E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Feimer Frieda
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99200-335-8
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-99200-335-8
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1926: Frieda wächst in ärmlichen Verhältnissen in einem überschaubaren Ort auf. Überschaubar ist auch ihr Lebensweg als eines von fünf Geschwistern, mit einer Mutter, die die Familie ob ihrer frühen schweren Krankheit nicht zusammenhalten kann, und eines tyrannischen Vaters, der die Töchter in jeglicher Hinsicht als sein Eigentum ansieht. Früh lernt Frieda, dass ihr das Leben nichts schenken wird und dass sie sich das, was sie möchte, nehmen muss.
2007: Frieda liegt im Sterben und erinnert sich an Ereignisse ihres Lebens: an ihre vom Krieg überschattete Jugend, ihre glücklose Ehe und an ihr Kind, das sie instrumentalisiert hat. Und an Grete, ihre Jugendfreundin, die oft mehr war als eine Freundin. In rhythmischer Sprache, einem Totenlied gleich, erzählt Isabella Feimer Friedas Geschichte. Sie ist ein Heimkehren in eine Fiktion, die sich aus dem Trümmerhaufen der Zeit formt.
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14. November 2007, 16 Uhr 02. Vor dem Fenster schmiegt sich Dämmerung um eine Silbertanne, ihre schneebedeckten Äste biegen sich unter dem Gewicht und fangen frische Flocken, dahinter liegt die Stadt in einem nebelhaften Flackern. Frieda schmerzt der Rücken, die offene Stelle pocht, Schmerz, der da ist und der bleibt, so wie das Leben, das Frieda nicht verlassen will, wolle sie, brauche sie etwas?, fragt die Schwester, die unerwartet in das Zimmer tritt, habe sie Hunger?, und Frieda sieht die Schwester an. Schwester Ina geht zum Bett und streicht die Decke glatt, Frieda spürt den Druck auf ihrem Körper, dem es an Berührung fehlt, wenn sie etwas brauche, sagt die Schwester, sie müsse es nur sagen, nur zeigen, korrigiert sie sich, sie wisse, Frieda spreche nicht, nicht mehr, dann lächelt sie und greift nach Friedas Hand, das Lächeln greift in Friedas Seele, es muss so sein, denkt sie, dass Wundgelegenes schmerzt und dass die Schwester mit der Stille summt, eine Melodie, die sich zärtlich über die Leere legt, die von den Gängen in das Zimmer dringt und die kahlen Wände überzieht, das Summen füllt auch Friedas Inneres, das sich rührt, jetzt, da die Knorpel an den Knochen reiben. Immer noch hält Schwester Ina Friedas Hand, hält sich an der Haut fest, die über den Knochen liegt, sieht zu Frieda, aber sie nicht an, Frieda dreht sich zur Dämmerung, die dunkelt, kaum noch spürt sie ihre Körperhülle, kaum noch hört sie ihr Herz, alles leer und still da drinnen. Wind bewegt die Silbertanne, ein Ast schlägt gegen das Fensterglas, Frieda schreckt zusammen, auch Schwester Ina, Sekunden später gluckst, dann kichert sie, und Frieda ringt nach Luft, sie mag kein mädchenhaftes Kichern, das sie ins Erinnern drängt, denkt, das Erinnern haftet an den Menschen wie Kletten an einem Kleidersaum, und sie beginnt zu zucken, für Augenblicke setzt der Herzschlag aus. War nur ein Ast, sagt Ina, war der Wind, sagt sie, dann lässt sie Frieda los und blickt zum Monitor, ein unruhiges Herz macht große Sprünge, der Wind heult auf, drückt den Ast erneut gegen die Scheibe, patzt Schnee aufs Glas und wirbelt durch die Flocken, es ist nichts, sagt Ina, doch Frieda weiß es besser, spürt die Winterdichte draußen, die mehr ist als nur Dunkelheit im trüben Licht des Zimmers, sie hebt den Blick, sieht weiße Flocken von der Decke fallen, schnell wachsende Kristalle legen sich auf sie und auf die Schwester, es schneit nicht Schnee. 