E-Book, Deutsch, 210 Seiten
Flanell Angst vor blauem Himmel
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-943412-39-0
Verlag: edition subkultur
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 210 Seiten
ISBN: 978-3-943412-39-0
Verlag: edition subkultur
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gary Flanell sieht die Welt mit anderen Augen. Kann aber auch sein, dass die anderen alle blind sind. Die Protagonisten in Garys Erzählungen sind frustrierte Medienschaffende und kleine Spinnen, ambitionierte DJs und melancholische Lappen, pubertierende Punks und nervös witzelnde Wale auf dem Fließband ins Jenseits. 35 Geschichten und Gedichte voller schräger Typen und Musik
Gary Flanell, lebt, schreibt und musiziert im Osten Berlins. Hat sich bis hierher durchgeschlagen als Musikjournalist, Prompterfahrer, Lesebühnenorganisator, Gerichtsshow-Darsteller und DJ. Er sammelt defekte Musikinstrumente, wählt die Musik des Tages mit Bedacht aus und hat viel Spaß daran, wohlklingende Namen für fiktive Bands zu erfinden. Mit 'Angst vor blauem Himmel' legt er nach knapp fünf Jahren seinen zweiten Kurzgeschichtenband vor und freut sich so dermaßen darüber, dass ihm das Melanin aus dem Bart schießt. Flanell mag seinen Porridge geschüttelt, nicht gerührt und seinen Gin Tonic nach Art der englischen Queen. Seine Lieblingstiere sind nackte Katzen und angezogene Hunde.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Taxifahrt in den Straßen der Musik
(Lamento des desillusionierten Schallplattenunterhalters)
„Some girls will kiss and some girls will shake in the morning with blood filled eyes but the sun has its way of making us pay for a revelry filled night.“ (Two Cow Garage – Humble narrator) N’Abend. Einmal zur Junimondstraße, bitte. Genau, die im Osten. Gerade angefangen mit der Schicht? Das wird noch eine lange Nacht, was? Ich? Ich habe jetzt Feierabend. Bin gerade fertig geworden. Nee, kein Taxi. Auflegen in einem kleinen Club. Nee, nee, kein Electro, eher so Rockmusik. So Indiezeug. Ja, Blondie gibt’s auch manchmal. Nee, das mach ich nur ab und zu. Wäre ja schön, wenn man davon leben könnte. Obwohl, schön wäre das irgendwie auch nicht. Ach Bruder, ich habe dich da draußen sofort gesehen. Konnte schon von weitem erkennen, wie du im Nebel da langgekrochen kamst, ganz langsam. Ausschau haltend nach verirrten Gestalten, die in dieser gottverlassenen Gegend auf einen wie dich gewartet haben. Gestalten wie mich. Bruder, wusstest du, dass DJ ein echt gefährlicher Job ist? Ok, Taxifahrer ist auch gefährlich. Man weiß ja nie, wen man da so herumfahren muss. Aber DJ, das ist erst recht riskant. Ich hab mal so einen Bericht vom Musikschutzministerium gelesen, da stand drin, dass der Beruf des Discjockeys einer der gefährlichsten überhaupt ist. Hab das ja zuerst auch nicht geglaubt, aber ich mach das ja schon 30 Jahre und da kann ich nur sagen: stimmt! Er ist gefährlicher als Bohrlochbrandlöscher, Stuntman und Minenräumer. Riskanter als Astronaut, Kosmonaut, Taikonaut oder wie auch immer du Jobs in der Schwerelosigkeit nennst. Aber auch gefährlicher als Stahlwerkhochofenbetriebstemperaturkontrolleur, Boxschiedsrichter, Polarforscher, Undercoverpolizist oder Fensterreiniger am Burj Khalifa. Gefährlicher als Bodyguard, Löwendompteur im FKK-Zirkus von Hiddensee, Drogenkurier in Kolumbien oder Formel-Eins-Parkplatzwächter. Das kannst du alles vergessen, Bruder. DJ ist viel gefährlicher. Frage mich, warum es noch keine Normen für Schutzkleidung gibt. Helm, Weste, Panzerkopfhörer und so. Würde uns echt langsam mal zustehen. So gefährlich ist