E-Book, Deutsch, 380 Seiten
Fiorillo Berlin Südwärts
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8192-8939-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erst im Dunkeln sehen wir uns wirklich.
E-Book, Deutsch, 380 Seiten
ISBN: 978-3-8192-8939-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrea Fiorillo wurde 1989 geboren und lebt in Deutschland. Nach seinem Studium war er viele Jahre im Gesundheits- und Sozialbereich tätig und arbeitete unter anderem in der Flüchtlingshilfe. Schreiben begleitete ihn dabei stets im Hintergrund, bis er mit Berlin Südwärts sein literarisches Debüt veröffentlichte. In seinem ersten Roman verbindet er gesellschaftliche Umbrüche mit persönlichen Geschichten, eindringlich, realistisch und voller Menschlichkeit.
Autoren/Hrsg.
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1 DIE DUNKLE MORGENDÄMMERUNG
Dienstag, 01. Juni 2027
Matthias schreckte hoch, sich plötzlich bewusst, dass er sich noch immer an dem Ort befand, der in den letzten zwei Wochen sein Zuhause geworden war – seit dem Moment, als alles begonnen hatte. Dennoch war er völlig desorientiert und hatte das Gefühl, ins Leere zu fallen. Er wollte sich von der Matratze erheben, um eine Lichtquelle zu suchen, die ihm helfen könnte, sich zu orientieren. Sein Herz pochte heftig in seiner Brust, der Puls dröhnte in seinen Ohren.
«Wieder eine Panikattacke?», fragte er sich und hoffte, dass es nicht so war.
Endlich konnte er in der völligen Dunkelheit des Raumes einen Lichtstrahl erkennen – vermutlich Mondlicht –, der durch einen kleinen Spalt im Kellerfenster fiel. Zum ersten Mal in diesen zwei langen Wochen zeigte sich der Mond und erhellte die Nacht.
Sobald er sich wieder orientieren konnte und wusste, wo er war, kroch er aus dem Schlafsack, der eng und merkwürdig feucht war. Er hatte stark geschwitzt.
«Seltsam», dachte er. «So warm war es doch gar nicht... War es der Stress? Oder ein Albtraum?», flüsterte er halblaut.
Er spürte plötzlich, dass er dringend pinkeln musste. Die «Toilette» bestand aus einem alten Farbeimer, auf den eine alte WC-Brille gelegt war. Der Eimer wurde nur einmal am Tag geleert: abends, abwechselnd von ihm und Lukas. Seit jemand versucht hatte, die Kellertür aufzubrechen, wagten sie sich tagsüber nicht mehr nach oben.
Zwei Tage zuvor war sein bester Freund und Mitbewohner Lukas wie immer hinausgegangen, um den Eimer zu leeren. Jemand hatte ihn gesehen. Er war gerade noch rechtzeitig wieder hineingekommen, und kurz danach hatte jemand heftig gegen die Tür geschlagen, sie zu öffnen versucht und von draußen geschrien. Zum Glück war die Tür von innen gut verriegelt, und der Unbekannte hatte es nicht geschafft hineinzukommen. Aber was, wenn doch? Hätten sie ihnen das wenige Essen gestohlen? Oder schlimmer – sie verletzt oder getötet?
Diese düsteren Gedanken begleiteten sie inzwischen täglich. Auch deshalb hatten sie in den letzten beiden Nächten kaum geschlafen. Sie hatten es nicht mehr gewagt, den Eimer zu leeren.
Der Drang wurde unerträglich, und Matthias entschied sich, in die Ecke zu gehen und seine Notdurft in den fast vollen Eimer zu verrichten. Er versuchte, so leise wie möglich zu sein, um Lukas nicht zu wecken. Trotz seiner Vorsicht war es schwer, in einem kaum sieben Quadratmeter großen Keller keinen Lärm zu machen. Als er sich vom Eimer erhob, abgelenkt vom stechenden Uringeruch, stieß er mit dem linken Knie gegen ein kleines Regal aus Kirschholz, das an der Wand lehnte.
Es war nicht montiert, und darauf lagen wahllos gestapelte Gegenstände. Während er mit einer Hand versuchte, seine Jogginghose hochzuziehen, wollte er mit der anderen das Regal stützen. Es wackelte. Er schloss die Augen, verzog das Gesicht und presste die Zähne aufeinander – aber es war zu spät.
Ein kleiner roter Tontopf, noch mit trockener Erde bedeckt, fiel auf den schmutzigen Fliesenboden. Nichts konnte den Sturz abfedern – mit einem dumpfen Schlag zerschellte er.
«Shit...», flüsterte Matthias und zuckte mit den Schultern. Er sah zu Lukas hinüber und fügte leise hinzu: «Sorry.»
Lukas öffnete die Augen und setzte sich im Schlafsack ruckartig auf, wie eine Puppe, die aus ihrer Hülle springt. Er blieb auf der Matratze sitzen, die Beine noch ausgestreckt, und versuchte zu begreifen, was passiert war. Für einen Moment wurde ihm schwindelig, dann erkannte er die tollpatschige Gestalt von Matthias, der sich gerade die Hose hochzog. Er seufzte, fast erleichtert, aber dennoch genervt.
«Ich hoffe, der Eimer ist nicht voll... Ist die Sonne schon aufgegangen?», fragte er mit seiner tiefen Stimme.
«Keine Ahnung, aber ich glaube, es dauert nicht mehr lange. Bevor ich gepinkelt habe, hab ich aus dem Fenster geschaut. Man kann den Himmel erkennen, weißt du?», antwortete Matthias. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Es sieht so aus, als hätten sich die Wolken endlich verzogen. Ich konnte fast den Mond sehen...»
