Flanagan | Begehren | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Flanagan Begehren

Roman
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99010-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-492-99010-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



1839: Der Gouverneur von Tasmanien und Polarforscher Sir John Franklin und seine Frau holen eine Aborigine-Waise zu sich ins Haus. Sie wollen Mathinna durch strenge Erziehung »zivilisieren«. Während Lady Jane ihre mütterlichen Gefühle unterdrückt, kann sich Sir John dem Mädchen gegenüber nicht beherrschen. Als er Jahre später nach England zurückbeordert wird, bleibt Mathinna entwurzelt und zutiefst verstört zurück ... 1859: Im ewigen Eis soll Sir Franklin dem Kannibalismus verfallen sein. Lady Jane reist nach London zu Charles Dickens, um den berühmtesten Engländer der Zeit um Hilfe zu bitten.

Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman »Goulds Buch der Fische«, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine insgesamt sechs Romane sind seither in 41 Ländern erschienen. Für »Der schmale Pfad durchs Hinterland« erhielt Richard Flanagan den bedeutendsten englischsprachigen Literaturpreis, den Man Booker Prize.
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3

Ein kleines Mädchen rannte keuchend durchs Wallabygras, das fast genauso hoch war wie sie selbst. Sie liebte das sanfte Kitzeln der feinen Grashalme, die Wassertröpfchen an ihren Waden abstreiften, sie genoss es, die Erde unter ihren nackten Fußsohlen zu spüren, feucht und breiig im Winter, trocken und staubig im Sommer. Sie war sieben Jahre alt, die Erde noch neu und ihre Freuden aufregend, sie liefen durch die Füße hoch zu ihrem Kopf in die Sonne, und es war möglich, dass das Rennen sie mit einem Gefühl vollkommener Heiterkeit erfüllte und dass zugleich der Grund, weswegen sie rannte und, ohne innezuhalten, rennen musste, ihr blanken Schrecken einflößte. Sie hatte Geschichten von Geistern gehört, die fliegen konnten, und überlegte, ob sie, wenn sie ein bisschen schneller rannte, auch abheben und so ihr Ziel früher erreichen könnte, aber dann fiel ihr ein, dass nur Tote fliegen konnten, und schlug sich den Gedanken aus dem Kopf.

Sie rannte an den Häusern der Schwarzen vorbei, zwischen gackernden Hühnern und bellenden Hunden hindurch, vorbei an der Kapelle immer noch in vollem Lauf, den Hang hinauf zum wichtigsten Gebäude der Siedlung Wybalenna. Sie stieg über die drei Stufen zur Tür und klopfte mit den Fingerknöcheln, wie man es ihr immer wieder gezeigt hatte, an.

Der Protektor blickte von seinen pneumatischen Studien auf und sah ein Eingeborenenmädchen hereinkommen. Sie war barfuß und trug einen schmuddeligen Kittel und eine rote Wollmütze, eine Rotzschliere schlüpfte aus ihrem rechten Nasenloch und wieder hinein wie ein lebendiges Wesen. Sie sah zur Decke hoch und an den Wänden herum. Meistens blickte sie auf den Boden.

»Ja?«, sagte der Protektor. Wie alle Schwarzen hatte sie die irritierende Angewohnheit, ihm nicht in die Augen zu sehen. Ihr richtiger Name, der, auf den der Protektor sie getauft hatte, war Leda, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund riefen alle sie bei ihrem Eingeborenennamen. Er ertappte sich dabei, dass er es auch tat, und ärgerte sich. »Ja, Mathinna?«

Mathinna schaute auf ihre Füße, kratzte sich unter dem Arm, sagte aber nichts.

»Also, was ist? Was ist los, Kind?«

Und plötzlich fiel ihr wieder ein, warum sie hier war. »Rowra«, sagte sie – das Wort, mit dem die Eingeborenen den Teufel bezeichneten –, atemlos, als flitzte ein Speer auf sie zu, »Rowra«, und dann »ROWRA

Der Protektor sprang von seinem Hocker auf, schnappte sich ein Taschenmesser aus einer offenen Schublade und hastete hinaus, das Kind vor ihm her. Sie rannten zu einer Zeile von Reihenhäuschen aus Backstein, die er für die Eingeborenen gebaut hatte, um sie an die englische Wohnkultur zu gewöhnen und von ihren primitiven Windschirmen abzubringen. Der Protektor, der Zimmermann gewesen war, bevor er Heiland wurde, freute sich jedes Mal beim Anblick der zwei Häuserzeilen: Wenn man sich den weißen mit roten Felsen und ledrigem Tang übersäten Strand dahinter wegdachte und den sonderbar verkrüppelten Wald auf der anderen Seite, wenn man diese ganze erbärmliche wilde Insel am äußersten Rand der Welt nicht beachtete und sich nur auf die Ziegelgebäude konzentrierte, dann kam es einem gerade so vor, als blickte man auf eine Straße in einem Neubauviertel von Manchester oder sonst einer modernen Großstadt.

