E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Feimer Zeit etwas Sonderbares
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-903061-00-2
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-903061-00-2
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Frau und ihre Zeitalter - drei Momentaufnahmen, drei Stationen, drei Umbrüche. Die Einblicke in Marias Leben führen die Unausweichlichkeit der eigenen Geschichte vor, unspektakulär im Alltag, gnadenlos in ihrer Konsequenz.
Maria, zeitlebens demütig im Hinnehmen, duldsam im Ertragen, sorgsam in der Erfüllung ihrer Pflichten, träumerisch im Wünschen aber kompromisslos, wenn das eigene Ich in der Unbedeutsamkeit zu verschwinden droht.
Das Trauma einer Generation - man spricht nicht über die Dinge, nicht über eigene Gefühle, schon gar nicht über Vergangenes, Krieg, Verluste, Leid und Schuld.
Ihre innersten Ängste und Wünsche adressiert Maria an den Kosmonauten Juri Gagarin, mit dem sie - so ihre Vorstellung - den Traum von der Schwerelosigkeit in Zeit und Raum teilt.
»Schwerelosigkeit ist, wenn der eigene Körper kein Gewicht, das einem in das Leben und den vom Leben gewählten Alltag hineindrückt«
Maria nimmt ihr eigenes Leben in Abschnitten wahr. Vermeintlich fremdgesteuert, in selbst gewählten Abhängigkeiten, lebt sie ihren Alltag mit geradezu fatalistischer Hingabe und wird sich nur in wenigen Augenblicken ihrer selbst bewusst - in Form eines Seufzers, als stumme Klage.
Zwar träumt sie Zeit ihres Lebens von Möglichkeiten, erhebt jedoch die Pflichterfüllung zum obersten Prinzip. Eigene Bedürfnisse werden hintangestellt, Verdrängung wird großgeschrieben. Scham und Schuld sind ständige Begleiter.
In Panikschüben tauchen persönliche Erinnerungen auf - an den Krieg, die russische Besatzungszeit, die Folgejahre, die von Konflikten, Demütigungen und Übergriffen innerhalb der Familie geprägt waren, unerfüllte Sehnsüchte.
Eingekapselt in diesen Erinnerungen, in Gedankenfetzen, stummen Emotionen - die Toten als ständige Begleiter, die Frage nach dem Sinn und der Relation von Zeit und Erleben so offensichtlich, aber niemals ausgesprochen.
In Rückblicken, Träumen und Briefen werden die Erlebnisse Marias durch Assoziationsketten aneinandergeheftet.
Autoren/Hrsg.
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Die Nacht heftet sich mit Metallklammern an den Abend, endlich die Füße strecken auf dem Holzschemel, den man den ganzen Tag hoch- und niedergestiegen, hat man den Staubteppich von Regalen und Kästen gewischt, von der Herrgottsfrüh an den Schmutz von den Bierkrügen, den geliebten Sammlerstücken vom Alten, Jahrzehnte schon, die er sich an ihnen festhält, an ihnen und an den damit verbundenen Zeiten, die besser waren, sagt er, einmal heute auch die Staubkruste auf den Holzrahmen mit den vergilbten Verwandten weggekratzt, die ihre Namen verschluckte. Im Nebenzimmer schläft der Alte, die Tür offen, man muss hören können, ob’s noch atmet, das Herz, noch schlägt, das Gehirn im Schädel, die Kuckucksuhr tickt laut, ihr Innerstes nach außen, wenn die volle Stunde naht, der Rücken schmerzt, warum hat man nur?, dann ist der Gedanke weg, der Hund bellt, will in den Garten, und man lässt ihn schnell hinaus, bevor er noch den Alten weckt, der endlich eingeschlafen, will Auslauf, der Hund, will das, was man selbst nicht mehr, sich hat nehmen lassen, was, bittschön, hätte man denn tun sollen?, den Alten in ein Heim?, so ohne Geld, und man selbst dann ohne Aufgabe im Leben, dessen Mitte überschritten. Herz und Seel’, das sind sie nicht, nur stiefväterlich verwandt, und das auch nur, weil Mutter, die auch Maria hieß, so wie man selbst nach ihr, da erstgeboren, in der Eile keinen Besseren gefunden, mit dem sie die anderen Töchter hat kriegen können, und der Bruder endlich einen Vater und eine strenge Hand, warum sich keine der anderen um den Alten kümmert, warum?, weil die Älteste immer alles und nie auf sich hat schauen, konnte man sich nicht aussuchen, nicht auf