das, was ich da mache. Können Sie da vorne rechts fahren, bitte? Platz der Luftgitarre ist ja gerade gesperrt. Also am Merengue-Damm am besten rechts und dann die Cumbia-Allee runter. Dann am Friedhof der Schlagergefallenen vorbei, genau. Danke. Ok, Bruder, vielleicht war ich am Anfang etwas doof. So was sage ich nicht ganz leicht von mir selbst, aber es ist wahrscheinlich angemessen. Vielleicht hätte ich an meinem ersten Abend in diesem Club auf die Frage der jungen Kellnerin, die ja nun meine Kollegin war, etwas anderes antworten sollen. Aber ich musste ehrlich sein. Wenn es um Musik geht, kann ich nicht aus meiner Haut. Während sie den Tresen für den anstehenden Abend vorbereitete, hing ich so auf der anderen Seite rum. Nippte an meinem Gin Tonic. Dem zweiten oder dritten, ich zählte an diesem Abend nicht so genau. War trotz der Longdrinks irre nervös. Weniger wegen der Frau, obwohl es einigen Grund gab, ihretwegen nervös zu werden, als wegen der Musikauswahl. Ich hoffte, dass ich die richtige und passende Musik eingesteckt hatte. Unter all den Platten, die ich angeschleppt hatte, musste doch etwas sein, das die Leute hier zum Tanzen brachte. Wir sagten beide nichts. Sie war emsig damit beschäftigt, den Kühlschrank aufzufüllen. Ich hatte damit zu tun, das Glas zu leeren. Diese Stille war mir trotzdem unangenehm. Vielleicht weil die Barfrau sehr hübsch war und ich alter Narzisst dachte, sie hätte keinen Bock, sich mit dem DJ zu unterhalten, der da vor Einlass an ihrem Tresen rumhing. Vielleicht war sie auch nur sehr auf ihre derzeitige Arbeit konzentriert. Wo wir hier gerade im Stau stehen ... Wäre es nicht besser, wenn wir über die B52 fahren und dann die Umgehung über die Simon-Garfunkel-Brücke nehmen? Ja, ich weiß, da kann’s manchmal zu Überflutungen können, aber jetzt im Sommer passiert das ja eher selten. Um die Stimmung etwas zu lockern, schlug ich vor, sie solle sich einen Song wünschen. Den würde ich dann im Laufe des Abends spielen. Ein verwegener Vorschlag, ich weiß, aber was tut man nicht alles, um eine hübsche, aber schweigsame Barfrau aus der Reserve zu locken? Sie hörte einen Augenblick auf, die Theke zu wischen und schaute mich an. Ich dachte immer, es gäbe keine wirklich schwarzen Augen, aber diese Barfrau hier bewies mir das Gegenteil. „Hast du was von Depeche Mode?“, fragte sie nach einem kurzen Moment der Stille. Mist, erwischt. Auf dem ganz falschen Fuß. Einem Fuß, der in meiner Musikwelt gar nicht existiert. Depeche Mode. Hatte ich schon mal gehört – musikalisch aber ein blinder Fleck in meinem Universum. Ich war halb enttäuscht, halb empört. „Depeche Mode?“, murmelte ich, „Äh, nö. Habe ich nicht dabei“ und nahm einen langen Zug von meinem Gin Tonic. „Warum nicht?“, fragte sie und wirkte dabei aufrichtig interessiert. Und da war ich halt ehrlich: „Weil ich Depeche Mode für eine total überbewertete, langweilige Band halte. Eine, die unglücklicherweise unglaublich viele Hits hatte, welche hier in diesem Laden sicher viele Menschen auf die Tanzfläche holen würden.“ Höchstwahrscheinlich war ich der erste DJ in diesem Laden, der überhaupt nichts mit Depeche Mode anfangen konnte. Sie hob nur die Augenbrauen, drehte sich um und inspizierte ein Longdrinkglas. Meinen Gin Tonic bekam ich an diesem Abend jedes Mal wortlos hingestellt. Ich weiß, das klingt vielleicht ein bisschen blöd, aber wär’s möglich, eine kleine Abkürzung fahren? Wenn Sie da vorne links abbiegen, dann kommen Sie auf die Straße der 160 bpm, da geht’s etwas schneller, dann auf den Kreisverkehr am Place Du Gahan, und wenn wir dann rechts auf die Allee der Aeronauten einbiegen, dann sparen wir echt ein bisschen Zeit. Glauben Sie mir. Dass der Job des DJs so gefährlich wie kaum ein anderer ist, Bruder, das bekam ich im Laufe der nächsten Abende zu spüren. Es fing ganz harmlos an. Mit Stift und Zettel. Die legte mir die Chefin zu Beginn meiner Schicht neben den Plattenspieler. Natürlich dachte ich: ‚Oh das ist aber nett. Extra einen Notizblock hinzulegen, damit all die Frauen, die mein Set so geil finden, ihre Telefonnummer hinterlassen können.