Flanagan | Der schmale Pfad durchs Hinterland | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Flanagan Der schmale Pfad durchs Hinterland

Roman
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-492-97117-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-492-97117-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Ein tiefgründiges und bewegendes Meisterwerk über einen verzweifelten jungen Mann in Zeiten des Krieges«, urteilt der Observer - preisgekrönt entfachte Richard Flanagans Roman weltweit einhellige Begeisterung: Dorrigo Evans ist ein begabter Chirurg, eine glänzende Zukunft steht ihm bevor. Als der Zweite Weltkrieg auch Australien erreicht, meldet er sich zum Militär. Doch der Krieg macht keine Unterschiede, und während Dorrigo in einem japanischen Gefangenenlager mit seinen Männern gegen Hunger, Cholera und die Grausamkeit des Lagerleiters kämpft, quält ihn die Erinnerung an die Affäre mit der Frau seines Onkels. Bis er einen Brief erhält, der seinem Leben eine endgültige Wendung gibt. Richard Flanagans schmerzvoll poetischer Roman erzählt von den unterschiedlichen Formen der Liebe und des Todes, von Wahrheit, Krieg und der tiefen Erkenntnis eines existentiellen Verlusts.

Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman »Goulds Buch der Fische«, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine insgesamt sechs Romane sind seither in 41 Ländern erschienen. Für »Der schmale Pfad durchs Hinterland« erhielt Richard Flanagan den bedeutendsten englischsprachigen Literaturpreis, den Man Booker Prize.
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6

Im entfernten Ächzen einer Kühlanlage meinte Dorrigo Evans fünfzig Jahre verstreichen zu hören. Die Anginatablette zeigte bereits Wirkung, die Beklemmung in seiner Brust löste sich, und das Kribbeln verschwand aus den Armen, und obwohl in seiner bebenden Seele immer noch ein wildes Chaos herrschte, unerreichbar für alle Medizin, fühlte er sich stark genug, um vom Badezimmer des Hotels ins Schlafzimmer zurückzugehen.

Er trat ans Bett und betrachtete das weiche Fleisch und die Rundung ihrer nackten Schulter, die ihn immer noch faszinierte. Sie hob das Gesicht, vom Schlaf zerdrückt wie Damast, leicht an und fragte–

Was hast du gesagt?

Während er sich ausstreckte und von hinten an sie schmiegte, wurde ihm klar, dass sie an das Gespräch anknüpfte, das sie vor dem Einschlafen geführt hatten. Wie den melancholischen, frühmorgendlichen Geräuschen zum Trotz, die in ihr Stadthotelzimmer hereinwehten, heulte irgendwo in der Ferne ein Automotor auf.

Darky, flüsterte er in ihren Rücken, als wäre es selbstverständlich, und als er merkte, dass es das nicht war, fügte er hinzu: Gardiner. Beim Sprechen streifte seine Unterlippe ihre Haut. Ich kann sein Gesicht nicht mehr sehen, sagte er.

Anders als deins, sagte sie.

Es war sinnlos, dachte Dorrigo Evans, denn Darky Gardiner war gestorben und es war vollkommen sinnlos. Er fragte sich, warum er das Einfache, Offenkundige nicht in Worte fassen, warum er sich nicht an Darky Gardiners Gesicht erinnern konnte.

Deins ist überall, verflixt, sagte sie.

Er lächelte. Er hatte sich bis heute nicht daran gewöhnen können, dass sie Worte wie verflixt benutzte. Obwohl er wusste, dass sie ihrer Herkunft einige kuriose sprachliche Eigentümlichkeiten zu verdanken hatte. Er presste seine alten, trockenen Lippen an ihre Schulter. Was hatten die Frauen, das ihn zittern ließ wie einen Fisch, selbst heute noch?

Ich kann kaum die Glotze einschalten oder eine Zeitung aufschlagen, sagte sie voller Vorfreude auf den eigenen Witz, ohne dass mir diese Nase entgegenkommt.

Und tatsächlich schien Dorrigo Evans’ Gesicht, von dem er selbst nie viel gehalten hatte, allgegenwärtig zu sein. Seit die Öffentlichkeit vor zwei Jahrzehnten durch eine Fernsehsendung auf seine Vergangenheit aufmerksam geworden war, starrte es ihm überall entgegen, von den Briefköpfen der Spendenorganisationen und von den Gedenkmünzen. Hakennasig, stutzig, leicht verwirrt, die vormals schwarzen Locken auf eine schüttere, weiße Welle reduziert. Zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Menschen seines Alters abbauten, war er abermals zum Licht emporgestiegen.

