KAPITEL 1
Was genau ist »Biodiversität«?
Als biologische Vielfalt oder auch Biodiversität bezeichnet man die Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten (und auch auf anderen, sofern wir dort irgendwann Leben entdecken). Dabei meint der Begriff »Vielfalt des Lebens« sowohl die Vielfalt von Arten (mein Hund gehört zu einer anderen Art als die Nachbarskatze) als auch die genetische Vielfalt innerhalb der Arten (Frau Schmidt ist weder Frau Meier noch Herr Müller) sowie die Vielfalt der Ökosysteme, in denen sie leben (ein Regenwald ist keine Wüste).
Dieser Dreiklang ist enorm wichtig für das richtige Verständnis von Biodiversität. Eine riesige Artenvielfalt, bei der aber von jeder Art nur ganz wenige Individuen existieren, könnte leicht zum Aussterben solcher Tier- und Pflanzenarten führen, weil die genetische Vielfalt so gering wäre, dass jeder Krankheitserreger leichtes Spiel hätte und Inzucht an der Tagesordnung wäre.
Umgekehrt böten auch ganz wenige Arten mit vielen Individuen und einer sehr großen genetischen Vielfalt keine Basis für funktionierende Ökosysteme. Das wäre wie eine Stadt, in der es nur Maurer und Köche gäbe – egal, wie viele unterschiedliche Maurer oder Köche dort lebten, es wäre niemand da, der Kinder unterrichtete, Fahrräder reparierte oder Kranke versorgte. Das wäre einfach zu wenig (Arten-/Berufs-)Vielfalt, um das Ökosystem »Stadt« am Leben zu halten.
Auch Ökosysteme sind nicht austauschbar. Einem Wattwurm (Arenicola marina) hilft die noch so artenreiche Umgebung eines Regenwaldes wenig. Er braucht die Bedingungen seines Ökosystems (Lebensraum plus Interaktionen und Prozesse), um zu existieren. Verschwindet dieser Lebensraum, oder werden die Abläufe in diesem Ökosystem zu stark verändert, so verschwinden auch die dort lebenden Arten, egal, wie schön es dort oder anderswo aus unserer Sicht sein mag.
Wenn wir uns, was wir in diesem Buch ja tun wollen, darüber klar werden möchten, wie wir mit den uns umgebenden Arten und Ökosystemen zusammenhängen – beziehungsweise von ihnen abhängen, dann ist es wichtig, immer in diesen drei Kategorien von Vielfalt zu denken.
Bevor wir uns nun genauer Gedanken dazu machen, warum die Vielfalt aus dem uns umgebenden Leben überhaupt schwindet und wie wir das verhindern können, möchten wir noch ein paar grundsätzliche Dinge klären …
Die bucklige Verwandtschaft – was ist eine Art?
»Ordnung muss sein …«, dachte wohl schon Aristoteles, als er vor etwa 2300 Jahren in seiner Stufenleiter (Scala naturae) Lebewesen nach ihrem »Grad der Perfektion« einteilte. Diese Leiter ordnete alle »Gegenstände der Natur« in eine kontinuierliche Reihe, und zwar vom Einfachsten zum Höchsten. Ganz oben stand natürlich der Mensch, es sei denn, die Leiter wurde gleich ins Göttliche verlängert.
Heute wissen wir, dass sich die belebte Welt nicht in einer einzigen Entwicklungslinie, sondern durch Evolution, eher einem Busch als einem Strang ähnelnd, in ganz verschiedene Richtungen entwickelt hat. Dabei haben alle heute existierenden Lebewesen von der Mücke bis zum Menschen den gleichen langen evolutiven Weg hinter sich, ohne dass man sie in eine Reihenfolge ansteigender Perfektion bringen könnte.
Der Wunsch nach Ordnung ist aber geblieben, und so haben sich im Laufe der Naturforschung »Sortierungen« etabliert, die nicht eine vermeintliche Perfektion, sondern den Grad der Verwandtschaft untereinander abzubilden versuchen. Die gebräuchlichste wurde Mitte des 18. Jahrhunderts von dem Schweden Carl von Linné eingeführt und ordnet Lebewesen über mehrere Stufen der Verwandtschaft.
Nomenklatur der Arten nach Carl von Linné, beispielhaft gezeigt am Haushund und der Mückenart Anopheles claviger
In diesem menschengemachten Setzkasten der Lebewesen ist die kleinste Sortierungsstufe die Art – in einigen Fällen noch die Unterart, und zwar immer dann, wenn Unterschiede schon deutlich sind, aber eben noch nicht so ausgeprägt, dass eine Aufspaltung in zwei Arten opportun erscheint. Bei Nutzpflanzen sowie Haus- und Nutztieren sprechen wir nicht von Unterarten, sondern von Sorten bei Pflanzen beziehungsweise Rassen bei Tieren.
Wer oder was aber legt fest, dass Mensch (Homo sapiens) und Schimpanse (Pan troglodytes) nicht nur zwei Arten sind, sondern gleich zu unterschiedlichen Gattungen gehören, während Dogge und Dackel (zwei Rassen) beide zur gleichen Unterart (dem Haushund: Canis lupus familiaris) des Wolfs (Canis lupus) gehören?
