Fioretos | Mary | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Fioretos Mary

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25411-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-446-25411-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



„Es mag seltsam klingen, aber ich bin die einzige, die erzählen kann, wie ich endete.“ Es ist die Zeit der Diktatur des Militärs in Griechenland. Marys Bericht beginnt mit ihrer Liebe zu Dimos, einem Anführer der Studentenbewegung. Im November 1973 wird Mary festgenommen, in den Verliesen des Sicherheitsdiensts ist sie Hunger, Kälte und Folter ausgesetzt. Nur sie weiß von ihrer Schwangerschaft, dem Kind von Dimos. Aber Mary erzählt auch von der Solidarität unter den gefangenen Frauen, wie es ihr gelang zu überleben, ohne Verrat zu begehen. Mit großer literarischer Kraft beschreibt Aris Fioretos, der Autor aus Schweden, die existentielle Krise einer jungen Frau, die vor einem unlösbaren Konflikt steht.

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I.
AUF DEM LETZTEN FOTO aus dem November trage ich eine Jeansjacke, einen Polopullover und eine Hose von der Art, die Stella Slacks nennt. Halbschuhe, über der Schulter eine Filztasche. Wenn meine älteste Freundin das Bild sähe, würde sie annehmen, dass ich das Übliche wiege, ein paar Kilo mehr als fünfzig. Ich selbst fühle mich aufgeschwemmt. Seit ich im letzten Herbst die Tore zum Gelände der Hochschule passierte, ist mein Gesicht voller geworden. Auch der Hals erscheint mir voller, was aber auch an dem Polokragen liegen könnte. Meine Augenbrauen sind zwei breite Pinselstriche, die Lippen geschlossen. Der Mund lässt mich beherrscht aussehen – oder »reserviert«, wie Dimos sagt. Auf dem Foto schreibe ich in ein Heft, das ich auf meinen Oberschenkel presse. Der Körper dreht sich zur Seite, es gibt viele und eigenartige Schatten, weil das Licht aus verschiedenen Quellen kommt – Straßenlaternen und Schaufenster, vielleicht ein Scheinwerfer. Unter der Aufnahme hat jemand notiert: gehbehindert. Ich wurde Maria getauft. So steht es in dem Ausweis, den ich auf das Regal in Dimos’ Kochnische gelegt habe. Laut Pass bin ich dreiundzwanzig. Vor ein paar Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sein würde, so alt zu sein; jetzt studiere ich bereits im letzten Studienjahr Architektur. Nur die Examensarbeit steht noch aus. In ihr soll es um Mehrfamilienhäuser in urbaner Umgebung gehen, aber ich bin nicht besonders weit gekommen. Ich weiß nicht, ob ich Bauingenieurin, Landschaftsarchitektin oder einfach Architektin werde. Ich vermute, einfach Architektin; zumindest würde ich mir das wünschen. Als ich klein war, wurde ich Tochter oder Marienkäfer genannt, gelegentlich auch Poliomädchen – die Krankheit erklärt mein Hinken. Ich wurde auch mit anderen Namen gerufen, habe aber nicht vor, hier auf sie einzugehen. Dimos nennt mich Mary. Von nun an werde ich so heißen. Mary. Die Reservierte. AUF DEM BILD sind die Nieten über der linken Brusttasche der Jacke nicht zu sehen. Ich drückte sie nach dem Arztbesuch fest – manchmal bin ich abergläubisch. Es ist seltsam, aber erfüllt von sanftester Sorge habe ich gleichzeitig das Gefühl, eine Sonne im Unterleib zu tragen, zitternd wie eine geballte Faust Jubel. ALS ICH AUFWACHE, ist es sieben Uhr abends. Eigentlich hatte ich nicht vor zu schlafen, nachdem ich von der Ärztin zurückkehrte, war mein Körper jedoch schwer wie feuchte Erde, der Kopf leicht wie Äther. Es reichte, mich auf das Bett zu legen, schon war ich weg. Nun merke ich, dass der Schlaf traumlos gewesen ist, fast erinnerungslos, als hätte sich der Körper von seinem Auftrag ausruhen müssen, ein Mensch zu sein. Dimos’ Seite des Betts ist leer. Seit dem letzten Mittwoch ist mein Freund in der Hochschule. Heute Morgen kam er kurz nach Hause, um zu duschen und ein paar Sachen zu holen. Er wusste, dass ich nach