dem Land, wo jeder gleich redet, gleich viel zu allem zu sagen und zu schweigen hat, ach, tät’s denen nur wirklich das Maul zerreißen und dem Alten gleich dazu. Würde man dem, was Heimat ist, sich nicht so verpflichtet fühlen, hätte man sich schon längst aus der Heimat gehen lassen, wäre mit der Schwester gegangen, die eine halbe Erde entfernt, die ein Haus und einen Mann, auch zwei Kinder, auch einen Hund, aber einen kleinen, hat’s gut, die Schwester, dort, wo ewig Sommer ist, man selbst weniger gut, hat es aber einmal gut gehabt, einmal im Krieg und einmal danach, im Krieg musste man nicht zu Hause bleiben, durfte nach Berlin, dann nach Brüssel, Nachrichtendienst, Telefonvermittlung, hat verbunden und getrennt, sich’s gut gehen lassen neben all den Toten, aber Krieg, das war einmal, und jetzt ist er kalt und hat seine Mauern. Man holt sich eine Weste über die Kleiderschürze und ein Kopftuch übers Haar, macht leise und bedacht, will nicht wecken, die Eingangstür zu, setzt sich auf den Gartenstuhl, der an der bröckelnden Mauer, legt den Kopf in den Nacken, die Nacht bringt einen Sternenhimmel wie schon lange nicht, und einen wolkenlosen Mond, ist einfach da, der Mond, und weit weg, und zwischen dir und ihm unentdeckte Ewigkeit, und die Ewigkeit erinnert dich, Maria, der Mann im Mond schläft untertags, hat Mutter erzählt, früher am Bettrand, und nachts wacht er über all die schönen Seelen, braver Mann, der Mann im Mond, der Alte nicht, der hat einem immer etwas anzuschaffen, und man selbst das Gefühl, nie zu ruhen, nie zu schlafen, nur Schmerzen hat man, einen schönen Garten zwar und einen Schäferhund, doch bald fünfzig, ein paar Jahre bleiben noch, die besten schon gewesen, hundert wird man nicht, hofft inständig, der Alte wird’s auch nicht, krepiert bald, damit man wieder Ruhe und Auslauf und ein Leben, nicht bloß zwischen den Gemüsebeeten. Die ersten Leberflecke zittern am Handrücken, haben sich hartnäckig zwischen die Knöchel gesetzt wie Zecken, die weißen Haare zwischen dem Semmelblond früher, kamen mit den schlimmen Nachrichten, der ist tot, und der auch, ja, und auch der andere, so glaubten viele, der, der jetzt im Nachbardorf, auch der Bruder, über den man nicht mehr spricht, der Josef, aber der ist doch nur vermisst, sagten alle, irgendwo in der Ukraine, vielleicht kommt er noch, so fünfzehn, zwanzig Jahre nach dem Krieg, kommt, noch, wieder, zurück, und manchmal denkt man auch, der hat irgendwo ein Leben, ein fesches, eine Frau, die lieb zu ihm, und Kinder, die ausschauen wie er, einen Bauernhof, und er fährt Traktor, das wollt er immer vor dem Krieg, als alle noch wollen durften, aber manchmal denkt man auch, und das öfter, dass er wirklich tot, nie und nimmer kommt, nicht, mehr, weil nur noch loses Gebein, namenlose Erde, dass halt auch alle tot, die ihn sterben sahen, und irgendwo steht ein Kreuz und sein Helm daraufgesetzt, hier ruht der Josef, er war ein guter, treuer Kamerad, und der Alte froh, dass der angeheiratete Sohn nicht wiedergekommen, keine Konkurrenz im Haus, kein Widerstand von einem jungen Wilden, der mehr will, als sich vom alten falschen Vater schlagen und schimpfen lassen. Der Hund, der Teddy, schleckt einem sanft über die Finger, die sich über die Plastiklehne krallen, gestreichelt wird er trotzdem nicht, nicht, wenn man einmal kurz für sich, sich nicht kümmern muss, nicht mit einem Staubtuch über die verblasste Familie, nicht mit dem Schwamm über den verderbenden Körper, hat der Alte gehustet?, man schreckt zusammen, hustet er, spuckt es ihm das Schwarz aus der Seele, spuckt aufs Bettzeug, das man überziehen, und den Fußboden, den man wischen muss, hoffentlich krepiert er bald, Maria!, aus dem Haus die kratzige Stimme, laut, obwohl der Körper schwach, Maria!, aber man rührt sich nicht, keinen Millimeter, denkt nicht mal dran und gibt vor, sich und dem Alten, mit dem Hund spazieren zu sein. Kann nicht immer verfügbar sein, schon gar nicht, wenn mit den Gedanken