E-Book, Deutsch, Band 3, 464 Seiten
Reihe: Die Polidoris
Fislage Die Polidoris und die Stadt ohne Schatten (Bd. 3)
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-649-64960-1
Verlag: Coppenrath
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 3, 464 Seiten
Reihe: Die Polidoris
ISBN: 978-3-649-64960-1
Verlag: Coppenrath
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anja Fislage ist leider nicht in einem Spukhaus am Meer aufgewachsen, hatte aber trotzdem eine schöne Kindheit. Sie liebt Abenteuer, sitzt jedoch lieber am Schreibtisch, als in See zu stechen. Darum studierte sie zunächst Literaturwissenschaften und arbeitete dann als Lektorin in verschiedenen Verlagen. Eines Tages fiel ihr auf, dass man auch Abenteuer am Schreibtisch erleben kann, und das tut sie seitdem mit großer Freude. 'Die Polidoris' ist ihr Kinderbuch-Debüt.
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Kapitel 1
Ein ganz normales Haus
Pellegrino Polidori erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte.
Es war bereits dunkel draußen. Donner grollte. Ein mittelstarker Sturm peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben und Blitze erhellten den Himmel. Was aber eigentlich keine Rolle spielte, denn nicht einmal die grellen Blitzlichter drangen in Pellegrinos Zimmer. Die Ranken der an der Fassade des Polidoriums waren über die vergangenen Monate so dicht geworden, dass die Sonnenstrahlen kaum noch ihren Weg hierhin fanden. Auch tagsüber war das unterwassergrüne Licht, dem Pellegrinos Zimmer den Namen »Aquarium« zu verdanken hatte, deswegen immer spärlicher geworden. Jetzt war es also dunkel.
Und trotzdem bemerkte er es augenblicklich, als er den Raum betrat: Etwas fehlte.
Das Regal mit den Fundgläsern kam ihm beinahe vor wie ein verlängerter Teil seines eigenen Körpers, daher hatte er es vermutlich unterbewusst schon gespürt, bevor er das »Aquarium« betreten hatte. Er knipste die Deckenlampe an – und richtig: Ein Glas war leer.
Und zwar ausgerechnet …
»«, flüsterte er erschrocken und blickte sich unheilwitternd um. Sein neuestes Fundobjekt, das bis vor Kurzem sicher präpariert und vollkommen leblos in seiner Konservierungsflüssigkeit eingelegt gewesen war! Nun war der Deckel aufgeschraubt und das Exemplar war verschwunden. Verschwunden!
Da – hatte er dort nicht etwas Kleines, Weißes mit acht Krakenarmen gesehen? Ein winziges, durchscheinendes Wesen, das sich per Rückstoßprinzip durch die Luft fortbewegte, eben wie ein Vampirtintenfisch es normalerweise unter Wasser tat … und das soeben durch die offene Zimmertür entwichen war.
»Ich dachte, es wäre , murmelte Pellegrino.
Einer Eingebung folgend, stürzte er zu seiner Nachttischschublade und holte sein Spukglas hervor. Wie lange er es schon nicht mehr benutzt hatte! Nun hielt er es hoch und ging damit hinaus in den Korridor, als würde er einer Kompassnadel folgen. Er hielt die Luft an: Die Flüssigkeit im Innern des Glasröhrchens braute sich zu einem kleinen Wirbelsturm zusammen.
», flüsterte er und blieb stehen. »Das Spukglas zeigt Spuk an! Aber wie –«
Es donnerte. Pellegrino fuhr erschrocken zusammen.
Doch das war keine Spukgestalt gewesen, die den Lärm verursacht hatte, nicht einmal das Unwetter draußen, sondern …
»Hey, du Erdnuss!«
… Roberta, seine große Schwester, die mit viel zu viel Schwung die Treppen heruntergaloppiert kam. Nun stand sie mitten im Korridor und sah sich misstrauisch um. Pellegrino blinzelte. Roberta hatte nackte Füße, trug einen alarmroten Pullover und eine ebenso rote Hose. Ja, sogar ihre Haare waren leuchtend rot. Was sie vor einer Stunde, beim Abendessen, noch nicht gewesen waren. Genauso wie ihre Lippen und ihre Fingernägel.
Aber das war jetzt nebensächlich. Pellegrino sah an seiner Schwester vorbei. Der Korridor war leer. Natürlich bis auf die Vitrinen mit den ausgestopften Wasservögeln, die Treibholzregale und all die anderen wunderbaren Dinge, die sich meterhoch an den Wänden türmten.
»Hey!«, wiederholte Roberta laut und schnipste mit zwei Fingern vor seinem Gesicht herum. »Erde an Erdnuss! Hast du meine rubinroten Socken geklaut?«
Pellegrino blinzelte sie an. Er hatte jetzt keine Zeit für so etwas. »Roberta. Hast du vorhin etwas … Ungewöhnliches bemerkt?«
Roberta starrte zurück, dann fiel ihr Blick auf sein Spukglas, in dem sich der kleine Wirbelsturm inzwischen wieder gelegt hatte.