dem Mittagessen zum Arzt wollte, ist aber noch in dem Glauben, der Grund dafür wären meine Gliederschmerzen. Wenn wir uns sehen, werde ich es ihm erzählen. An der Decke dreht sich träge, doch systematisch der Ventilator. Obwohl es Herbst geworden ist, sind die Tage heiß, nicht zuletzt in diesem Backofen von einer Wohnung. Wenn ich lange genug die Luft anhalte, bilden sich am Haaransatz Schweißperlen. Kurz danach formen sie einen Tropfen, der groß genug ist, um über die Schläfe zu rinnen. Er gleitet am Ohr entlang, kitzelt ein wenig und verschwindet in den Nackenhaaren. Das Rinnsal erinnert mich an das Bild, das ich vor ein paar Tagen in der Zeitung sah, nach meinem ersten Besuch in der Arztpraxis, als ich nur eine Urinprobe abgab. Ein Junge saß darauf mit einer Decke um die Schultern und weit aufgerissenen Augen, Tränen hatten Furchen in sein unfassbar schmutziges Gesicht gegraben. Die Wangen glichen einer verwüsteten Flusslandschaft. In den Armen hielt er einen rußigen Klumpen. Erst als ich die Bildunterschrift las, begriff ich, was das war. Der Sechsjährige mit seinem Teddybär. Er überlebte das Feuer, in dem seine ganze Familie umkam. Ich weinte wie ein Kind. Wenn das Haus in der Olympiastraße in Flammen stünde, würde ich mich bedenkenlos in das Inferno stürzen, um seine Bewohner zu retten – obwohl es mir niemand danken würde, jedenfalls Mutter nicht, und obwohl es lange her ist, dass mein Halbbruder Theo das Land verließ. Dabei wäre mir noch vor zwei Jahren nichts lieber gewesen, als keine Eltern zu haben. Was auch immer, wenn es mir nur erspart bliebe, in dieser privaten Version von Kirche, Familie und unserer heiligen Nation, wie das Militär es nennt, erstickt zu werden. Das Gefühl verschwand erst, als ich mit Stella zusammenzog. Nein, das stimmt nicht. Im Grunde dauerte es bis zu diesem Typen mit dem Pferdeschwanz. Ich hatte ihn bereits mit Freunden in den Fluren oder am Haupteingang gesehen, wo einige Leute gebrauchte Lehrbücher verkaufen. Und gemerkt, dass er zu mir herüberschielte. Aber ehrlich gesagt dachte ich mir nicht viel mehr dabei, und als er Anfang des vorigen Studienjahrs den Boulevard überquerte und direkt auf mich zukam, war ich so perplex, dass ich nicht verstand, was er zu mir sagte. Ich hatte mich gerade erst von Stella verabschiedet und war schon auf dem Weg durch das Eingangstor, als er mich ansprach. Er kam mir doppelt so groß vor wie gewöhnliche Menschen, was die Sache nicht unbedingt leichter machte. Ich entschuldigte mich, ohne richtig hinzuhören. Die Vorlesung habe begonnen, ich sei in Eile, ein anderes Mal – Worte dieser Art. Möglicherweise gab das schlechte Gewissen den Ausschlag. Jedenfalls drehte ich mich vor dem Betreten des Hauptgebäudes um und sah ihn noch an der Stelle stehen, an der ich ihn verlassen hatte. Als hätte er Wurzeln geschlagen. Das sollte mein erstes Bild von Dimos werden. Und mit der Zeit verblich alles um ihn herum – die schäbigen Palmen, die Mülltonnen, das Gedränge an den Toren. Übrig blieb allein diese zu einem Schattenriss gewordene Gestalt. Konsterniert, unverrückbar, ein Baum von einem Mensch. Jemand erzählte mir, er engagiere sich in Studentenorganisationen, und gelegentlich übermannte mich bei dem Gedanken, wie selbstvergessen er dort am Eingang gestanden hatte, eine anhängliche Wärme. Trotzdem verwitterte das Bild. Außerdem war ich mit einem Kommilitonen Stellas bei den Anglisten zusammen, was eine Weile für Unordnung in meinem Dasein sorgte. Er heißt Antonis, hat mit dieser Geschichte jedoch kaum etwas zu tun. Letztes Frühjahr entdeckte ich den Typen erneut, in dem Automatenrestaurant gegenüber vom Nationalmuseum, in dem ich manchmal zu Mittag esse, wenn ich keine Lust habe, heimzugehen. Und plötzlich führte sich der Muskel in meiner Brust auf wie ein Spatz. Dimos saß in der einzigen Sitzecke, in der es noch einen freien Platz gab, war in eine