E-Book, Deutsch, Band 2, 432 Seiten
Reihe: Arrowood
Finlay Arrowood - Die Mördergrube
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95967-840-7
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman für Sherlock Holmes Fans
E-Book, Deutsch, Band 2, 432 Seiten
Reihe: Arrowood
ISBN: 978-3-95967-840-7
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zur Seite Sherlock, hier kommt Arrowood!
William Arrowood ist Privatermittler. Gemeinhin wohl der Zweitbeste in ganz London - direkt nach seinem namhaften Konkurrenten aus der Baker Street 221B. Auch wenn beide ganz unterschiedliche Ansätze in der Verbrechensaufklärung haben. Dieses Mal führt Arrowoods ganz eigene Ermittlungsmethode ihn und seinen Assistenten Barnett auf der Suche nach einer vermissten jungen Frau in die düsteren Gefilde der Viktorianischen Nervenheilanstalten.
Steigen Sie mit Arrowood in die Niederungen der menschlichen Psyche hinab.
»William Arrowood ist keinesfalls perfekt, aber sympathisch, und die Geschichte bewegt sich rasant von Gefahr zu Gefahr und von Twist zu Twist.«
Mick Finlay wurde in Glasgow geboren und verbrachte seine Kindheit in Kanada und England. Er arbeitete als Marktverkäufer in der Portobello Road, in einem Wanderzirkus, als Schlachtergehilfe, als Portier und in verschiedenen Positionen im Gesundheits- und Sozialdienst. Mittlerweile lehrt er an einer psychologischen Fakultät und lebt mit seiner Familie in Brighton.
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1
Süd-London, 1896
Das Grauen erscheint manchmal in freundlicher Gestalt, und so war es auch im Fall von Birdie Barclay. Es war früh am Neujahrstag, der Schlamm auf den Straßen war gefroren, Ruß schwebte wie schwarzer Schnee im Nebel. Zitternde Pferde trotteten vorbei und wurden von missmutigen, rotgesichtigen Männern zu Orten gelenkt, die sie gar nicht aufsuchen wollten. Straßenkehrer warteten auf Kunden, die ihnen eine Münze verschaffen konnten, während sich alte Menschen an Mauern und Geländern festhielten, um auf dem glatten Kopfsteinpflaster nicht auszurutschen, während sie seufzend und vor sich hin murmelnd dicke, verkeimte Schleimklumpen in die Haufen aus Pferdedung spien, die an jeder Straßenecke gesammelt wurden.
Wir hatten seit fünf Wochen keinen Fall mehr gehabt, daher waren wir über Mr. Barclays Einladung zu einem Besuch bei ihm sehr erfreut. Er lebte am Saville Place in einem der Dreizimmer-Reihenhäuser unter den Bahnlinien zwischen Lambeth Palace und Bethlem. Als wir vor dem Haus eintrafen, konnte ich im Inneren eine Dame zu Klavierbegleitung singen hören. Ich wollte gerade anklopfen, als Mr. Arrowood meinen Arm berührte.
»Warten Sie, Barnett«, flüsterte er.
Wir standen vor der Haustür und lauschten, während sich der Nebel dicht um uns ballte. Es war ein Lied, das häufig in Pubs gesungen wurde, kurz bevor sie schlossen, aber ich hatte es noch nie derart schön und traurig gehört, so von Einsamkeit durchdrungen. »In the gloaming, oh my darling, when the lights are dim and low, and the quiet shadows falling, softly come and softly go.« Als sich der Refrain aufbaute, schloss Mr. Arrowood die Augen und schwankte im Rhythmus der Musik, wobei er ein Gesicht machte wie ein Schwein beim Stuhlgang. Dann, als die letzte Zeile ertönte, sang er gar mit ausdrucksloser Stimme und völlig neben dem Takt mit: »When the winds are sobbing faintly, with a gentle unknown woe, will you think of me and love me, as you did once long ago?«
Ich vermutete, dass dies die einzige Textzeile war, die er kannte, eine Zeile, die sein gebrochenes Herz direkt ansprach, und die letzten Worte brachte er nur erstickt und zitternd über die Lippen. Nachdem ich seinen drallen Arm gedrückt hatte, öffnete er endlich wieder die Augen und nickte mir zu, damit ich anklopfte.