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, da befreite sich Lukas mit einem Ruck aus dem Schlafsack, als wäre er von unsichtbaren Fäden gehalten worden. Innerhalb eines Augenblicks stand er da, in Unterwäsche, und trat ans halb verbarrikadierte Kellerfenster. Zwei Bretter verhinderten den freien Blick. Er hob die Augenbrauen, erstaunt, und sah zu Matthias mit einem echten Lächeln. Er war gerührt. Den Mond wiederzusehen berührte ihn tief. Er dachte daran, wie sehr er ihn vermisst hatte.
Er lebte in Berlin, einer Stadt voller Lichtverschmutzung, und konnte sich nicht erinnern, wann er ihn das letzte Mal so klar gesehen hatte. Er arbeitete als Barkeeper, meist abends, war oft nachts unterwegs... und doch hatte er den Mond nie so gesehen.
Tagsüber spielte er Musik, ging ins Fitnessstudio, schwamm, um in Form zu bleiben. Er war Anfang zwanzig, attraktiv, mit kurzen Haaren, einem schönen Lächeln und einem ansteckenden Lachen – vielleicht auch, weil er oft Gras rauchte.
Aber er war ein Rätsel. Wenn es um Gefühle ging, verschloss er sich. Er sprach wenig, fast gar nicht. Vielleicht versteckte er sich deshalb hinter seinem Lächeln. Wenn man lächelt, fragt niemand, ob es einem gut geht.
Er starrte weiter den Mond an, mit seinen hellblauen Augen. Und mit einem spontanen Impuls umarmte er Matthias. Matthias erwiderte die Umarmung herzlich, lächelte und scherzte: «Ich hab meine Hände nicht gewaschen...»
Lukas grinste: «Nichts Neues.» Beide lachten.
Dann dachte Matthias daran, wie sehr er sich wünschte, nicht nur die Hände waschen zu können – sondern eine richtige Dusche zu nehmen. Eine einfache Katzenwäsche, ein heißes Bad… irgendetwas. Seit zwei Wochen gab es kein fließendes Wasser mehr. Jede Alternative – ein Fluss, ein Bach, selbst ein Hydrant – wäre besser gewesen als die Feuchttücher für Babys, die sie benutzten, um sich etwas zu «erfrischen». Seit sie sich mit Vorräten im Keller verschanzt hatten, hatten sie ihn kaum mehr verlassen. Beide vermissten das Wasser auf ihrer Haut, auf ihrem Körper.
Nach ein paar Sekunden wurden die beiden wieder ernst. Der Mond verschwand hinter einer vorbeiziehenden Wolke, und die Dunkelheit kehrte zurück.
Mit einem leisen Seufzen legten sie sich wieder in ihren Betten – ein paar Holzpaletten und alte Matratzen, die sie Monate zuvor in den Keller gebracht hatten – in der Hoffnung, noch eine weitere Stunde Schlaf zu bekommen. Es war fast Morgen, dachte Matthias.
Etwa eine Stunde später begann ein schwacher Lichtschein durch den kleinen Spalt im Kellerfenster zu dringen. Seit Tagen war es nicht mehr vorgekommen, dass direktes Licht den Himmel durchdringen konnte, der seit dem 16. Mai wie eine erstickende Decke aus Staub und Rauch über Berlin hing. Matthias starrte sehnsüchtig auf das Licht. Er wollte mehr Licht. Er konnte die Dunkelheit nicht mehr ertragen. Wahrscheinlich ging gerade die Sonne auf, dachte er.
Er sprang aus dem Bett, ohne Mühe, da er sich nicht wieder in den schweißnassen Schlafsack gelegt hatte. Er beugte sich hinunter, nahm einen alten Hammer, den sie irgendwo gefunden hatten, und näherte sich dem Kellerfenster. Es war klar, was er vorhatte: Er versuchte, die beiden Nägel aus dem Rahmen zu hebeln, die eines der Bretter hielten – in der Hoffnung, etwas Licht und vielleicht frische Luft hereinzulassen. Lukas lag noch im Schlafsack, halb schlafend, und beobachtete ihn mit halb geöffneten Augen. Ihm war auch so klar, was Matthias vorhatte.
«Mach keinen Lärm», sagte er mit tiefer, ernster Stimme, fast besorgt.
«Keine Sorge…Ich bin vorsichtig», antwortete Matthias entschlossen. «Vertrau mir ein bisschen: Ein wenig Luft und Licht wird uns guttun. Ich dreh sonst durch in dieser Dunkelheit.»
Er begann, mit der Rückseite des Hammers zwischen Brett und Fensterrahmen zu hebeln. Die verrosteten Nägel gaben mit einem kleinen «krak!» nach, sprangen heraus und hinterließen zwei Löcher im Holz. Matthias konnte das Brett nach unten klappen, und ein schüchterner Lichtstrahl fiel in den Keller. Einen Moment lang konnten sie ihre Gesichter wieder deutlich erkennen. Zum ersten Mal nach zwei Wochen erhellte natürliches Licht ihre Gesichtszüge.
Der Keller befand sich im Souterrain eines Altbaus, der sowohl den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs als auch den Jahren der DDR standgehalten hatte. Das Gebäude lag in der Winsstraße, im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg.
Prenzlauer Berg, einst ein Arbeiterviertel, war in den 2000er-Jahren zu einem beliebten Kiez für Studenten, Künstler und junge Familien geworden.
Lukas und Matthias liebten die von Bäumen gesäumten Straßen, deren Kronen im Frühling in sattem Grün leuchteten. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und warmem Gebäck hing in der Luft, vermischt mit Stimmengewirr und dem Klirren von Tassen. In den kleinen Biocafés saßen Menschen draußen,...