Zeichnung vertieft und aß, ohne an das Essen zu denken. Es erschien wenig wahrscheinlich, dass er seit unserem kurzen Gespräch beim Friseur gewesen war; mittlerweile trug er außerdem einen struppigen Bart, mit dem er einer Kreuzung aus Novize und Rockstar glich. Als ich ihn fragte, ob ich mich zu ihm setzen dürfe, antwortete er mit einem Grunzen. Zehn Minuten vergingen. In der Jukebox in der Sitzecke nebenan lief ein Hit aus einer amerikanischen Fernsehserie über eine Popgruppe: This one thing I will vow ya I’d rather die than to live without ya Ich aß, während der Baum, auf seine Zeichnung konzentriert, auch dann noch den Löffel zum Mund führte, als nichts mehr auf seinem Teller war. Es sah lustig aus, aber statt zu lachen, studierte ich zum ersten Mal die Hände eines fremden Menschen. Die langen, sehnigen Finger, die erstaunlich gepflegten Nägel, die Adern, die sich wie Würmer zwischen den Knöcheln schlängelten. Und die Sommersprossen, auf die Haut geschüttelt wie feinster Puder. Als er eine Viertelstunde lang nicht aufgeblickt hatte, fand ich jedoch, dass es reichte. Selbstvergessen zu sein, ist eine feine Sache, Höflichkeit eine andere. Ich stand auf, schob den Stuhl an den Tisch, aber statt zu gehen, lehnte ich mich mit dem Tablett in den Händen zu ihm vor. »Weißt du eigentlich, dass du Luft isst?« Meine Stimme klang schroffer als geplant. Er betrachtete den Löffel und danach mich. Während eines so langgezogenen Augenblicks, dass ich die Erinnerung später im Detail studieren konnte, verfolgte ich die Verwandlung von Verwirrung zu Verblüffung. Als er erkannte, wer ich war, schnappte er nach Luft. Sein Atemholen war so vorbehaltlos, und so unverstellt, dass es mir einen Schock der Verbundenheit versetzte. Lächelnd, aber nervös, gab er vor zu schlucken, und mir wurde klar, dass ich mich besser wieder hinsetzen sollte. »Entschuldige.« Das Tablett klapperte. »Ich war neulich wohl ein bisschen unhöflich.« Das ist alles. So wurden wir ein Paar. Als der Baum seinen Plan zusammengerollt hatte, nannte er mir seinen Namen. Ich hatte ihn schon gehört – wer nicht? –, allerdings nicht gewusst, wie er aussah. Vielleicht buhlt er um meine Bewunderung, überlegte ich. Vielleicht denkt er, es beeindruckt mich, dass er einer der Freien Studenten ist. Als ich mich ihm vorstellte, entgegnete er jedoch nur: »Die Tochter des Hauptmanns?« Mit vielem hatte ich gerechnet, damit sicher nicht. Der Spatz hörte auf zu flattern und ich versuchte aufzustehen. Was immer ich darauf erwiderte, es würde das Falsche sein. »Man kann anfangen oder aufhören.« Er merkte, dass ich unschlüssig wurde. »Also, ich meine, können wir nicht Leute sein, die anfangen – einander kennenlernen, meine ich?« Ich war mir nicht sicher, ob der Satz grammatikalisch korrekt war,...


Fioretos, Aris
Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Bei Hanser erschienen Das Maß eines Fußes (Essays, 2008), Der letzte Grieche (Roman, 2011), Die halbe Sonne (Prosa, 2013), Mary (Roman, 2016) und Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017). 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen – er übertrug u.?a. Paul Auster, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische – wie für sein eigenes Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter 2011 den Literaturpreis der SWR Bestenliste, den Kellgren-Preis der Schwedischen Akademie und 2013 den Großen Preis des Samfundet De Nio sowie 2016 für Mary den Romanpreis des Schwedischen Rundfunks und 2017 den Jeanette Schocken Preis – Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur.  Aris Fioretos lebt in Berlin und Stockholm.

Berf, Paul
Paul Berf, 1963 in Frechen bei Köln geboren, studierte Skandinavistik. Er übersetzte u. a. Henning Mankell, Kjell Westö und Selma Lagerlöf. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.



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