E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Flesch-Brunningen / Straub Maskerade
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-99065-098-1
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-99065-098-1
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rom im Juni 1936: Der Wiener Autor und Journalist Martin Boldt genießt mit seiner Frau Rosika la dolce vita. Sie besuchen Vorträge, unternehmen mit Freunden Badeausflüge an den Strand von Ostia und trinken reichlich Wermut. Vor dem heißen römischen Sommer will das Paar in die Berge fliehen. Gemeinsam mit dem dubiosen Deutschen Gerhart Hesmert fahren sie mit dem Zug durchs Land. Der drohende Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kümmert Martin vorgeblich recht wenig, ganz im Gegensatz zum bekennenden Nazi Hesmert. Dass dieser auch noch unverhohlen um die Gunst der schönen Rosika buhlt, gefällt Martin ganz und gar nicht. Im Laufe der Reise entwickelt sich eine aufgeladene Ménage-à-trois, während sich im faschistischen Italien und im restlichen Europa die politische Lage immer mehr zuspitzt ...
- Autor -
Hans Flesch-Brunningen, * 1895 in Brünn/Tschechien, ? 1981 in Bad Ischl/Oberösterreich, studierte in Wien Jura, ab 1925 lebte er in Italien, Frankreich und Berlin. 1934 emigrierte er nach Großbritannien, von 1939 bis 1958 war er als Sprecher, Übersetzer und Redakteur in der österreichischen Abteilung der BBC tätig. 1963 kehrte er nach Wien zurück und heiratete 1972 die Schriftstellerin Hilde Spiel. In der Edition Atelier wurde zuletzt sein Exilroman »Perlen und schwarze Tränen« (hg. Evelyne Polt-Heinzl) neu aufgelegt. »Maskerade« erschien 1939 im englischen Original und ist nun erstmals auf Deutsch erhältlich.
- Herausgeber -
Wolfgang Straub, geboren in Salzburg, Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Wien, Projektleiter am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung, Klagenfurt. Diverse Herausgeberschaften, aktuell die kommentierte Werkausgabe von Werner Kofler (Bde. IV u. V, Sonderzahl 2023).
- Übersetzer -
Alexander Pechmann, geboren in Wien, Autor und Herausgeber, übersetzte und edierte zahlreiche Werke der englischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts: u. a. von Herman Melville, Mary Shelley, Henry David Thoreau, Lafcadio Hearn, F. Scott und Zelda Fitzgerald.
Weitere Infos & Material
1
Das Zimmer war schon warm. Es war zehn Uhr früh und Rom im Juni. Rosika stand vor einem der vier Spiegel und legte etwas Rouge auf. Ich kehrte ihr den Rücken und rasierte mich. Das Zimmer war mittelgroß. Die Tür zum Balkon stand offen. Sonnenlicht strömte herein. Eine Stufe führte auf den Balkon. Sie ließ das Zimmer ein wenig extravagant erscheinen. Mit einem Schritt gelangte man hinauf zum Balkon, mit einem zweiten auf die Straße hinunter – mit einem Sprung, wenn man wollte. Wir konnten die Autos unten auf der Straße vorbeifahren hören; wir waren zu weit oben. Dies war der Corso d’Italia, ein sehr vornehmer Stadtteil Roms. Ich verdiente genug Geld; seit mehr als zwei Jahren bezog ich ein regelmäßiges Einkommen als Autor für die Wiener Presse. Ich musste mich einfach glücklich fühlen. Sie machte sich immer noch fein, als ich mich fertig rasiert hatte. In einer Ecke des Zimmers lagen Bücher auf dem Fußboden. Eigentlich arbeitete ich nicht hier, sondern in der Bibliothek gegenüber. Ich hatte auch die »Arbeitszelle« für mich allein und schrieb dort. In einer anderen Ecke lag Wäsche, die Frühstückstassen standen auf dem Frisiertisch. Ich sagte: »Hoffentlich bist du bald fertig. Sonst kommen wir zu spät.