Bedauernd schüttelte Roberta den Kopf. »Nein, Pelle, tut mir leid. Du weißt doch: Zeiten sind vorbei.« Sie seufzte. »Das Polidorium ist jetzt ein ganz normales Haus. Ich hab mein Spukglas seit Monaten nicht mehr gebraucht. Denk dran, was die Großeltern gesagt haben, Bruderherz.« Sie legte den Arm um seine Schultern und ihren Kopf auf seinem ab.
»Ähm.« Pellegrino machte sich los. »Ja, okay.«
Alle wurden immer so … gefühlvoll, wenn es um dieses Thema ging. Und dabei betonten sie ständig, dass es »das Beste für die Familie« sei, dass die Finsternis aus dem Polidorium verschwunden war – und mit ihr jegliches Spukaufkommen.
, überlegte er. Vampyroteuthis .
Er sah Roberta an.
Ihre Augen verengten sich. »Was ist los? Hast du etwa …«
»… etwas Ungewöhnliches bemerkt?«, unterbrach Pellegrino sie hastig. »Ich?« (Er war doch so schlecht im Lügen!)
»… meine rubinroten Socken geklaut, wollte ich eigentlich sagen.« Robertas Blick wurde eindringlich. »Also, was ist? Du verschweigst mir doch was.«
Pellegrino schluckte und wich ihrem Blick aus. »Ähm, hast du … dir die Haare rot gefärbt?«, fragte er, obwohl ihn das überhaupt nicht interessierte. (Roberta änderte ja ständig ihr Äußeres. Warum auch immer. Er selbst hatte sieben Pullover, sieben Hosen, vierzehn Unterhosen und vierzehn Sockenpaare. Die er alle gut kannte und mochte. Niemals würde er fremde Socken stehlen.)
Das Ablenkungsmanöver funktionierte. »Wow. Deine Beobachtungsgabe ist echt beeindruckend.« Roberta rollte mit den Augen.
»Danke«, erwiderte Pellegrino.
»Das war ironisch gemeint, du Erdnuss. Und meine Haare sind nicht . Die Farbe nennt sich . Gut, nicht?« Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr und betrachtete äußerst zufrieden lächelnd ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. »Ich werde Luk damit überraschen …« Als wäre ihr plötzlich wieder eingefallen, dass Pellegrino da war, wurde sie wieder ernst und bellte: »Also, was ist jetzt? Hast du die Socken oder nicht?«
»Äh, nein«, antwortete Pellegrino wahrheitsgemäß. »Aber frag doch mal Großvater.«
Roberta lachte schnaubend auf, dabei hatte Pellegrino gar keinen Witz gemacht. Dann drehte sie auf dem Absatz um und ließ ihn stehen.
Als sie außer Sichtweite war, hielt Pellegrino sein Spukglas hoch und trug es vor sich her, während er den Korridor in die andere Richtung entlangging. Er würde den toten schon noch aufspüren! Er musste! Denn wie oft hatten die Großeltern wiederholt, dass es wichtig, ja, überlebenswichtig sei, das Polidorium frei von jeder Art von Finsternis zu halten. Nicht der kleinste Spuk, nicht der harmloseste Tote durfte hier im Haus verweilen.
So lautete die Regel. So wollten sie Hodder Morkel vom Polidorium fernhalten, denn er nutzte die Finsternis wie andere Leute eine Tür. Und was er machen würde, wenn er diese Tür benutzte und ins Polidorium eindrang, konnte – und wollte – Pellegrino sich nicht vorstellen.
Eigentlich wäre er der Letzte gewesen, der sich nicht an die Regel gehalten hätte … wenn dieser blöde kleine Vorfall mit dem Fundglas nicht gewesen wäre. Wie hatte der Vampirtintenfisch bloß daraus entkommen können? Denn auch wenn es sich bei dem flüchtigen Tier nur um einen winzigen kleinen Geisterkraken handelte, als angehender Naturwissenschaftler wusste Pellegrino nur zu gut: Das Einschleppen neuer Arten konnte großes Unheil bringen.
Kaum hatte Pellegrino diesen Gedanken zu Ende gedacht, erklang ein majestätisches Glockenläuten. Was merkwürdig war, denn das passierte eigentlich nicht mehr. Niemand läutete mehr an der Tür, seitdem die Großeltern beschlossen hatten, keine weiteren Toten mehr aufzunehmen, um der Finsternis keinen neuen Nährboden zu geben, und ein Schild an die Ehrfurcht gebietende Eingangstür aus Ebenholz und Messing gehängt hatten, das verkündete:
Deswegen konnte dieses Läuten nur eines bedeuten.
, dachte Pellegrino.
Petronella saß auf dem nassen Strandsand. Am Ende des Stegs erahnte sie im Licht des abnehmenden Mondes die Umrisse der , wie sie ihre schwarzen Segel majestätisch flatternd in den dunklen Himmel reckte. In Petronellas Rücken wogte die üppige Wildnis des Polidoriumgartens, rauschte, zirpte, flüsterte in einer geheimen Sprache vor...