11. August 1946. Ein grauer Schleier Staub verdeckt den wolkenlosen Himmel, Schutt liegt über allem, was einmal Stadt gewesen ist, und zeigt den Krieg, obwohl er lang vorüber ist, längst vorüber für ein junges Leben, in dem die Zeit sich noch nicht dehnt, Frieda, die seit Kurzem zwanzig ist, mag das Versehrte nicht, die Verletzung, die nur schleppend heilt, nicht das Zerrissene eines ganzen Kontinents, das sie umgibt, mag den Schmutz nicht, der sich in die Kleidung legt, auf ihre blank polierten Schuhe, auf ihre glatte Haut, wo sie herkommt, liegt nichts in Schutt und Asche, dort ist Land und Leere, dort ruht beschaulich das Echo dessen, was gewesen ist. Erwartungshaltung regt sich in Frieda, weil sie zu einem Fotografen darf, bei ihm wird sie ein Bild von sich gemacht bekommen, wie schön das klingt, tönt Tatendrang, denkt Frieda in der Straßenbahn, die über die Gleise ruckelt. Die, die sie flankieren, die anderen im Waggon, sind gebückt und halb verblichen, nichts mehr als Schatten, die vom Tageslicht vertrieben sind, und Frieda schaudert, wegsehen muss sie, und ihr Blick fällt auf die Häuser, die an ihr vorüberziehen, Ausgehöhltes reiht sich aneinander, und Frieda weiß nicht, woher die Scham kommt, die sie schwindeln lässt, festhalten, denkt sie, auch an die wohl gemeinten Ratschläge, die ihr die Mutter mit auf den Weg gegeben hat, pass auf die Soldaten auf, hat sie gesagt, auf die, die aus der Fremde sind, glaube nicht, Kind, sie wollen dich beschützen, sprich mit keinem, lächle keinen an. Frieda lächelt keinen Fremden an, nimmt keine Kaugummis entgegen und keine Worte, die sie nicht versteht, kein Englisch, Russisch, kein Französisch, Frieda ist das Fremde fremd, hat nie gesucht, was sich im Dorf nicht finden lässt, in Mitterndorf, das kaum ein Außen kennt. Das Haus mit der Nummer 5 steht als Festung zwischen Hausruinen, links und rechts davon und in seinem Gegenüber spiegeln sie sich im Fensterglas, auch Frieda spiegelt sich darin, sieht sich an und dreht die Locken um die Finger, presst die Lippen aufeinander und kneift sich in die Wangen, damit sie wieder rosig sind und Staub und Schatten sich von ihr lösen, dann läutet sie, gleich darauf erneut in Ungeduld, das Erwarten pocht in ihrem Körper, hält den Knopf gedrückt. Ein Mann im Alter ihres Vaters öffnet ihr, steht in einem schmalen Gang, der sich in eine dunkle Leere streckt, die Frieda also, stellt er fest, siehst deinem Vater gar nicht gleich, er hält ihr die Hand entgegen, Frieda schüttelt sie nur zögerlich, vor seinem Aussehen graut ihr, vor der Maske, die Lippen, Wangen und Nase als Verlorenes verborgen hält, auch vor seiner Stimme, die klingt, als wären die Stimmbänder hauchdünn und verlören Töne, sie klingt nicht, sie ist ein Faden, der bald reißen wird, und aus Verlegenheit macht Frieda einen Knicks und weil die Mutter sagte, dass es sich gehöre. Der Fotograf winkt Frieda in das Haus hinein, ob er lächelt, sieht sie nicht, ob er den Mund verzieht, ob er das überhaupt noch kann?, denkt Frieda und folgt ihm, langsam geht er den Gang