Der Wolf gehört, wie Füchse und Schakale, zur Familie der Hunde. Unser umgangssprachlich verwendeter Begriff des Hundes ist also taxonomisch eher ungenau.
Hierfür kamen historisch zwei Methoden zum Einsatz: Der biologische Artbegriff definierte Organismen als zu einer Art gehörend, wenn sie nicht nur gemeinsame Nachkommen produzieren können, sondern diese sich auch wieder fortpflanzen, also Enkel produzieren können. Bei der Unterscheidung von Organismen mithilfe des morphologischen Artbegriffes wurden diese aufgrund ihrer äußeren Merkmale beziehungsweise genetischer Ähnlichkeit als zu einer Art gehörend definiert.
Beide Definitionen sind aber weniger definitiv, als man vielleicht denkt. Auch wenn wir eine Stockrose leicht von einer Schwarzkiefer unterscheiden können und wir wohl kaum eine – schon gar nicht reproduzierbare – Kreuzung aus einer Giraffe und einem afrikanischen Elefanten erleben werden, gibt es viele Fälle, in denen weder der eine noch der andere Ansatz in der Lage ist, die uns umgebende Vielfalt in ein schlüssiges Schema zu stecken. Das liegt daran, dass die Entwicklung von Arten ein kontinuierlicher (evolutiver) Prozess ist, den wir aufgrund unserer kurzen Lebenszeit als Standbild und nicht als Filmsequenz wahrnehmen. Nur aufgrund dieser schlaglichtartigen Betrachtung erscheint uns unsere belebte Umwelt als ein Set von unwandelbaren Arten, die eindeutig voneinander abgrenzbar sind beziehungsweise sein müssten.
Nehmen wir etwa den biologischen Artbegriff bei Pferd (Equus caballus) und Esel (Equus asianus). Beide haben einen gemeinsamen Vorfahren. Kreuzt man eine Pferdestute mit einem Eselhengst, entsteht ein Maultier. Ist der Papa das Pferd und die Mama der Esel, dann heißt der Nachwuchs Maulesel. Maultier und Maulesel sind in der Regel nicht fortpflanzungsfähig und haben daher auch keinen offiziellen (lateinischen) Artnamen. Pferde und Esel bezeichnen wir folglich als zwei und nicht als eine Tierart. Selten kommt es aber doch vor, dass Maultiere fruchtbar sind – demnach wären ihre Eltern laut biologischer Artdefinition eigentlich doch Vertreter ein und derselben Art. Die Erklärung für diese Ausnahmen in der Fortpflanzung ist, dass beide Arten noch nicht lange genug getrennte Wege gegangen sind, sich also genau genommen noch im Prozess der jeweiligen Artbildung befinden.
Eine Hybridisierung, also eine Kreuzung zweier Arten, ohne dass diese in der nächsten Generation selbst Nachwuchs bekommen können, ist etwa auch bei Löwen (Panthera leo) und Tigern (Panthera tigris) oder Finn- (Balaenoptera physalus) und Blauwalen (Balaenoptera musculus) möglich. Während die Mischung aus Löwen und Tigern nur in Gefangenschaft stattfindet (sog. Liger oder Töwen), weil sich beide in freier Wildbahn eigentlich nicht begegnen, kommt es bei Finn- und Blauwalen durchaus auch in freier Natur gelegentlich zu Kreuzungen. Im Sommer 2018 wurde ein solches Exemplar von isländischen Walfängern gefangen.
Vater Löwe, Mutter Tiger – so entsteht ein Liger.
Während der Fang von Blauwalen weltweit illegal ist, hat die isländische Regierung die Jagd auf Finnwale 2006 wieder erlaubt, obwohl die Art international als gefährdet gilt. Auch der Fang von Hybriden aus Blau- und Finnwal ist nach isländischem Recht nicht strafbar. Um den illegalen Fang von Blauwalen auszuschließen, sind Walfänger aber verpflichtet, von jedem erlegten Tier Proben für einen Gentest zu nehmen. So kann jederzeit eine Artbestimmung durchgeführt werden, die in diesem Fall eine biologische Überraschung offenbarte. Der Hintergrund ist traurig: Nur weil sie nicht mehr genug Artgenossen finden, paaren sich Finn- und Blauwale miteinander.
Andere Schwierigkeiten der Anwendung des biologischen Artbegriffs liegen zum Beispiel darin, dass wir nicht alle Individuen einer Art dem biologischen Experiment der Kreuzung unterziehen können. So bleibt vermutlich die Frage unbeantwortet, ob Amseln aus Münster wirklich mit all den Amseln aus München, Mailand, Manchester oder Moskau fortpflanzungsfähige Jungtiere produzieren können und somit wirklich zu einer Art gehören. Ebenfalls nicht anwendbar ist der biologische Artbegriff auf alle die Tierarten, die sich ungeschlechtlich vermehren (siehe Kasten), von allen Pflanzen, die sich vegetativ reproduzieren, mal ganz abgesehen. Ach ja – und bei der nachträglichen Artbestimmung von Fossilien ist das mit der geschlechtlichen Fortpflanzung natürlich auch etwas schwer zu beobachten …
Tierischer Nachwuchs ohne Männchen
Belege für eine Jungfernzeugung oder Parthenogenese kennen wir bei der...