Unerklärlicherweise war er im Laufe der vergangenen Jahre zum Kriegshelden geworden, er war ein berühmter und gefeierter Chirurg und das öffentliche Gesicht einer tragischen Epoche, Objekt von Biografien, Dramen und Dokumentationen. Das Objekt von Verehrung, Heiligenkult und Lobhudelei. Er sah ein, dass er gewisse Charakterzüge, Gewohnheiten und Erlebnisse mit einem Kriegshelden teilte. Doch er war nicht dieser Held. Er hatte einfach nur erfolgreicher gelebt, als ihm zu sterben gelungen war, außerdem gab es nicht mehr so viele Überlebende, welche die Fackel der Kriegsgefangenen hätten hochhalten können. Die Ehrungen abzulehnen wäre einer Schmähung all jener gleichgekommen, die ihr Leben gelassen hatten. Das konnte er nicht tun. Abgesehen davon hätte er nicht mehr die nötige Kraft gehabt.

Wie sie ihn auch nannten – Held, Feigling, Blender–, es schien immer weniger mit ihm selbst zu tun zu haben. Es gehörte in eine Welt, die ihm immer ferner und vernebelter erschien. Er wusste, er wurde von einer ganzen Nation bewundert, wenn auch jene, die mit ihm, dem alternden Chirurgen, zusammenarbeiten mussten, des Öfteren an ihm verzweifelten. Wieder andere begegneten ihm mit milder Verachtung oder sogar Neid, besonders die vielen anderen Ärzte, die in den Gefangenenlagern Ähnliches geleistet hatten und zu ihrem Unglück spürten, dass er etwas hatte, das ihnen fehlte, das ihn weit über sie erhob und zum Liebling der Nation machte.

Diese verdammte Doku, sagte er.

Seinerzeit hatte es ihn nicht gestört, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Insgeheim hatte er es vielleicht sogar ein bisschen genossen. Aber jetzt nicht mehr. Er war sich seiner Kritiker durchaus bewusst. Meistens musste er ihnen beipflichten. Seine Berühmtheit schien auf der verzerrten Wahrnehmung der anderen zu gründen. Er hatte alles vermieden, was er als offensichtlichen Lebensirrtum betrachtete, darunter auch Politik und Golf. Doch seine Versuche, eine neue Operationsmethode zur Entfernung von Darmkrebstumoren zu entwickeln, waren gescheitert, schlimmer noch, sie hatten möglicherweise indirekt zum Tod mehrerer Patienten geführt. Er hatte gehört, wie Maison ihn hinter seinem Rücken einen Schlachter nannte. Im Nachhinein war er manchmal vielleicht zu rücksichtslos vorgegangen. Dabei hätte man ihn im Erfolgsfall, das wusste er genau, als einen mutigen Visionär gelobt. Seine unablässige Schürzenjägerei und der damit einhergehende Betrug waren private Skandale und wurden öffentlich ignoriert. Manchmal war er immer noch von sich selbst schockiert – wie mühelos, wie leichtfertig er log, manipulierte und betrog–, seine Wertschätzung für sich selbst war entsprechend niedrig.

Noch in seinem Alter – er war vor einer Woche siebenundsiebzig geworden– verwirrte ihn, wie sein Leben von seinem Charakter geformt worden war. Immerhin verstand er, dass dieselbe Furchtlosigkeit, dieselbe Verweigerung der Konventionen, dieselbe Lust am Spiel und Risikobereitschaft, die ihn im Lager dazu angetrieben hatten, anderen zu helfen, ihn in die Arme von Lynette Maison getrieben hatten, der Ehefrau von Rick Maison, einem engen Kollegen, der ebenso wie Dorrigo im Vorstand des Chirurgencollege saß, ein brillanter, bedeutender und sterbenslangweiliger Mann. Und nicht nur in die ihren. In dem Vorwort, das er an diesem Tag verfasst hatte, hoffentlich ohne es mit unnötigen Enthüllungen zu überfrachten, wollte er mit ehrlicher Demut ein paar Dinge geraderücken und seine Rolle beschränken auf das, was er war, ein Arzt, nicht mehr und nicht weniger. Er wollte das würdige Andenken an die vielen Vergessenen erneuern und sie in den Mittelpunkt stellen, nicht sich. Es war ein überfälliger Akt der Reue. Und zugleich fürchtete er, eine derartige Selbsterniedrigung und Demutsbezeugung könnte in der Zukunft in Form weiteren Lobes auf ihn zurückfallen. Er saß in der Falle. Sein Gesicht war überall, während er die Gesichter der anderen nicht mehr sehen konnte.

