E-Book, Deutsch, 394 Seiten
Fink Was einmal war
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7562-6039-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Körnchen Wahrheit in Märchen und Sagen
E-Book, Deutsch, 394 Seiten
ISBN: 978-3-7562-6039-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unser kollektives Gedächtnis in Form von Mythen, Sagen und Märchen reicht zurück bis in die Vorgeschichte. Eine Mythe über die Entstehung der Erde ist mehr als zehntausend Jahre alt - sie stammt aus der Zeit, als die Vorfahren der Indianer über die ehemalige Landbrücke Beringia von Asien nach Amerika wanderten. Diese Mythe war in verschiedenen Fassungen über ganz Asien verbreitet und wurde im Herzen Europas so erzählt wie in den Wigwams der Stämme, die die Nachkommen der ersten Einwanderungswelle aus Asien waren: Tiere tauchen zum Meeresgrund, bringen von dort Erde und breiten diese auf der Wasseroberfläche aus. In der ältesten Schicht der ukrainischen Weihnachtslieder sind es drei Tauben, bei den Cree-Indianern südlich der Hudson-Bai war es die Muskatratte. Ungeahnt viele Überlieferungen beziehen sich auf längst vergessene Bräuche: die Saligen-Ehe - die archaische Jugendweihe - die scherzhafte Prüfung des Bräutigams, ob er die Braut erkennt. Von diesen wird die Jugendweihe im vorliegenden Buch ausführlich dargestellt, in mehreren Texten, denn alle unsere Vorfahren sind durch ihre Martern gegangen: Wir begleiten den Helden des Märchens zum Nabel der Erde, in den Garten des Zauberers und in das Schloss mit unsichtbaren Dienern. Andere hier geschilderte Bräuche waren in ländlichen Gegenden bis in die nahe Vergangenheit lebendig: der Mädchenmarkt - die Nachbarschaftshilfe - die Gabenhochzeit. Das Buch umfasst 70 Texte; es führt bis in die nahe Vergangenheit. Der letzte Text würdigt den vormals üblichen Brauch, dass alle Hochzeitsgäste eine Geschichte erzählen, in der eine Lehre für das Brautpaar enthalten ist. An diesen Brauch knüpft die Handlung des stark zerzählten Märchens vom getreuen Johannes an. Er verdient es, neben die Gabenhochzeit gerückt zu werden, bei der Verwandte, Nachbarn und Bekannte das Brautpaar reichlich beschenkten und ihm auf diese Weise ermöglichten, vom ersten Tag an ein materiell abgesichertes Familienleben zu führen.
Hans Fink ist ein rumäniendeutscher Journalist und Publizist. Er studierte Germanistik und arbeitete viele Jahre als Journalist in Bukarest. Zwei seiner Themenfelder waren Erziehung und Unterricht.
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Einleitung
Könntest du ein Märchen erzählen? Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht, und deswegen wird dir niemand einen Vorwurf machen, denn in der modernen Gesellschaft spielt die mündliche Überlieferung bei Unterhaltungen keine Rolle mehr. Doch wenn wir in die Vergangenheit zurücktreten, und gar nicht so weit, dann erstrahlt das Märchen im alten Glanz. Erst verschwindet das Internet, dann Fernsehen und Rundfunk, schließlich das Buch und die Zeitung. Wann und bei welchen Gelegenheiten früher Märchen zum Besten gegeben worden sind, kann sich unsereins gar nicht vorstellen: Die Burschen und die Mädchen erzählten in der Spinnstube – die Bauern vor der Mühle – die Holzfäller am Lagerfeuer – die Bergarbeiter in der Mittagspause – die Nordseefischer, während sie auf die Flut warteten, um auslaufen zu können. Die Fuhrleute erzählten im Wirtshaus – die Hökerinnen auf dem Weg zum Markt – die Soldaten in der Kaserne – die Saisonarbeiter beim Hopfenpflücken. Auch die Hochzeitsgäste haben erzählt, und zwar mit der Absicht, dem Brautpaar eine Erfahrung zu vermitteln (siehe den Abschnitt „Ein Opfer für die ,Herren des Wissens'“). „Unter dem Worte ,Märchen' in seinem wissenschaftlichen Sinne“, schrieb der Germanist Friedrich Panzer im Jahre 1926, „verstehen wir eine kurze, ausschließlich der Unterhaltung dienende Erzählung von phantastisch-wunderbaren Begebenheiten, die sich in Wahrheit nicht ereignet haben und nie ereignen konnten, weil sie, in wechselndem Umfange, Naturgesetzen widerstreiten.