Ein robuster Mann mit gerötetem Gesicht öffnete die Tür. Das Erste, was einem ins Auge stach, war seine Malvasiernase, an der Spitze gerundet und wie eine Stachelbeere mit feinen Härchen bedeckt, darunter der dichte Schnurrbart, noch schwarz, obwohl das Haar um seinen kahlen Schädel bereits weiß geworden war. Er begrüßte uns mit nervöser Stimme und führte uns in das Empfangszimmer, in dem eine große Frau neben einem Pianoforte stand. Sie musste Spanierin, Portugiesin oder etwas in der Art sein und war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.
»Das sind die Detektive, meine Liebe«, sagte er und rang aufgeregt die Hände. »Mr. Arrowood, Mr. Barnett, darf ich Ihnen meine Frau Mrs. Barclay vorstellen?«
Als sie unsere Namen hörte, zeichnete sich ein warmherziges Lächeln auf dem Gesicht der Dame ab, und ich konnte an der Art, mit der sich Mr. Arrowood verneigte und eine Hand flach auf die Brust legte, erkennen, dass ihn diese Dame mit ihrem Gesang, ihren tiefbraunen Augen und ihrer gütigen Miene sehr beeindruckte. Sie bat uns, auf der Couch Platz zu nehmen.
Der kleine Salon war mit Möbelstücken gefüllt, die viel zu groß für den kleinen Raum waren, und man hatte das Pianoforte zwischen ein Schreibpult und eine Vitrine gezwängt. Die Couch berührte den Ohrensessel, und eine vergoldete Uhr nahm den Großteil des Kaminsimses ein und tickte unerträglich laut.
»Wie wäre es, wenn Sie uns von Ihren Schwierigkeiten erzählen«, begann Mr. Arrowood, »damit wir herausfinden, was wir für Sie tun können?«
»Es geht um unsere Tochter Birdie, Sir«, erwiderte Mr. Barclay. »Sie wurde vor sechs Monaten in eine Bauernfamilie verheiratet, aber wir haben seit der Hochzeit nichts mehr von ihr gehört. Rein gar nichts. Es gab keine Besuche, keine Briefe, nicht einmal zum letzten Weihnachtsfest. Ich war zweimal dort, um sie zu besuchen, doch man hat mich nicht ins Haus gelassen! Angeblich sei sie ausgegangen, aber das kann schlichtweg nicht stimmen!«
»Aber junge Damen gehen doch hin und wieder aus?«, merkte Mr. Arrowood an.
»Das ist nicht ihre Art, Sir. Würden Sie Birdie kennen, müssten Sie die Frage gar nicht erst stellen. Wir sind krank vor Sorge, Mr. Arrowood. Es ist beinahe, als wäre sie vom Erdboden verschwunden.«
»Hatten Sie vor der Hochzeit Streit? Bei solchen Gelegenheiten kommt es häufig zu Gefühlsausbrüchen.«
»So ist sie nicht«, antwortete Mrs. Barclay. Verglichen mit ihrem nervösen Mann wirkte sie wie die Ruhe selbst. Ihr lang gezogenes Gesicht war leicht gebräunt, und ihr schwarzes Haar fiel ihr offen auf den Rücken. Drei kleine Leberflecken zogen sich unter einem Auge über ihre Wange. Als sie bemerkte, dass ich sie ansah, zeichnete sich erneut das demütige Lächeln auf ihren Lippen ab. »Birdie streitet sich nie. Sie tut, was man ihr sagt, selbst wenn sie dabei zu Schaden kommen könnte, und aus diesem Grund sind wir auch derart besorgt. Dies ist das erste Mal, dass sie den Kontakt zu uns abgebrochen hat, und wir vermuten, dass die Familie sie davon abhält.«
»Das ist höchst besorgniserregend«, stimmte Mr. Arrowood zu. Sein zur Seite gescheiteltes Haar lag unordentlich und steif an seinem unförmigen Schädel, und sein draller Bauch drohte, die Knöpfe seines zerschlissenen Astrachanmantels zu sprengen. Er zog sein Notizbuch und einen Stift hervor. »Erzählen Sie uns bitte alles, was Sie über ihren Ehemann wissen, und lassen Sie nichts aus.«
»Sein Name lautet Walter Ockwell«, sagte Mr. Barclay, dessen Hände zuckten, als würde er nur widerwillig über seinen Schwiegersohn sprechen. »Die Familie besitzt eine Schweinezucht vor Catford. Wir trauen diesem Mann nicht. Er ist höchst seltsam, und nicht auf die Art, wie es diese Bauern üblicherweise sind. Ich kann es nicht besser beschreiben. Es sticht nicht sofort ins Auge. Wir wussten es vor der Hochzeit nicht, aber er hat schon einmal im Gefängnis gesessen, weil er einen Mann bei einem Streit mit einem Knüppel beinahe totgeschlagen hätte. Das hat mir der Pastor bei meinem letzten Besuch erzählt. Er hat den Mann so heftig am Kopf getroffen, dass sein Auge einfach geplatzt ist. Die Augenhöhle wurde zertrümmert, verstehen Sie? Das Auge hing nur noch an einer Sehne und baumelte über der Wange.« Mr. Barclay erschauderte. »So ist das, Sir! Der Pfarrer hätte uns das auch vor der Hochzeit mitteilen können, finden Sie nicht auch? Und als ob das noch nicht genug wäre, stellte sich überdies heraus, dass der Mann früher schon einmal verheiratet war. Die arme Frau ist vor zwei Jahren verstorben.«
Mr. Arrowood hielt im Schreiben inne und warf mir einen vielsagenden Blick zu.