« Rosika machte auf dem Absatz kehrt und schnitt eine Grimasse. Sie sah aus wie ein wütendes Baby und brachte mich zum Lachen. Sie sagte: »Hetz mich nicht schon wieder! Wir nehmen ein Taxi zum Vatikan.« »Gehen wir lieber zu Fuß. Ein Taxi kostet Geld.« »Haben wir kein Geld mehr? Ist der Brief noch nicht angekommen? Und der Scheck? Ich möchte bald abreisen. Niemand bleibt im Juni in Rom.« »Aber all die Teilnehmer dieser berühmten Vortragsreise sind noch in Rom. Zählen diese Leute nichts?« »Hör auf, meine Freunde zu beleidigen! Du bist schrecklich.« »Du bist schön«, sagte ich. »Küss mich.« Natürlich war sie schön. Ich hatte sie erwählt, ich hatte wegen ihr Frau und Kind verlassen; vielleicht sogar mehr als das. Und sie? Auch ihre Scheidung war keine Kleinigkeit gewesen. Vielleicht hätte sie wirklich mehr an ihre Familie denken sollen. Sie trug das braune Kleid mit den Punkten und den braunen Strohhut mit hochgeklappter Krempe. Beim Gehen schlug der kurze Rock gegen ihre schlanken Beine. Es war ein hübscher Anblick, dieses Flattern und Wehen im Wind. Im Korridor trafen wir unsere Gastwirtin, Signora Cappa, die Gattin von Oberst Francesco Cappa. Sie sagte: »Guten Morgen! Wieder viel zu tun?« Hinter ihr stand ihr Pudel, blind und taub. »Es ist schließlich fast halb elf«, sagte ich. »Wie geht’s dem Oberst? Funktioniert der Aufzug?« Nein, der Aufzug funktionierte nicht. Wir gingen die Marmortreppe hinunter und überquerten den belebten Corso d’Italia. Später bogen wir in die Via Vittorio Veneto ein, wo sogar zu dieser Stunde die jungen Leute von Rom den Bürgersteig füllten. Sie standen uns im Weg, tranken Wermut und plauderten. Rosika ging zwei Schritte vor mir, die Autos lärmten fürchterlich, weil auch sie nicht durchkamen, die Damen und Herren sprachen mit sehr schrillen Stimmen, lachten und winkten, und einige der jüngeren Männer warfen Rosika anzügliche Blicke zu – daran hatten wir uns inzwischen völlig gewöhnt. Wir lebten seit fast zwei Jahren in Italien. Sie trug ihren Fuchspelz träge über der Schulter, den Schwanz nach hinten und den Fuchskopf auf ihrer Brust. Ich sagte zu ihr: »Liebst du mich? Liebst du mich immer noch so wie am Anfang? Denk an die schönen Nächte in Venedig!« »Ich verstehe dich nicht«, rief sie über ihre Schulter und über ihren Fuchs zurück. »Liebst du mich?«, fragte ich sie sehr laut, denn hier verstand sowieso niemand Deutsch. Sie drehte sich blitzartig um und lachte mir ins Gesicht. »Welch ein Ort, um so eine Frage zu stellen! Wie übers Telefon.« »Aber wir sind am Telefon. Möchtest du einen Wermut?« »Nicht morgens und nicht vor unserem Vortrag.« Wir gingen durch die Porta Pinciana in den Park. Es war angenehm und kühl unter den immergrünen Eichen. Auf der großen Cavalizza zu unserer Linken ritten einige Offiziere im kurzen Galopp, ein junges Paar schaute ihnen zu. Hier war es schön, wie in einem dunklen Tunnel. Ging man weiter in den Park hinein, stieß man auf den Pavillon, wo Rosika nachmittags gern ihr Eis aß, und noch weiter hinten floss der kleine Bach, wo die Kinder der kultivierten römischen Familien ihre winzigen Papierboote zu Wasser ließen, während die Kindermädchen und deren Verehrer zusahen. Noch weiter entfernt stand das Casina delle Rose, wo Rosika vor zwei Tagen mit mir getanzt hatte und wo wir einen Kavallerieleutnant kennengelernt hatten, auf den ich später eifersüchtig werden sollte. Wir waren seit ungefähr zwanzig Minuten unterwegs. Ich trug meinen leichten, olivgrünen Anzug, ohne Weste, braune Schuhe und keinen Hut, wie üblich. Dazu ein schönes Seidenhemd, das ich erst vor einem Monat bei Manucci im Ausverkauf günstig erstanden hatte. Als wir die piazza erreicht hatten, wo immer viele Droschken warten und von wo man eine schöne Aussicht über die Piazza del Popolo darunter und auf die Kuppel des Petersdoms dahinter hat, sagte ich: »Nehmen wir eine Droschke, sonst kommen wir zu spät.