Ich bin ein Name geworden, sagte er.

Wer sagt das?

Tennyson.

Habe ich nie gehört.

»Ulysses«.

Niemand liest den heutzutage noch.

Heutzutage liest überhaupt niemand mehr. Und Browning halten die Leute für einen Revolver.

Ich dachte, für dich gibt es nur Lawson.

Stimmt. Oder Kipling oder Browning.

Oder Tennyson.

Ich bin Teil von allem, was ich sah.

Das hast du dir ausgedacht, sagte sie.

Nein. Es ist nur sehr… wie sagt man?

Passend?

Ja.

Du kannst Gedichte auswendig und alles, sagte Lynette Maison und fuhr mit der Hand über seinen welken Oberschenkel. Und noch viel mehr. Aber an das Gesicht eines Mannes kannst du dich nicht erinnern?

Nein.

Beim Thema Tod fiel ihm Shelley ein, und Shakespeare. Sie meldeten sich ungefragt zu Wort und waren inzwischen genauso ein Teil seines Lebens wie sein Leben selbst. Als könnte man ein Leben zwischen zwei Buchdeckel pressen, in einen Satz, in ein paar Worte. Simple Worte. Zu einem Fest des Todes kommst du nun. Das blasse, das kalte, das mondene Lächeln. Ach, die Vorfahren!

Der Tod ist unser Arzt, sagte er. Ihre Brustwarzen fand er wunderlich. Beim Abendessen hatte ein Journalist an seinem Tisch gesessen und ihn zur Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki befragt.

Einmal, nun ja, sagte der Journalist. Aber zweimal? Warum?

Die Japaner waren Monster, sagte Dorrigo Evans. Sie haben ja keine Vorstellung.

Der Journalist wollte wissen, ob auch die Frauen und Kinder Monster gewesen seien? Und die Ungeborenen?

Die Strahlung, antwortete Dorrigo Evans, schädigt nachfolgende Generationen nicht.

Aber das war nicht die Frage gewesen, und er wusste es, abgesehen davon hatte er keine Ahnung, ob Strahlungsschäden vererblich waren. Irgendjemand hatte ihm vor langer Zeit erzählt, sie seien es nicht. Oder doch? Er konnte sich nicht erinnern. Dieser Tage verließ er sich auf die brüchige Annahme, dass alles, was er sagte, richtig war und dass, was richtig war, von ihm gesagt wurde.

Der Journalist sagte, er habe über die Überlebenden berichtet, er habe sie getroffen und gefilmt. Ihr Leid, sagte er, war furchtbar und dauerte ein Leben lang.

Es ist ja nicht so, als wüssten Sie nichts über den Krieg, junger Mann, sagte Dorrigo Evans. Sie haben eben nur eines seiner Gesichter gesehen. Doch der Krieg hat viele Gesichter.

Er hatte sich abgewandt. Und dann hatte er sich dem Journalisten wieder zugewandt.

Übrigens, singen Sie?

Jetzt versuchte Dorrigo, die Erinnerung an jene traurige, betretene und offen gestanden peinliche Unterhaltung wie üblich zu verdrängen, er legte eine Hand auf Lynettes Brust und klemmte die Brustwarze zwischen zwei Fingern ein. Doch in Gedanken blieb er woanders. Keine Frage, der Journalist würde bis in alle Ewigkeit mit dieser Story prahlen, mit seiner Begegnung mit dem Helden, der in Wahrheit ein Kriegstreiber, Bombenliebhaber und seniler alter Narr war, der ihn zuletzt sogar gefragt hatte, ob er...


Flanagan, Richard
Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman »Goulds Buch der Fische«, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine insgesamt sechs Romane sind seither in 41 Ländern erschienen. Für »Der schmale Pfad durchs Hinterland« erhielt Richard Flanagan den bedeutendsten englischsprachigen Literaturpreis, den Man Booker Prize.

Bonné, Eva
Eva Bonné, geboren 1970 in Westfalen, ist studierte Amerikanistin und übersetzt Literatur aus dem Englischen, u.a. von Sara Gran, Michael Cunningham und Rachel Cusk. Die Übersetzerin lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman »Goulds Buch der Fische«, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine insgesamt sechs Romane wurden seither in 26 Sprachen übersetzt. Für »Der schmale Pfad durchs Hinterland« erhielt Richard Flanagan den Booker Prize.



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