Fava | Ehrenwerte Leute | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Fava Ehrenwerte Leute

Kriminalroman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30368-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-293-30368-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als die junge Lehrerin Elena in einem sizilianischen Bergdorf eine Stelle antritt, wird sie über Nacht zur Respektsperson. Wer sie beleidigt, wird am nächsten Morgen tot auf der Piazza gefunden. Ein undurchschaubares, unerklärliches Netz ist um sie gesponnen. Sie steht unter dem Schutz »ehrenwerter« Leute und weiß nicht warum. Das Dorf wird ihr zum Albtraum. Ein Kriminalroman ohne Täter, ohne beruhigende Aufklärung der Morde, ohne sichtbare Motive. Ein Schlüssel zum absurden Gesetz des Schweigens.

Giuseppe Fava, geboren 1925 in Palazzolo (Provinz Syrakus), wurde am 5. Januar 1984 vor dem von ihm gegründeten Theater in Catania, in dem sein Anti-Mafia-Stück L'ultima violenza (»Die letzte Gewalttat«) aufgeführt wurde, ermordet. Als Romancier, Dramatiker und Journalist hatte er sich mit der mafiosen Gesellschaft seiner Heimat auseinandergesetzt. Ehrenwerte Leute schrieb Fava 1975. Der Roman wurde unter dem Titel Werkzeug der Mächtigen von Luigi Zampa verfilmt.
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Der Beamte des Schulamts ließ den Finger über das Register gleiten. Er war ein erstaunlich kleiner Mann mit winzigen Händen und zwei wunderschönen weißen Haarsträhnen. Seine Gesten wirkten gereizt, und er bekam einen Wutanfall, als er ihren Namen nicht auf Anhieb fand: Elena Vizzini. Er klappte das Register zu, öffnete es wieder und warf ihr einen geringschätzigen Blick zu.

»Also noch mal!«

Als er den Namen schließlich gefunden hatte, seufzte er ungnädig: »Elena Vizzini, versetzt nach Montenero Valdemone …«

»Wieso Montenero? Das ist zu weit. Ich hatte mich für Ragusa oder Enna beworben …«

»So ist es, Signorina! Sie können ablehnen.«

Ja, ablehnen. Noch ein Jahr ohne Arbeit, dann noch eins und noch eins … Sie besah sich im Spiegel, während sie im Fahrstuhl hinabfuhr, und strich sich leicht über die Schläfen. Ihr war zum Weinen zumute: Elena Vizzini, 31 Jahre alt, Halbwaise, Volksschullehrerin ohne Anstellung, Platz 492 im Einstellungswettbewerb, ein bleiches Gesicht, das schon sanft zu verblühen begann, eine einzige Liebschaft bisher, die drei Jahre gedauert hatte, mit einem verheirateten Mann, der zum Schluss doch zu seiner Frau zurückgekehrt war. Eine Weile hatte sie ein Vakuum empfunden, eine körperliche Leere, so als habe man ihr nicht nur die Gefühle, sondern auch die Geschlechtsorgane aus dem Leib gerissen. Zwei Jahre lang hatte sie als Hilfslehrerin an einer Dorfschule bei Catania unterrichtet, danach zwei Jahre in einem Anwaltsbüro gearbeitet und schließlich an dem Wettbewerb teilgenommen.

Wie sollte sie jetzt ihrer Mutter begreiflich machen, dass sie nach Montenero fahren musste, wo sich Montenero Valdemone befand, was für Menschen dort lebten, wie lange sie dort bleiben würde und wie sie es überhaupt schaffen wollte, alleine zurechtzukommen? Die Mutter hatte ihr jene Liebesgeschichte nie verziehen – den Taumel und das Unglück dieser drei verzweifelten Jahre, die doch das einzig Wichtige in ihrem Leben gewesen waren. Für die Mutter war es obszön gewesen, und sie hegte seither einen stillen Groll, als ob alles sich nur ereignet hätte, um sie zu kränken.

Vor vierzig Jahren hatte ihr Mann, ein Wachtmeister bei der Forstpolizei, sie von Turin nach Sizilien geholt, und auch das hatte sie nur als unerträgliche Anmaßung empfunden. Für sie waren die sizilianischen Männer eitel, streitsüchtig und dumm, ihre Frauen vulgär und ungebildet und ihre Kinder schmutzig. Vierzig Jahre lang hatte sie ihren piemontesischen Dialekt gesprochen – mit jedem und überall, im Haus und draußen. Immer sprach sie mit lauter Stimme, vor allem seit ihr Gehör nachgelassen hatte. Als größten Verrat hatte sie es empfunden, dass Elena ihrem Vater ähnelte, die etwas raue Stimme, die schwarzen Haare und Augen und die Schweigsamkeit der Sizilianer besaß und zu einer derart wilden und gewöhnlichen Leidenschaft fähig gewesen war.