‘ Fand ich super. Stift und Zettel wurden allerdings nur ausgiebig dazu genutzt, Wünsche für die musikalische Gestaltung des Abends abzugeben. Eine Telefonnummer hinterließ niemand. Ich beschloss, das Gekritzel auf dem Notizblock fürs Erste zu ignorieren. Das meiste, was dort geschrieben stand, hatte ich sowieso nicht dabei. Ich hatte noch nicht mal die erste Platte von den Circle Jerks komplett durchgespielt, da wurden die Songwünsche um einiges energischer. „Spiel doch mal Michael Jackson!“ Die erste Frau, die ihren Kopf durch die Luke zu meinem Kabuff steckte, funkelte mich an wie eine böse, giftige Spinne. Eine von den Spinnen, die morgens einen Eimer Zwietracht statt ein bis zwei Tassen Kaffee zu sich nehmen. Aus ihren Augen blitzten mir Hass, alkoholgetränkte Zerstörungswut und der jähzornige Wunsch nach Musik entgegen, die außer ihr hier niemand hören wollte. „Ich will, dass du jetzt sofort was von Michael Jackson spielst!“, fuhr sie mich an. Sie kletterte die Treppe hoch und kam einen Schritt auf mich zu. Schwankend, aber trotzdem bedrohlich. Vielleicht, weil sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger entschieden zu nah an meinem Gesicht rumfuchtelte. „Ich habe nichts von Michael Jackson“, sagte ich knapp. „Das hier ist eine Indie/Alternative-Disco. Da gibt’s nichts von Michel Jackson. Außerdem finde ich den scheiße.“ So war’s ja nun mal. Der Zorn der Furie nahm dadurch nur noch mehr Fahrt auf. „Hast du dich eigentlich irgendwie auf den Abend vorbereitet?“, keifte sie. Zumindest sie schien sich bestens darauf vorbereitet zu haben, dem Schallplattenunterhalter auf möglichst fiese Weise auf die Nerven zu gehen. Vorsichtig schaute ich mich um und vergewisserte mich des Alarmknopfs neben der Treppe. Wenn alles schief ging, könnte Peter, der Türsteher, in zwei Minuten hier oben sein. Ich sagte nichts mehr, sondern konzentrierte mich darauf, die nächste Nummer in der Pipeline mit eleganter Überblendung auf den Weg zu schicken. Ein wunderbarer Elektro-Pop-Song auf Mazedonisch. Mit Sängerin. Kannte niemand, verstand niemand und mitsingen konnte auch keiner, aber musikalisch passte das wunderbar zu der gerade angelegten New-Wave-Strecke. Die Tanzfläche war danach wie leergefegt und die Michael-Jackson-Verehrerin aus meiner Box verschwunden. Wenn ich mich nicht ganz doll irre, kommen wir dann hier schräg links hinterm im Kraut-Viertel raus. Glauben Sie mir, das war echt seltsam. Wie sich früher alle aufgeregt haben, dass man so was bauen konnte. Aber jetzt ist das ja echt eine angesagte Gegend, gerade bei den ganzen Ex-Pats. Diese ganzen winzigen Gassen, da kann man sich schon schnell verirren. Eigentlich muss man sich nur an die großen Straßen halten, dann kommt man gut durch. Aber Obacht: Am Czukay-Suzuki-Carree, Ecke Von-Spar-Ring ist immer noch diese große Wanderbaustelle. Weißt du, Bruder, in diesem kurzen Moment des Friedens dachte ich plötzlich: Ich bin ein Büffel. Ich bin ein ruhiges starkes Arbeitstier. Mein Reisfeld ist diese Tanzfläche. Ich trage das Joch des Musikunterhalters auf meinen Schultern und ich trage es mit Geduld...