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E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Fideler Frühstück mit Seneca
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98609-140-8
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein philosophischer Leitfaden für ein glückliches Leben
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-98609-140-8
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Fideler ist Schriftsteller, Philosoph und Herausgeber der Website Stoic Insights. Er wurde in den Vereinigten Staaten geboren und lebt derzeit mit seiner Frau und seinem Sohn in Sarajevo, wo er immer noch gerne mit Seneca frühstückt. N/A
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Kapitel 1
Die verlorene Kunst der Freundschaft
Mich wird nie irgendeine Sache erfreuen, und mag sie noch so hervorragend und nutzbringend sein, wenn ich das Wissen darüber für mich behalten soll … Kein Besitz eines Gutes macht Freude, wenn ich es nicht mit Freunden teilen kann.
Seneca Briefe an Lucilius 6.4
Als Seneca in den Sechzigern war, rang sein guter Freund Lucilius mit einem großen Problem. Lucilius war ein bisschen jünger als Seneca und von Nero als Statthalter der Provinz Sizilien eingesetzt worden. Wie Seneca arbeitete auch Lucilius hart und war ehrgeizig, talentiert und erfolgreich. Er hatte eine hochrangige Laufbahn eingeschlagen und war in der gesellschaftlichen Welt zu Ruhm gelangt. Aber an irgendeinem Punkt auf diesem Erfolgsweg hatte Lucilius sein inneres Wohlbefinden vernachlässigt. Modern ausgedrückt steckte er in einer Sinnkrise.
Auf der Suche nach Rat von einem treuen Freund wandte sich Lucilius hilfesuchend an Seneca. Lucilius wollte sich zur Ruhe setzen und sehnte sich nach einem bedächtigeren und erfüllenderen Leben, aber er hatte sich auch an seinen luxuriösen Lebensstil und die öffentliche Anerkennung gewöhnt, die ihm oft zuteilwurde. Und so wie es auch heutzutage viele Menschen tun, fragte sich Lucilius, ob er genügend finanzielle Rücklagen hatte, um sich zur Ruhe zu setzen und seinen Lebensstil aufrechtzuerhalten, oder ob er noch ein paar Jahre arbeiten sollte, um mehr Ersparnisse anzusammeln. Lucilius sehnte sich danach, frei zu sein, aber er fürchtete sich auch davor, welche Konsequenzen es haben würde, wenn er seine gut bezahlte Position aufgab.
Obwohl die Fachwelt das nie erwähnt, war dies der Anlass für Senecas Briefe an Lucilius. Lucilius’ Fragen, wie er seinen Lebensweg anpassen solle, lieferten Seneca einen Grund, seine wunderbaren Briefe an Lucilius zu schreiben, die nicht nur für Lucilius, sondern für einen größeren Kreis von Lesern geschaffen wurden. Gleichzeitig waren die Briefe ein klug gestalteter Einleitungskurs zu Senecas Auslegung des Stoizismus. Hinter dem ganzen Projekt stand der feste Glaube an die tiefe und transformierende Kraft von Freundschaft. In seinen Briefen diskutiert Seneca viele Aspekte von Freundschaft, aber die folgende Passage betont, warum Freundschaft so essenziell ist:
Freundschaft bewirkt unter uns eine Solidarität in allen Belangen. Weder ein Glücks- noch ein Unglücksfall betrifft uns einzeln: Wir leben in einer Gemeinschaft. Auch kann niemand ein glückliches Dasein führen, der nur auf sich schaut, der alles zum eigenen Vorteil wendet: Man soll für den anderen leben, wenn man für sich selbst leben will. Dieser Gemeinschaftssinn, sorgfältig und gewissenhaft gepflegt, vereint die Menschheit als Ganzes und besagt, dass wir alle bestimmte Rechte gemeinsam haben. Aber er trägt auch viel zur Pflege jener innigen Verbundenheit der Freundschaft bei, von der ich sprach. Jemand nämlich, der vieles mit einem anderen Menschen gemeinsam hat, wird auch alles mit einem Freund gemeinsam haben.18
In seinen Briefen an Lucilius und seiner Korrespondenz formulierte Seneca seine Lebensphilosophie. Seine frühen philosophischen Werke verfasste er für verschiedene Freunde, Verwandte und Menschen, die er persönlich kannte, um ihnen dabei zu helfen, seelisch zur Ruhe zu kommen, Kummer zu überwinden oder verschiedene Herausforderungen zu bewältigen. Wie wir sehen können, basierte für Seneca die Philosophie, genauso wie die Lebenskunst, nicht auf dem Erschaffen eines abstrakten Systems für andere Intellektuelle. Es bezog vielmehr persönliche Beziehungen ein, da seiner Meinung nach die Philosophie den Menschen in der realen Welt helfen sollte.
Seneca kritisierte wiederholt die akademischen Philosophen seiner Zeit, die die Philosophie auf wenig überzeugendes logisches Denken reduzierten. Deren Vorgehensweise war in seinen Augen irrelevant für die Auseinandersetzung mit menschlichen Bedürfnissen. Seneca unterschied klar zwischen »echter Philosophie« und ihrer Alternative, die er als Wortspiel ansah, als reine Gedankenspielereien. Viele Philosophen seiner Zeit, so sagte er, fokussierten sich auf das Analysieren von Silben und Haarspalterei, statt lebendige Ideen zu erforschen, die das Leben der Menschen verbessern konnten. Er bestand darauf, dass das wahre Lernen eines für das Leben ist, nicht für die Schule.19 Senecas philosophische Ideen waren sowohl systematisch als auch konsequent; als Autor verstand er zudem, wie wichtig es war, diese Ideen auf überzeugende und attraktive Weise zu vermitteln. Indem er die Philosophie mit literarischem Können und dramatischer Wirkung vermittelte, erweckte er sie zum Leben und machte sie unvergesslich.