« Ich rief einen Kutscher, wir fuhren zwischen den Oleanderbüschen die Piazza del Popolo entlang, weiter auf einer langweiligen Straße zum Tiber und über den Tiber zum anderen Flussufer. Rosika berührte leicht ihr Gesicht. Ich bemerkte, wie viele Sommersprossen sie hatte. Doch hier unter der Plane einer römischen Droschke waren wir gut geschützt, und die Sonne konnte uns nichts anhaben. Ich sagte: »Du solltest etwas wegen deiner Augen unternehmen. Vielleicht brauchst du doch eine Brille?« »Gefallen dir meine Augen nicht?« Sie holte ihren Kamm hervor und begann ihre natürlichen Locken wild zu kämmen, so wie sie es gern tat. »Wir brauchen Urlaub. Sobald das Geld eintrifft, fahren wir weg.« »Selbstverständlich«, sagte ich. »Fragt sich nur wohin?« »Ja … wohin? Ich würde gern wieder nach Ischia fahren, weil es so still ist und wegen meiner Arbeit.« »Oh! Weil du eifersüchtig bist, muss ich mich wieder verkriechen? Zu unserem zweiten Urlaub? Eigentlich müsste man doch überall arbeiten können. Paul konnte es einfach überall. Man könnte nachts arbeiten.« »Bei mir läuft es am besten, wenn ich in der Stadt arbeiten kann. Hier in Rom ging es sehr gut. Sogar in den letzten Wochen, als es so heiß war.« »Du sperrst mich einfach ein, und ich langweile mich zu Tode. Bist du sicher, dass dein Buch das wird, wonach die Öffentlichkeit heutzutage verlangt?« »Das solltest du lieber mir überlassen. Natürlich ist es das richtige Buch. Außerdem ist es kein Buch, sondern ein Werk. Es wird mich jahrelang beschäftigen.« Rosikas Augen trübten sich merklich. »Wie du willst. Aber was geschieht, wenn dein Vertrag mit der Presse ausläuft? Du kümmerst dich nicht im Geringsten um deine Karriere. Wenn ich dich nicht antreiben würde, hättest du gar keine Zukunft.« Der Kutscher war fast eingeschlafen. Ich beugte mich vor und schrie: »Avanti!« Er nickte und rief seiner langsamen Stute etwas zu. Ich war verärgert, wandte mich wieder an Rosika und sagte bissig: »Du bist also enttäuscht von mir? Womöglich besuchst du all diese Vorträge nur wegen meiner Karriere?« »Natürlich«, sagte sie ziemlich forsch. »Ich muss dich antreiben.« Wir bogen gerade auf die große Piazza San Pietro. Zur Linken und Rechten schlummerten die berühmten Kolonnaden, und ein paar berufsmäßige Fremdenführer erholten sich am Brunnen, denn an jenem Tag war kaum mit Touristen zu rechnen. Rosika sprach mit ihrer sanftesten Stimme: »Ich langweile dich wohl fürchterlich? Vielleicht möchtest du lieber nach London, deinen Sohn besuchen?« »Ich tu, was immer du willst«, sagte ich, denn ich war müde. Sie klatschte in die Hände. »Das ist großartig! Einfach großartig! Dann fahren wir nach Griechenland. Kecz meint, es sei dort den ganzen Sommer kühl und windig. Kein Schirokko, und der Wein ist gut. Du magst doch guten Wein, Moio?« Wir sahen eine andere Droschke von rechts näherkommen. Sie versuchte, den Eingang zu den Vatikanischen Sammlungen gleichzeitig mit uns zu erreichen. Und wir erkannten darin Dr. Pucher und seine Frau, die uns zuwinkten. Rosika winkte...