Als sie sich dem Haus Nummer 17 näherten, blieb Mathinna plötzlich stehen und starrte zum Himmel hinauf, offenbar von einem namenlosen Schrecken erfasst. Der Protektor wollte schon an ihr vorbeieilen, da sah er das Omen, das die Eingeborenen am meisten fürchteten: Ein schwarzer Schwan, der Vogel, der die Seelen raubte, segelte heran in Richtung der Häuser.

Noch bevor er eintrat, schlug dem Protektor der starke Geruch von Sturmvogelfett und ungewaschenen Menschenleibern entgegen, und zugleich befiel ihn eine stumme, namenlose Angst, dass dieser ranzige Gestank etwas mit ihm, mit seinen Taten, seinen Überzeugungen zu tun hatte. Manchmal kam ihm der Gedanke, dass diese Menschen, die er so sehr liebte, die er vor räuberischen Überfällen der brutalsten unter den weißen Siedlern beschützt hatte – sie jagten die Eingeborenen und knallten sie völlig bedenkenlos, ja mit Lust, ab wie Kängurus –, dass diese Menschen, die er zum Licht Gottes geführt hatte, seinetwegen starben, dass er in irgendeiner Weise daran schuld war. Natürlich war das vollkommen abwegig, gegen alle Vernunft, es war unmöglich. Nur aus purer Erschöpfung konnte er auf diesen Gedanken verfallen. Und trotzdem wurde er ihn einfach nicht los. Er bekam dann jedes Mal Kopfweh, stechende Schmerzen direkt über den Augen, so schlimm, dass er sich hinlegen musste.

Bei den Obduktionen, die er durchführte, suchte er in ihren aufgeschlitzten Speiseröhren, in ihren ausgeweideten Bauchhöhlen, in ihren eitrigen Gedärmen und verschrumpelten Lungen nach Beweisen für seine Schuld oder Unschuld, fand aber keine. Er versuchte, den Gestank der Unmengen an Eiter, der ihm manchmal die einzige lebensfähige Substanz in ihren kaputten Eingeweiden zu sein schien, als Buße anzunehmen. Er versuchte, ihr Leid als seines zu verstehen, und an dem Tag, da er eine fingerdicke Schicht üppig wuchernden weißen Schimmels auf dem kraterartigen Geschwür sah, das sich von der Achselhöhle von Black Ajax bis fast zu seiner Hüfte erstreckte, und er prompt sein Mittagessen von sich gab, versuchte er sich einzureden, er begleiche damit eine geistliche Rechnung der allerhöchsten Notwendigkeit. Aber Kotzen beglich keine Schuld, und in seinem Innersten fürchtete der Protektor, dass seine Schuld niemals zu begleichen war. Tief in seinem Herzen fürchtete er, dass all das schreckliche Leid, das grauenhafte Sterben irgendwie von ihm kamen.

Er tat alles, was unter diesen Umständen möglich war, um sie zu retten – Gott wusste, dass er nichts, wirklich nichts unterließ –, sezierte gewissenhaft jede Leiche, um die Todesursache zu finden, stand mitten in der Nacht auf, um die Patienten mit Schröpfköpfen und Blutegeln und Zugpflastern zu behandeln oder sie, wie er es jetzt mit Mathinnas Vater tat, zur Ader zu lassen.

Der Protektor klappte sein Taschenmesser auf und machte Daumen und Zeigefinger nass, um das verkrustete Blut abzuwischen, das alles war, was noch an Wheezy Tom erinnerte. Den Patienten überlief ein Schaudern, als der Protektor das Messer am Handgelenk ansetzte. Er schnitt vorsichtig, nicht zu tief, wissenschaftlich exakt an der Stelle, wo er mit dem geringsten Schaden am meisten Blut abnehmen konnte.