“1 Derselbe Standpunkt – dass die Märchen Erfindungen seien – kommt in der fünfzehnbändigen „Enzyklopädie des Märchens“ zum Ausdruck, die ein halbes Jahrhundert später entstanden ist.2 Angeblich stammen diese Erzählungen aus dem Mittelalter und aus der frühen Neuzeit. Einzelne Motive können älter sein, sogar steinalt, aber die Märchen als Ganzes, als die uns bekannte Folge von Motiven, seien erst vor wenigen Jahrhunderten geschaffen worden (wobei man das mutmaßliche Alter vom jeweils ältesten schriftlichen Zeugnis ableitet). Zwar wird die ritualistische Theorie, die etwas anderes behauptet, in der „Enzyklopädie“ nicht verschwiegen, aber die Herausgeber und die Mitarbeiter haben sie sich nicht zu eigen gemacht. Mit Sicherheit sind viele Märchen irgendwann von irgendwem erfunden worden, der Überlieferungen, Mitteilungen von Bekannten und eigene Beobachtungen zu einer Geschichte verknüpfte. Zu dieser Kategorie gehören etwa folgende Arten: die Tiermärchen – die Alltagsmärchen – die Märchen vom dankbaren Toten – die erotischen Märchen – die Schwankmärchen – die Lügenmärchen. Dazu die Erzählungen nach dem Schema „Bitter in der Jugend, glücklich im Alter“ und die tragikomischen Erzählungen von der klugen Bauerntochter. Die andere Kategorie umfasst Texte, die sich aus Erinnerungen an abgestorbene Bräuche bildeten. Die gesellschaftliche Entwicklung hatte dazu geführt, dass der Brauch aus der Wirklichkeit verschwindet, doch es wurde noch über ihn gesprochen, und die Nachklänge verschmolzen zu den Urformen unserer Märchen. Solche Bräuche, die das Leben des einfachen Stammesmitglieds regelten, waren: die Besprechung der Sippenältesten an der Wiege eines Neugeborenen – die kollektive Jugendweihe – ersatzweise die individuelle Jugendweihe – das Gesetz der Exogamie – die Saligen-Ehe – die Altentötung. Manche Überlieferungen berichten über die Vererbung der Macht in weiblicher Linie wie auch über mehrere für uns kuriose Tabus im Leben der Könige. Als die Jagd im Vordergrund stand, opferte man im Notfall dem Wettergott eine Jungfrau, damit er günstiges Wetter für die Jagd gewähre. Später, nachdem die Jagd durch den Ackerbau verdrängt worden war, opferte man jährlich dem Flussgott eine Jungfrau, damit er die Fruchtbarkeit der Felder sichere. Für die Richtigkeit der ritualistischen Theorie sprechen Parallelen zwischen der Märchenhandlung und spezifischen Bräuchen, die von Reisenden und Völkerkundlern bei den sogenannten Naturvölkern beobachtet worden sind.3 Zu den Parallelen treten rezente einheimische Bräuche, die sich bei näherer Betrachtung als Relikte uralter Gepflogenheiten erweisen. Deshalb dürfen wir für die Märchen der zweiten Kategorie einen realen Hintergrund annehmen, und aus diesem Grund wären sie für die Archäologen interessant. In den Sammlungen finden wir Texte aus beiden Kategorien bunt gemischt. Die wichtigste, weil umfangreichste Art von Märchen sind jene über die kollektive Jugendweihe im Rahmen der Buschschule. Bisher haben sie keinen anerkannten, eigentümlichen Namen. Man nennt sie aus Verlegenheit Zaubermärchen, aber das ist eine vage Bezeichnung, die auch auf andere Arten angewandt wird. Von den 200 Texten der berühmten Grimm’schen Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ (Ausgabe letzter Hand 1857) enthalten drei Dutzend Motive, die Momenten der kollektiven Jugendweihe entsprechen. Der international verwendete Katalog der Märchentypen von Antti Aarne