woanders, nein, nicht auf dem Feld, wo es seit Wochen nach Herbst riecht, seit Juli riecht das Feld angestrengt nach September, man denkt sich aus dem Garten, hinaus aus dem Herbst, denkt sich verschämt ins Nachbardorf, Maria!, noch einmal schreit er, man ist still, einen Tee wird der Alte haben wollen oder Wasser oder eine Hand, die dann seine hält und tätschelt, und eine Stimme, die sagen muss, dass sie da ist, sanft sagen muss, an seiner Seite bis zum End, nein, lieber schaut man sich die Sternschnuppe an, die zu schnell über den Himmel zischt, als dass man sich etwas wünschen könnt, man schließt die Augen, trotzdem, man weiß ja nicht, vielleicht kommt ein Wunsch da oben langsamer voran, ist dick und dicht da zwischen Sternen und Unendlichkeit, dann dankt man Gott, dass er auch dort oben, dankt, dass man an ihn glauben kann und dass er in der Kirche jeden Sonntag wartet, und rasch wünscht man sich den nächsten Morgen und den Kaffee in der Blümchentasse, die einen Sprung hat, ein Stück Porzellan herausgebrochen wie ein Stück Zahn dem Alten, ersehnt sich den Morgen, denn am Morgen ist Ruhe, ist Zeit, während der Alte schläft, tief und lautlos, seinen wunden Rücken der Küche zugewandt. Sich gegen die Sterne strecken, von denen man weiß, die greift man nicht, recken, ins Schwarz greifen, ins Leere, ins Universum, an dessen Unendlichkeit man glaubt, später in der Dunkelheit des Hauses in den Nachttopf, den man entleeren muss, und dem Jammern trotzen, das der Alte einem entgegenschleudert, holt man den Nachttopf, und fängt das Jammern an, würde man ihm gerne ein Kissen aufs Maul drücken, aber nicht jetzt, erst später, später, und steht man auf, um dem Jammern gut zuzusprechen, verstummt es, pünktlich wie die Kuckucksuhr, und für Eigenes bleibt keine Zeit, bleibt nur die kurze Stille, die bald den Herbst bringt, ja, man hört die Blätter in den Herbst fallen und denkt wehmütig an den Winter, denn im Winter ist es am Schlimmsten und der Alte die Gemeinheit in Person. Man weiß, man muss wieder in den Schlund des Hauses, das eine Küche mit alten Kredenzen, an denen der Lack splittert, das ein Schlafzimmer, in dem der Alte, der Geruch nach Vergänglichkeit, der bleibt, egal, wie viel und oft man scheuert, einen Vorraum mit Gartenwerkzeug und dem Waffenrad im Winter, in der Küche das Feldbett, und ein Säckchen getrockneter Lavendel unter dem Kopfkissen, auch den gönnt man sich, Lavendel hat man gern, erinnert an Orte, an denen man noch nicht gewesen, Hand in Hand durch ein Lavendelfeld, betört vom Duft und einer Liebe, ach, an Liebe hat man immer, glaubt man sein Leben lang, und ein Seufzer wär angebracht, einer von der traurigen Sorte, und traurig winselt auch der Hund, schleckt übers Knie, bleibt mit der Zunge an dem Wollstoff hängen, will er wirklich noch aufs Feld?, aber man will nicht mehr, will sitzenbleiben, kalt ist’s, Maria!, schreit er, und man schreckt zusammen, aber soll er doch, man muss Sternderln schauen und wünschen, bevor die nächste Schnuppe kommt, Maria!, aber nein, du alter Trottel, denkt man, nicht jetzt, bin nicht da, bin anderswo, und denkt, dass man den Mann im Mond gern kennenlernen würde, wie der ausschaut?, fragt man sich, hat sicher ein blasses Gesicht bei so wenig Sonne, schmunzelt man, aber der Mond strahlt nur wegen der Sonne, auch das weiß man, obwohl in der Schule damals, da haben sie einem wenig beigebracht, lesen, schreiben, und das schön, und rechnen, gut, das bringt etwas fürs spätere Leben, man führt ein Haushaltsbuch, eine Liste übers Haushaltsgeld, das aus der Rente kommt, der Kriegsrente vom Alten und ein bisschen eigener Witwenrente dazu. Man denkt vor, in allem und schon immer, den Wünschen, derer viele sind, und dem Haushalt, brav, wie man es gelernt, ja, man geht, man muss, für mehrere Tage einkaufen, damit man sich den Rest der Zeit, die keine Stunden kennt, ergiebig kümmern kann, schwingt sich aufs Waffenrad und treibt mit dem Fahrtwind, der eine kleine Freiheit näher bringt,...