Jeden Abend vor dem Schlafengehen, wenn er im Licht einer Kerze seinen Tagebucheintrag machte, suchte der Protektor nach Wörtern, die er passend zurichten konnte, so wie er in seinem früheren Leben manchmal Holz hatte biegen müssen. Er suchte nach einer Reihe von Wörtern, die sich dazu eignete, wie eine Art Abschlussleiste einen nicht näher beschreibbaren, doch gleichwohl äußerst peinlichen Fehler zuzudecken. Aber Wörter machten das Dunkel, das er empfand, nur noch schlimmer, sie deckten zu und erklärten nichts. Dann flüchtete er zum Gebet, zu Kirchenliedern, zu vertrauten Formeln und beruhigenden Rhythmen. Und manchmal hielten die heiligen Worte das Übel in Schach, und er wusste wieder, warum er Gott dankbar war, und auch, warum er den Herrn fürchtete.

In einer kleinen Fontäne schoss Blut hoch, spritzte dem Protektor ins Auge und lief dann seine Wange hinunter. Er setzte das Messer ab, trat zurück, wischte sich übers Gesicht und sah nieder auf den ausgemergelten Mann, der kaum hörbar ächzte. Der Protektor bewunderte seinen Stoizismus: Er ertrug den Aderlass wie ein Weißer.

King Romeo war früher ein lebhafter und freundlicher Mann gewesen, der Mann, der in den Fury River gesprungen war und ihn, den Protektor, gerettet hatte, als er bei dem Versuch, den reißenden Fluss zu durchqueren, weggespült worden war. Aber dieser Kranke mit den eingefallenen Wangen, den unnatürlich großen Augen und dem dünnen, glatten Haar hatte keine Ähnlichkeit mehr mit jenem Mann.

Der Protektor ließ das Blut eine gute Minute lang auslaufen und fing es, so gut es eben ging, mit einem großen Henkeltopf auf. King Romeo stöhnte leise. Die schwarzen Frauen, die auf dem Boden im Halbkreis um sein Lager herumsaßen, gaben ähnliche dunkle Klagelaute von sich. Der Protektor wusste, dass es ihnen sehr naheging.

Als er King Romeos Wunde verband, um die Blutung zu stillen, spürte er, wie nutzlos seine Behandlung war: Der Tod ließ sich nicht aufhalten. Panik stieg in dem Protektor auf. Er sah, dass King Romeo schwer atmete, und ihm wurde bewusst, dass der Aderlass sinnlos gewesen war, dass er dem Schwarzen hatte wehtun wollen, ihn für seine unheilbare Krankheit bestrafen, für alle diese unheilbaren Krankheiten, für ihr Versagen, dafür, dass sie ihm nicht ermöglicht hatten, sie zu heilen, sie zu zivilisieren, ihnen die Chance zu verschaffen, die niemand sonst ihnen geben wollte.

Murmelnd erklärte der Protektor, dass es nötig sei, das Gleichgewicht der inneren und äußeren pneumatischen Kräfte wiederherzustellen – nicht nur, um seinem Publikum deutlich zu machen, dass er sich, wie immer, in seinem Handeln von der richtigen Mischung aus wissenschaftlicher Vernunft und christlicher Barmherzigkeit leiten ließ, sondern auch zu seiner eigenen Beruhigung –, und packte King Romeos anderen Arm. Der Schwarze schrie auf vor Schmerz, als das Messer ihn ziemlich brutal stach.

Der Protektor ließ es bluten, bis er wieder ruhig wurde und King Romeos Haut sich klamm anfühlte, dann verband er die Wunde. Den Henkeltopf, der bis oben hin mit Blut gefüllt war, gab er einer der Schwarzen, die herumsaßen, und wies sie an, ihn draußen auszuleeren.

Der Protektor richtete sich auf, senkte den Kopf und begann zu...


Flanagan, Richard
Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman »Goulds Buch der Fische«, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine insgesamt sechs Romane sind seither in 41 Ländern erschienen. Für »Der schmale Pfad durchs Hinterland« erhielt Richard Flanagan den bedeutendsten englischsprachigen Literaturpreis, den Man Booker Prize.

Knecht, Peter
Peter Knecht, geboren 1954. Studium der Germanistik und Geschichte in Erlangen. Lektor bei Greno in Nördlingen. Übersetzt seit gut zwanzig Jahren schöne Literatur und Sachbücher für Erwachsene und Kinder, unter anderem Richard Flanagan, John Wray, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg.



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