entlang, hinkt ein wenig und sagt etwas, das Frieda nicht versteht, sie hört nur die seidenhelle Stimme, fragt nicht nach, und er spricht weiter Worte, die sich in den rauen Fasern der Tapete verfangen, aus denen gestickter Efeu wächst. Hinter dem Gang befindet sich ein Zimmer, das kaum eingerichtet ist und keine Fenster hat, anstatt der Fenster rahmenlose Fotografien, die Landschaften zeigen, die Frieda nicht kennen kann, weil sie hinter Grenzen liegen, und Porträts von Frauen, die gezwungen lächeln, und Männer sieht man in ihrer Uniform, auch Friedas Vater brüstet sich, trägt kein Lächeln, nur seinen strengen Blick, wie es dem Vater gehe, fragt der Fotograf, gut, sagt Frieda knapp, und der Mutter?, gut, sagt sie, dann setz dich, sagt der Fotograf, er wisse, in der Jugend dränge Zeit. Nicht Zeit, nein, Unbekanntes drängt in Frieda, als sie auf dem Hocker sitzt, der Kamera gegenüber, das Stativ sieht wackelig aus, das Gehäuse abgegriffen und der Balg ist abgekratzt, still sein, sagt der Fotograf, still halten, sagt er und schaltet eine Lampe ein, das Licht im Zimmer aus. Im Licht der Lampe spürt Frieda ihre Züge, die Haut, die sich darüber spannt, einer Statue gleich, die aus diesem Licht gemeißelt wurde, still sitzt sie wie noch nie in ihrem Leben, noch nie, denkt Frieda, spürte sie Vollkommenheit, so, als wäre sie schon immer da gewesen, irgendwo als Samenkorn, und hätte nur noch nie den Sonnenschein gesehen und weder Wasser noch Dünger in sich aufgenommen, jetzt aber verschafft sie sich Gedeihen, will aus ihr heraus und sich in den Himmel weiten, Frieda streckt sich, still sitzen, herrscht der Fotograf sie an, vor seiner Stimme ekelt ihr, wie, denkt sie, kann seine Seidenfadenstimme ihr nur den Moment versehren? 16 Uhr 39. Eine zarte Schneeschicht überzieht den Monitor, an den Frieda angeschlossen ist, und Spuren von Schwester Inas Schritten zeichnen sich auf dem Boden ab, auch auf dem Bett liegt Schnee, und könnte sich Frieda bewegen, sie wischte sich die Flocken von der Haut, kalt, dann nass, würde sie sie spüren, wollte sie noch, dass ein Spüren zu ihr käme. Mit Blick auf den Monitor seufzt Schwester Ina, denn Friedas Herz springt wieder über Linien hinaus, sie sagt, das sei nicht normal und dass sie einen Doktor holen müsse, und könnte Frieda sprechen, sie riefe laut, das würde sie nicht wollen, stattdessen raunt sie, und Schwester Ina sieht sie an, sagt hastig, sie beeile sich, Frieda schließt die Augen, hört den Schritten zu, die leiser werden und rasch verklingen, dann ist es totenstill. Schneestille, muss Frieda denken, doch es ist nicht ihr Wort, sind nicht die ihren, die Vergangenes formen wollen und in ihr drängen, der Winter ist die Jahreszeit, in der die Totenglocken am häufigsten geläutet werden, flüstert jene Stimme, die sie aus ihrer Jugend kennt. Nie hätte sie sich gedacht, dass sie diese Stimme holen kommt, wohin auch?, an einen Himmel glaubt sie nicht, auch nicht an eine Hölle, an nichts, das sie nicht begreifen und befühlen kann, wieder hört sie Schritte, nicht die der Schwester, Inas Schritte federn, klackern nicht, viele Schwestern eilen in den Gängen, huschen zwischen Zimmern zu den Gespenstern, die in den Betten unter den Laken schweben, bis sie nicht mehr sind. Frieda?, das Flüstern sticht in Friedas Herz, und der Schmerz zieht in den Kopf und in die Beine,...