»Wie ist sie gestorben?«, wollte er wissen.
»Den Worten des Pfarrers zufolge wurde sie von einem umstürzenden Wagen begraben. Wir sind zur Polizei gegangen, aber dort wollte man uns nicht helfen. Sergeant Root teilte uns mit, dass Birdie uns schon empfangen würde, wenn sie dazu bereit ist. Aus diesem Grund haben wir uns an Sie gewandt, Sir. Möglicherweise hat er sie verletzt, und diese Leute wollen das vor uns verbergen.«
Mr. Arrowoods Miene hatte sich verfinstert, sein warmherziges Lächeln war verschwunden.
»Und Sie haben seitdem nichts mehr von ihr gehört?«
»Es ist, als wäre sie einfach verschwunden. Nach allem, was wir wissen, könnte sie ebenso gut tot sein.«
»Wer lebt sonst noch auf dem Hof, Sir?«
»Insgesamt fünf Personen. Die Mutter ist bettlägerig. Rosanna, seine Schwester, ist nicht verheiratet, außerdem sind da noch Godwin, der Bruder, und seine Frau Polly. Es war die Schwester, die mich beide Male nicht ins Haus lassen wollte. Ich habe nach Walter gefragt, doch er hielt sich irgendwo im Norden auf, wo er sich vorgeblich Schweine ansah. Mich hat man dort jedenfalls nicht mit offenen Armen empfangen, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe von der Frau verlangt, mich hereinzulassen, aber sie hat sich schlichtweg geweigert. Was hätte ich denn tun sollen? Ich habe sie gebeten, Birdie auszurichten, sie möge uns in einer dringenden Angelegenheit aufsuchen, aber ich weiß nicht, ob meine Tochter die Nachricht überhaupt erhalten hat. Dasselbe gilt für unsere Briefe. Verstehen Sie unsere Lage, Sirs? Unsere Tochter ist zu einem Geist geworden!«
»Wie hat sie ihren Gatten kennengelernt, wenn Sie mir die Frage gestatten?«, erkundigte sich Mr. Arrowood.
»Sie wurden einander über jemanden aus meinem Betrieb vorgestellt. Wir hätten uns eine bessere Partie für sie gewünscht, aber sie war fest entschlossen, ihn zu heiraten. Überdies …« Er warf seiner Frau einen flüchtigen Blick zu. »Wir waren uns nicht sicher, ob ein anderer Mann sie nehmen würde.«
»Dunbar!«, rief seine Gattin aus.
»Die Herren müssen alles wissen, meine Liebe.« Er wandte sich erneut an uns, und seine Stimme klang nicht mehr ganz so angespannt. »Birdie hat die Geburt nicht ganz unbeschadet überstanden und sich nie richtig entwickelt. Sie benötigt sehr viel Hilfe. Der Arzt hat ihren Zustand als ›Amentia‹ bezeichnet. Mit anderen Worten: Ihr Geist ist schwach. Walter schien auch nicht weit davon entfernt zu sein. Das dachten wir beide, nicht wahr, Liebes?«
»Dann ist sie geistesschwach?«, hakte Mr. Arrowood nach, der sich weiter Notizen machte.
»Nur leicht«, antwortete...