und Stith Thompson (abgekürzt AT) umfasst mehr als 50 Typen mit solchen Motiven.4 Jugendweihe und Buschschule. Ursprünglich war die Buschschule eine Einrichtung der Wildbeuter, sie ist irgendwann in der Steinzeit entstanden, also in der Stammesgesellschaft oder Gentilordnung, die zunächst keine sozialen Klassen kannte. Die Teilnahme war für jedes Kind selbstverständlich, man lernte dort, was ein Erwachsener wissen und können musste, um für sich und für seine Familie zu sorgen. In dem Maße, in dem der Ackerbau die Jagd als Lebensgrundlage verdrängte, erweiterte sich das Programm der handwerklichen Ausbildung, und parallel dazu veränderten sich auch die Riten. In Westafrika hat sich die Buschschule bei Gemeinschaften von Pflanzern, die noch in der Stammesgesellschaft lebten, aber mit einem Fuß schon auf der Schwelle zur Klassengesellschaft standen, bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten. Wir können diese Einrichtung mit einer Internatsschule der modernen Zeit vergleichen. Man führte die Kinder im Pubertätsalter zu einem abgelegenen Lager im Wald und bereitete sie dort auf das Leben als Erwachsener vor. Sie wurden handwerklich ausgebildet, über die Pflichten und Rechte eines Stammesmitglieds belehrt, sexuell aufgeklärt und mit den Überlieferungen ihrer Gemeinschaft vertraut gemacht. Mutproben, Selbstbeherrschungsproben und Geschicklichkeitsproben gehörten zum Programm. Während der Lehrzeit wurden sie rituell in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen. Die Isolation konnte Wochen, Monate und sogar Jahre dauern. Bei den Kpelle im Hinterland von Liberia waren es um 1900 im Falle der Knaben vier Jahre und im Falle der Mädchen drei Jahre.5 Für unsere keltischen Vorfahren galt die Jugendweihe als das wichtigste Ereignis ihres Lebens, neben dem die Heirat verblasste. Obwohl jahrhundertelang alle unsere keltischen Ahnen die Martern der Jugendweihe erduldet haben, ist die Buschschule für die meisten Zeitgenossen kein Begriff. Der Roman „Wurzeln“ von Alex Haley (1976) vermochte die Bildungslücke nicht zu schließen. Haley schildert nämlich auch den Aufenthalt des jungen Mandinka Kunta Kinte in der Buschschule.6 Kunta wächst im Dorf Juffure am Gambia-Fluss auf, bevor man ihn versklavt und im Jahre 1767 nach Amerika verschleppt. Das Buch wurde in 37 Sprachen übersetzt, etwa 130 Millionen Menschen sahen sich die Verfilmung an. Man sollte meinen, Buch und Film hätten dem Publikum eine gewisse Vorstellung vermittelt, aber das trifft nicht zu. In Rumänien, wo ich damals lebte, nahmen die Kinobesucher die betreffenden Szenen als Ausdruck einer exotischen Lebensweise zur Kenntnis, ohne sie als Bilderfolgen aus unserer Vorgeschichte zu begreifen. Dass es im Alten Europa eine Buschschule gegeben hat, beweisen unübersehbare Relikte, die von den Erzählforschern bisher nicht als solche wahrgenommen und interpretiert worden sind. Zu diesen gehören die Mädchen-Spinnstuben Siebenbürgens und der Ukraine – in abgelegenen Dörfern mit archaischen Verhältnissen überlebten sie bis ins 20. Jahrhundert.7 Einerseits weist das Programm der rumänischen Mädchen-Spinnstube frappante Ähnlichkeiten mit der kollektiven Jugendweihe bei den Naturvölkern auf, andererseits entsprechen die Einzelheiten den Motiven der Märchen. Mit der europäischen Buschschule hängen aber noch mehr rezente Bräuche zusammen: In Mitteleuropa erhielten sich bis ins 20. Jahrhundert meist vage Vorstellungen von einem Wegführen der Kinder aus dem Elternhaus, die sich bei näherem Hinsehen als unklare Erinnerungen an die ehemalige Buschschule erweisen. Die Vorstellungen waren mit dem Auftreten von männlichen und weiblichen Schreckgestalten im Spätherbst bzw. Mittwinter verknüpft. Den unartigen Kindern drohte...