Obwohl Lucilius Seneca als engen Freund ansah, war er für ihn auch philosophischer Mentor und Ratgeber, zu dem er aufschaute. Seneca nahm diese Rolle gern an. Manchmal kann ein Freund ein ausgezeichneter Ratgeber sein. Oftmals kann jemand, der einen gut kennt, eine ehrliche Rückmeldung geben, die sich unangebracht – oder gar feindselig – anfühlen würde, wenn sie von einem Fremden käme. Folglich gibt es in den Briefen sehr viele Stellen, an denen Seneca ziemlich heftig gegen die Art falscher Meinungen (aus Senecas Perspektive des Stoikers gesehen) angeht, die Lucilius unter Druck setzten und dazu führten, dass er dermaßen angespannt war.
Seneca kannte Lucilius gut und half ihm in der Not, genau auf jene Überzeugungen zu schauen, die seine Probleme verursachten. Dann ermutigte Seneca ihn, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, und half ihm, die Situation neu zu gestalten. Einige von Senecas Briefen ähneln stark heutigen Therapiesitzungen, in denen der Therapeut den Patienten auffordert, die eigenen Denkmuster zu hinterfragen. Seneca spielt in all seinen philosophischen Schriften die Rolle des Mentors, gibt vernünftige Ratschläge und liefert rationale Argumente, um auf reale Probleme einzugehen. Das tut er, indem er seinen Lesern hilft, ihre Überzeugungen zu überdenken. Für Seneca und die Stoiker ist es unmöglich, ein glücklicheres Leben zu führen, ohne die falschen Überzeugungen abzulegen oder zu zerlegen, die das mentale Leiden verursachen.20
Instrumente der Freundschaft
Wann immer mich deine Briefe erreichen, scheint es mir, als ob ich mit dir zusammen wäre, und ich werde in solch eine Stimmung versetzt, als ob ich dir nicht schriftlich, sondern mündlich antworten könnte.
Seneca, Briefe an Lucilius 67.2
Mit einem Freund zusammen zu sein, ist der beste Weg, die Gesellschaft des anderen zu genießen und sinnvolle Gespräche zu führen. Aber das ist nicht immer möglich. Früher war ein Brief ein Instrument, um Freundschaften aufzubauen, zu erhalten und zu stärken, den Raum der Trennung zu überbrücken. Wie Seneca an Lucilius schrieb: »Niemals nehme ich deinen Brief in Empfang, ohne dass wir sogleich beisammen sind.«21 Briefe behielten diese Funktion bei, bis sie größtenteils durch E-Mails ersetzt wurden, was noch gar nicht lange her ist.
Meiner Meinung nach haben wir leider durch die Erfindung der E-Mail etwas Wesentliches verloren. E-Mails sind zwar schnell und effizient, sie fühlen sich aber in der Regel körperlos und unbedeutend an. Im Vergleich dazu kann ein gut geschriebener handschriftlicher Brief eine deutlich andere Erfahrung bieten, eine, die tiefgründig die Persönlichkeit und inneren Gedankengänge eines Individuums vermittelt. Während wir E-Mails schnell vergessen, kann sich ein ansprechender Brief nahrhaft anfühlen und etwas sein, das Sie an einem besonderen Ort aufbewahren.
Die Tatsache, dass Briefeschreiben aus der Mode gekommen ist, trägt meiner Überzeugung nach zumindest teilweise zur »Epidemie der Einsamkeit« bei, über die wir heute so viel lesen können. Obwohl uns Social-Media-Plattformen mit Hunderten von Menschen verbinden, fühlen sich ironischerweise etliche Menschen einsamer denn je. Ich glaube zu verstehen, woran das liegt: das Kommunikationslevel, das auf Social Media stattfindet, ist im Vergleich zu realen Konversationen, die wir brauchen, um als menschliche Wesen glücklich zu sein und zu gedeihen, stark vermindert. Während Briefe laufende Konversationen verkörpern können, besteht Social Media vorrangig aus Kommentaren – und das sind zwei völlig verschiedene Dinge.
Natürlich ist es möglich, jemandem per E-Mail einen richtigen Brief zu schreiben. Und glücklicherweise kommt das manchmal vor. Aber da die meisten E-Mails nur kurze Nachrichten sind, ermutigt uns das Medium selbst, weniger als früher zu kommunizieren, als wir Briefe noch mit der Hand schrieben. Anders ausgedrückt kommunizieren wir mit E-Mails sehr viel schneller und häufiger, aber weniger tiefgehend.
In seinen Briefen an Lucilius liefert uns Seneca ein Modell, wie eine tiefe Freundschaft aussehen könnte. Aber in unserer schnelllebigen Gebrauchskultur, die auf das Erreichen rascher Resultate und unmittelbarer Belohnung ausgerichtet ist, scheinen wir oft zu vergessen, was eine tiefe und befriedigende Freundschaft...