winterweide trieben. Früher hatten sich in diesen Bergen und Schluchten Wolfsrudel mit fünfzehn oder zwanzig Tieren herumgetrieben, doch dann hatte die Regierung eine Prämie von hundert Lire pro Tier ausgesetzt, und binnen weniger Jahre waren sie fast ausgerottet worden. Jetzt gab es nur noch ein paar Vipern, Wildkaninchen und viele tausend harmlose Schlangen, die so groß wie ein Fahrradschlauch waren.

Die vier Männer hießen Lorenzo, Paolo, Michele und Antonio. Nachts schliefen sie in einer Hütte, die vor fünfzig Jahren von Wolfsjägern zum Schutz gegen den Schnee errichtet worden war. Sie besaßen Zigaretten, Büchsenfleisch, Dosenmilch und Zwieback, um sich zu ernähren, eine alte Wagenlampe, vier Strohsäcke als Matratzen und ein paar Decken, in die sie sich zum Schlafen einrollten.

Wenn es geregnet hatte, sammelten sie die großen, schwarzen Schnecken, die unter dem Berggestein hervorschauten, und aßen sie. Immer zehn wurden mit dem Schneckenhaus auf Eisendraht gezogen und auf kleine Steine gehäuft. Dann entzündete man mit dürren Ästen ein Feuerchen und briet die Schnecken in ihrem eigenen Saft. Später, wenn das Holz heruntergebrannt war, saßen die Männer um die heißen Steine herum und klaubten die Schnecken aus der Asche. Eine nach der anderen wurden sie mit der Messerspitze herausgepult und mit Brot verzehrt. Lorenzo lachte dabei und berührte Antonios Hose mit der Messerspitze, direkt am Latz.

»Diese Schnecken sind unübertrefflich«, sagte er. »Es gibt nichts Anregenderes als eine Schnecke. Du kriegst so einen Ständer!«

Mehr als irgendetwas wünschten sie sich eine Frau. Paolo, der sechsundzwanzig Jahre alt war, wurde fast wahnsinnig. Im Gras liegend, entblößte er sich, betastete sein Glied, als wäre es der Hals einer Mandoline, und träumte von einer zarten Hand.

Die anderen lachten und bewarfen ihn mit Steinen wie einen Hund. Er wälzte sich röchelnd im Gras, zuckte und seufzte laut, wenn es ihm kam. Dann lag er wie tot da. Er war jung und mager, hatte dichte Augenbrauen und sehr langes, schwarzes Haar, dünne Arme und einen schmächtigen Brustkorb. Auch die Hände waren feingliedrig, denn er war lange Jahre Barbier gewesen.

Seine Gefährten dagegen waren muskulös – auch Lorenzo, der schon alt, klein und mager war. Er war zweiundsiebzig. Tag und Nacht lief er in abgetragenen roten Stiefeln herum, hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen und verwahrte in seinen Taschen unzählige Dinge: Bindfäden, Heiligenbildchen, Kerzenstummel, Kippen, Zündhölzer und sogar alte Kupfermünzen, Nägel und Patronenhülsen. Da er alt war, hatte er kaum noch Zähne, und sein Gesicht war entlang der Mundhöhle eingefallen. So kaute er sorgfältig auf dem Essen herum, bis nur noch ein paar Krümel in den Mundwinkeln am Barthaar hängen blieben. Sein Leben lang war er Hirte gewesen und zuweilen auch Bänkelsänger, so dass er ganze Gesänge des Rolandsliedes auswendig konnte.

»Du bist ein Tier!« spöttelte Antonio manchmal. »Du bist ein analphabetischer Hirte. Ich kann lesen und schreiben, deshalb bin ich dein Herr!«

»Ich schneid ihn dir ab«, antwortete der Alte und packte Antonio bei der Hose. Vor Lachen liefen ihm die Tränen über die Wangen, und er musste husten. Auch Antonio musste lachen und schlug ihn mit der Faust auf den Kopf, um freizukommen. Er war groß wie ein Stier, und seinem Kinn und den Händen sah man an, dass er stark war und grausam sein konnte. »Ihr werdet es erleben«, rief er, »dass wir eine Frau kriegen. Zuerst muss sie nackt auf allen vieren kriechen. Ich werde sie etwas peitschen, um sie zu erregen. Der Hintern muss blutig sein!«

Er fletschte die Zähne. Speichel lief aus seinem Mund. Dann biss er sich in die Hand.

»Jungfrauen und Huren, wo seid ihr?«

»Alle Weiber sind erst Jungfrauen und dann Huren«, sagte Paolo Chillemi. »Fragt Michele. Der weiß Bescheid. Er hat eine Sechzehnjährige entjungfert.«

Michele lag auf den Steinen, hatte sich in seine Decke gehüllt und antwortete nicht. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, der jüngste und der unglücklichste von allen. Er grübelte unentwegt.

Eines Tages kam eine Hure aus Catania für zwanzigtausend Lire in eines der Bahnwärterhäuschen an der ehemaligen Eisenbahnlinie unten im Tal. Sie nannte sich Ciuzza, war klein und kräftig, schwarzhaarig und noch fest im Fleisch, obwohl sie mindestens vierzig war, aber ihre Augen glänzten vor Müdigkeit. Ihre Brüste waren groß, plump und von den Hieben und Kratzern ihrer Freier gezeichnet.

Paolo holte sie vom Postbus an der Provinzstraße jenseits der Hügel ab und begleitete sie das Tal hinauf. Argwöhnisch sah sie sich um.

»Warum gibt es hier keine Häuser?« fragte sie. »Krieg ich nachher etwas Weißbrot?«

Paolo packte sie, zog ihr den Rock hoch und presste sich an sie, aber sie trat und schlug um sich und floh die Böschung hinauf.