Mit den Jahren war sie etwas ängstlich geworden. Zuweilen weinte sie, wenn die Tochter sich gegen sie auflehnte, aber das verging rasch, und sie begann wieder zu zetern. Stundenlang erörterte sie alle Schmach, die sie in ihrem Leben erlitten, und die Opfer, die sie ihrem Mann gebracht hatte, die Schande, die sie einer undankbaren Tochter verdankte, und die Abscheu, die sie gegenüber all diesen Sizilianern empfand.

»Als ich deinen Vater kennenlernte, hätte ich gewarnt sein müssen … Er hatte Haare in der Nase. Hör mir auf mit diesem widerlichen Wachtmeister. Du siehst genauso arabisch aus wie er …«

Nie war sie krank gewesen. Klein, zierlich, immer schwarz gekleidet, mit einem Krägelchen aus weißer Spitze, einem goldenen Kettchen, schneeweißem Haar und einem Stöckchen aus schwarzem Metall, das einen silbernen Knauf hatte. Seit mindestens zwanzig Jahren kleidete sie sich auf diese Weise, und ihr Leben kreiste wie ein Uhrwerk um drei feste Punkte: das stets etwas verächtliche Andenken an ihren Mann, den Wachtmeister, die säuerliche und bedrückende Liebe zu ihrer Tochter und die Zumutungen ihrer Schwägerin Agatina, der Schwester ihres Mannes, einer alten Bäuerin, die seit zwölf Jahren bei ihnen lebte und in der sie alle Abscheulichkeiten der Südländer vereint sah. Agatina, die ein bisschen dumm, stockreligiös und eine halbe Analphabetin war, redete nur in ihrem Cataneser Dialekt und reagierte nie. Zwischen der alten Piemontesin und der alten Sizilianerin entwickelten sich unglaubliche Dialoge.

»Da, schau, diese aufgeblasene Schlampe … Diese alte Kuh, Tochter eines Hohlkopfs …«

»Wer versteht schon, was du sagst, meine Tochter …?«

Es kam so, wie Elena es vorausgesehen hatte. Ihre Mutter redete eine Stunde lang laut mit sich selbst, wobei sie von einem Zimmer ins nächste lief, behauptete, dass sie mit Sicherheit sterben werde, während Elena fort sei, versank dann zwei Tage lang in tiefes Schweigen und sprach nicht einmal mehr mit ihrer Schwägerin. Erst am Bahnhof, wenige Minuten vor der Abfahrt, begann sie zu zittern, brach in Tränen aus und wollte ihrer Tochter sogar die Hände küssen. Schwarz und verloren blieb sie schließlich auf dem Bahnsteig zurück, und Elena fürchtete, der Luftzug der Waggons könnte sie davonwehen.

Sieben Stunden Fahrt, erst mit dem Zug bis Palermo, danach mit dem Autobus. Das Meer verschwand urplötzlich zwischen den Hügeln, dann waren auch die Hügel weg und mit ihnen die Orangenhaine, die sanften Farben der Küste, das Blau, das Gelb, das Grün, und alles wurde grau und öde. Weite Täler, durch die der Wind strich und Staubwolken aufwirbelte, und steinerne Berge ohne Baum oder Strauch. Manchmal schien es, als müsste die Straße in eine grüne Ebene oder an einen Strand führen, doch es kamen immer nur neue wüste Täler oder nackte Berge.

Mit ihr im Bus fuhren acht Personen. Eine Bäuerin mit ihrem schwachsinnigen Sohn, der verträumt die Landschaft betrachtete, sich besabberte und von der Mutter geduldig mit dem Taschentuch gesäubert wurde. Drei Bürger, der eine fett und jung mit Brille, der Zweite, der ein Filzhütchen und einen Schnurrbart trug, stutzerhaft und der Dritte mit einer ledernen Tasche, freundlichen blauen Augen und langen Haaren, die fast grau waren. Dann gab es zwei Studenten, fast noch Jungen, die auf der Oberlippe ein albernes Bärtchen hatten, pausenlos redeten, rauchten und ständig lachten. Schließlich ein hochgewachsener, noch junger Mann mit einem großen schwarzen Kopf. Schnurrbart, Augen, Augenbrauen und Haare – alles war schwarz. Er hatte muskulöse Hände, trug eine prächtige Krawatte und wirkte unruhig, rauchte, las, stand auf und wechselte den Platz. Schließlich setzte er sich fast direkt vor Elena und schaute sie herausfordernd an. Er betrachtete ihre Beine, blickte spöttisch, starrte sie unverschämt an, sah wieder auf ihre Beine, ihren Schoß, den Nacken und schaute ihr abermals voll ins Gesicht.