»Jetzt nicht! Nicht hier!« schrie sie. »Ich schlage dir den Schädel ein.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Paolo lachend. Er spürte, wie sein Glied bebte. »Ich wollte nur als Erster ran!«

»Der Erste wolltest du sein?« Ciuzza lachte ebenfalls. »Du Tier!«

Sie erreichten das Häuschen. Innen war bereits aus Stroh ein Lager hergerichtet worden, auf dem eine Wolldecke lag. Den ganzen Nachmittag und die Nacht über lagen sie bei der Frau. Antonio schrie und lachte, dass man es bis zum Fluss hinunter hörte. Er war wie von Sinnen und prügelte sich sogar mit ihr. Aber Ciuzza hatte keine Furcht, schlug ihre Fingernägel in seinen Rücken, in den Nacken und beschimpfte ihn. Antonio zerrte an ihren Haaren, um sie zu bändigen, und drückte sie an sich. Er zuckte und zitterte wie ein Kampfstier und wollte nicht aufhören.

»Schöne, du Schöne«, murmelte er, »zeig mir, dass es dir Spaß macht!«

»Was verlangst du für fünftausend Lire«, schrie Ciuzza, »willst du mich umbringen?«

Ihr Atem ging heftig, und sie schlug ihn mit den Fäusten ins Gesicht, aber zum Schluss begann doch die Lust in ihr zu kribbeln, und sie beruhigte sich und schloss die Augen. Ein paar Mal verkrampfte sich ihr Körper und entspannte sich wieder, und ihr Gesicht war nass vor Schweiß. Ihr heiseres Wimmern erregte die anderen vor der Hütte so, dass sie sich im Gras wälzten.

Als es dunkel wurde, aßen sie Brot, Marmelade und Büchsenfleisch und saßen an den Rinnsalen des Flusses. Paolo, Antonio und Michele streckten sich im dichten Gras aus und begannen zu rauchen. Lorenzo war mit der Frau in der Hütte, weil er an der Reihe war. Nackt lagen sie nebeneinander, und Ciuzza schien erschöpft zu sein. Sie schaute ihn an und streichelte ihn sanft mit den Fingerspitzen. »Du Armer«, sagte sie, »wie mager du bist! Sprichst du nicht mit deiner Ciuzza?«

Sie umarmten sich, lagen reglos beieinander und beschnupperten sich. Ihr Schweiß war sauer.

»Was treibt ihr in den Bergen?« fragte Ciuzza, ohne ihn anzublicken. »Was macht ihr alleine in den Bergen?«

Der alte Lorenzo ließ ein listiges Lächeln über sein faltiges Gesicht huschen und sagte nichts. Er genoss das hübsche Stück Fleisch, das auf ihm lastete, und betrachtete die großen, blaugeäderten Brüste.

»Wir wehren uns gegen die Schlangen«, sagte er endlich. »In den Bergen gibt es Tausende davon. Sie kriechen umher und stürzen sich von den Klippen. Die Schlangen versuchen, uns umzubringen, und wir versuchen, die Schlangen umzubringen. So vergehen die Tage.«

Die Frau lachte unwillkürlich und zupfte an den Härchen auf seiner Brust. Dann schüttelte sie sich und sagte: »Ich fürchte mich vor Schlangen.«

Sie drückte Lorenzos Kopf mit zwei Fingern in ihre Blickrichtung.

»Und wer ist dieser Michele? Er nahm sich nicht mal die Zeit, mit mir zu reden, sprang auf mich drauf und war schon drin. Seine Zähnen klapperten vor Anstrengung, und er war steif wie ein Brett. Kein Wort, keine Zärtlichkeit hat er sich gegönnt. Er wollte nur rasch fertigwerden!«

Lorenzo sagte nichts, und Ciuzza betrachtete ihn.

»Weißt du, was ihm fehlt?«

»Wer weiß«, antwortete Lorenzo.

Eine Weile lag sie auf ihm. Als sie ihn mit ihren Lippen unter der Wolldecke bedrängte, zitterte und lachte er. Sein ganzer Leib lachte, und all seine Wollust schien sich darin zu entladen. Er versuchte, sich zu entziehen, aber sie lag auf ihm, schwer und schwitzend.

»Süßer, zeig mir, dass du ein Mann bist«, flüsterte Ciuzza. »Worauf wartest du? Es ist spät.«

»Ich bin alt«, stöhnte Lorenzo, der kaum Luft bekam. »Was hast du nur in der Zunge? Den Teufel?«

Sie biss sanft in sein Ohr.

»Schluss jetzt, beim nächsten Mal zeige ich dir einen Trick!«

Doch Ciuzza kehrte nie zurück in jenes wüste Tal am Fuß der Berge und sah auch keinen der vier Männer jemals...


Fava, Giuseppe
Giuseppe Fava, geboren 1925 in Palazzolo (Provinz Syrakus), wurde am 5. Januar 1984 vor dem von ihm gegründeten Theater in Catania, in dem sein Anti-Mafia-Stück L’ultima violenza (»Die letzte Gewalttat«) aufgeführt wurde, ermordet. Als Romancier, Dramatiker und Journalist hatte er sich mit der mafiosen Gesellschaft seiner Heimat auseinandergesetzt. Ehrenwerte Leute schrieb Fava 1975. Der Roman wurde unter dem Titel Werkzeug der Mächtigen von Luigi Zampa verfilmt.

Chotjewitz, Peter O.
Peter O. Chotjewitz, geboren 1934 in Berlin, ursprünglich Jurist, veröffentlichte Romane und Erzählungen, schrieb zahlreiche Hörspiele und arbeitete für verschiedene Zeitungen und als Übersetzer. Er starb 2010 in Stuttgart.



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