»Störe ich?«

»Ja!«

Er lachte unterdrückt, tat überrascht und sagte vertraulich: »Wir werden bestimmt gute Freunde! Frauen wie Sie gefallen mir …«

Elena stand auf und setzte sich neben den schwachsinnigen Jungen. Der Mann lachte, kniete sich auf den Sitz und blickte amüsiert in die Runde, als wollte er die anderen auffordern, sich mit ihm zu amüsieren. Nur der Herr mit den grauen Haaren lächelte beschwichtigend.

Ein neues Tal und neue Berge. Langsam dämmerte es, und abermals begannen die Dinge, ihre Farben zu wechseln. Das weite Tal schimmerte in einem zarten blaugrauen Ton, der Himmel färbte die Berge erst rosa, dann violett, schließlich versank alles im Dunkel. Noch eine Stunde Fahrt. Im Bus begann man zu schlafen. Elena hatte das beängstigende Gefühl, sich unwiderruflich von allem zu entfernen, was ihr Leben ausmachte. Endlich erschienen in der Ferne die gelblichen Lichter einer Ortschaft. Der Bus schwankte auf der kurvenreichen Abfahrt von einer Straßenseite zur anderen, und es schien, als würde er den Ort, der immer wieder zwischen den Bergen verschwand, niemals erreichen.

An der Haltestelle auf einer einsamen Straße wurde Elena vom Schuldiener erwartet, der sich in eine Art schwarzen Schal gewickelt hatte und auf dessen Kopf ein lustiges Militärkäppi saß. Auch sein Name war lustig: Allegrezza.

Er war äußerst zuvorkommend, übermittelte ihr die Grüße des Rektors und trug schweigsam ihren Koffer bis zu der Wohnung, die die Schuldirektion für sie gemietet hatte. Eine Seitenstraße, die unbewohnt wirkte, eine schmale Pforte, ein kleiner Innenhof, eine Außenstiege, noch eine Tür und dahinter ein eiskaltes Zimmer. Elena war dermaßen erledigt, dass sie nicht einmal mehr den Koffer auspacken mochte, sich angekleidet, wie sie war, auf dem Bett ausstreckte und die Decke über sich zog.

Sie schlief schlecht und hatte die ganze Nacht über ein Gefühl der Kälte und Angst. In der Morgendämmerung erwachte sie und verwendete zwei Stunden darauf, ihr Zimmer herzurichten. Es war groß und ungemütlich. Ein breites Bett mit einem eisernen Kopfteil, ein alter, verspiegelter Kleiderschrank, ein Tisch, vier Stühle, ein Lavabo und vier verschossene Stiche an den Wänden. Den stärksten Eindruck machte ein Kamin, in dem Asche und verkohlte Holzstücke lagen. Daneben waren Holzscheite aufgeschichtet. Vom Balkon aus sah man die Berghänge oberhalb des Ortes, bedrohlich im Schatten über dem Tal, die grauen Dächer der Häuser, auf denen Grasbüschel wuchsen, die feuchten Fassaden und eine Treppe, auf der gelegentlich ein Reittier...


Fava, Giuseppe
Giuseppe Fava, geboren 1925 in Palazzolo (Provinz Syrakus), wurde am 5. Januar 1984 vor dem von ihm gegründeten Theater in Catania, in dem sein Anti-Mafia-Stück L’ultima violenza (»Die letzte Gewalttat«) aufgeführt wurde, ermordet. Als Romancier, Dramatiker und Journalist hatte er sich mit der mafiosen Gesellschaft seiner Heimat auseinandergesetzt. Ehrenwerte Leute schrieb Fava 1975. Der Roman wurde unter dem Titel Werkzeug der Mächtigen von Luigi Zampa verfilmt.

Chotjewitz, Peter O.
Peter O. Chotjewitz, geboren 1934 in Berlin, ursprünglich Jurist, veröffentlichte Romane und Erzählungen, schrieb zahlreiche Hörspiele und arbeitete für verschiedene Zeitungen und als Übersetzer. Er starb 2010 in Stuttgart.



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