E-Book, Deutsch, 478 Seiten
Florescu Zaira
4. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-69889-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 478 Seiten
ISBN: 978-3-406-69889-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In seinem neuen, großen Roman erzählt Catalin Dorian Florescu die Geschichte von Zaira und einer Jahrhundertreise von Osteuropa bis nach Amerika. Es ist auch die Geschichte einer unmöglichen Liebe, die die Jahrzehnte überdauert.
Zaira wächst auf einem rumänischen Gutshof unter der Obhut ihrer stolzen Großmutter und ihres Cousins Zizi auf. Um sie über ihre Einsamkeit hinwegzutrösten, spielt er für sie Theater, das sie begeistert und das ihr Lebensinhalt wird. Der Krieg, der Faschismus, dann der Kommunismus verändern dramatisch die Lage der Familie. Dank ihrer Begabung wird Zaira zu einer berühmten Marionettenspielerin, doch bleibt sie unstet und rastlos. Ihre große Liebe scheitert. Die Kommunisten bedrohen sie und ihre Familie. Eine gefährliche Flucht über Prag bringt Zaira mit Mann und Tochter nach Amerika. Kämpferisch und zäh, dabei menschlich und liebenswert, gelingt es ihr, in der Fremde eine Existenz aufzubauen, doch glücklich wird sie nicht. Als alte Frau faßt sie den Mut, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Mit großem erzählerischen Atem, farbig und prall und mit einem verblüffenden Schluß entwirft der Roman das Bild einer Epoche voller dramatischer Konflikte. Catalin Dorian Florescu erzählt mit viel Feingefühl für seine Figuren temporeich und leidenschaftlich die Geschichte einer Frau, die in einem Jahrhundert der Kriege und der Gewalt gegen alle Widerstände ihrer inneren Stimme folgt.
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1. Kapitel
Die erste schwindelerregende Reise meines Lebens war jene durch Mutter. Als sie mich schleimig und mit spitzem Kopf in den Armen der Tante sah, rief sie aus: «Aber das Mädchen ist potthässlich!» Die Tante beschwichtigte sie, legte die Hände auf meinen Schädel und modellierte ihn vorsichtig. Sie traf es gut. Ich verdanke es ihr, dass mich später alle Männer, die ich kennenlernte, bald heiraten wollten. Vielleicht wäre mit einem Eierkopf einiges unkomplizierter gewesen. Ich wäre jetzt ein altes Mädchen und ganz zufrieden damit. Oder unzufrieden, aber das würde ich nie zugeben. Ich hätte niemals einen Schritt über die Grenze unseres Landgutes getan, Großmutter tat es nicht und die Tante nur einmal, als sie in Deutschland studierte. Ich wäre bei der Tante gealtert, bis zu ihrem Tod, und danach ganz allein. Großmutter starb, als ich noch klein war. Ich hätte nicht hier gesessen und auf jene Haustür gegenüber gestarrt, an der ich nicht klingle. Es ist alles verfallen in dieser Stadt, seitdem ich sie verlassen habe. Vom Haus nebenan fällt ein Ziegelstein auf die Motorhaube eines Autos, es hört sich wie ein Schuss an. Der Fahrer schaut ungläubig hinauf, kratzt sich im Nacken und flucht. So gründlich habe ich das seit dreißig Jahren nicht mehr gehört. In Washington wird weniger geschimpft, dort wird immer gründlich gegrinst. Wenn aber in Washington ein Ziegelstein vom Dach des Chez-Odette-Restaurants, das ich lange geleitet habe, auf das Auto eines der Anwälte des Weißen Hauses gefallen wäre, hätte auch der zerknittert ausgesehen. Den Fluchsegen meiner ersten Landsleute hätte er nicht gekannt. Die Worte des Fahrers wuchern, ich aber bin glücklich. Ich bin zu Hause. Sogar das ist ein Zuhause, wie jene schmutzigen Wörter, die Großmutter verbannt hatte, zuerst aus dem Landhaus, dann von unserem ganzen Gut. Sie ließ die Kutsche mitten im Dorf anhalten und redete auf einen unserer Bauern ein. Er solle so etwas Schmutziges nicht am helllichten Tag sagen, sondern den Träumen überlassen. Wenn man träume, würde sogar Gott ein Auge zudrücken. Man könne nichts dafür, wenn der Teufel sich in den Schlaf einschleiche. Am Tag aber müsse auch ein Bauer schauen, dass er ein ganzer Mensch sei und nicht nur ein halber. Wir flüsterten uns zu: «Sie fegt wieder im heiligen Auftrag.» Als ich sie einmal fragte, ob Gott nachts nicht beide Augen zudrücke, knallte es wie eben mit dem Ziegel. Einmal kurz und heftig, eine kräftige Ohrfeige. Großmutters Sinn für Humor hörte dort auf, wo Gott begann. Weil Gott überall begann, war ihr Sinn für Humor nicht der Rede wert. Manche sagten, das sei so, weil sie an Großvater verkauft worden sei. Sie habe kein einziges Mal mehr gelacht, nachdem er sie ins Haus geholt hätte. Einige Kaffeehausgäste, die mich bestimmt merkwürdig finden, weil ich seit einer Woche hier sitze – mit meinem breitkrempigen Hut und Turnschuhen, wie sie nur Amerikanerinnen im Urlaub tragen –, sind aufgestanden und beteiligen sich. Es ist jetzt ein mehrstimmiges Fluchen wie in der Oper. Mir wachsen viele Ohren, weil es so schön klingt. Der Lärm steigt die Hauswände hinauf und strömt die Straßenzüge entlang. Fußgänger gesellen sich dazu, aus anderen Autos strecken Menschen die Köpfe heraus, andere aus ebenso schäbigen Häusern wie jenem, das beschlossen hat auseinanderzufallen. Wenn es noch lauter wird, öffnet vielleicht auch er das Fenster, schaut hinunter und erkennt mich. Oder er sieht nur eine alte, exzentrische Frau, den Hut und die Schuhspitzen. Dann schließt er das Fenster und denkt: Eine alte Amerikanerin, die im Urlaub ist. Was hat sie nur hier verloren? Dass sie ihn verloren haben könnte, darauf würde er nicht kommen. Von oben sehe ich sicher lustig aus, ein großer Kreis – das ist der Hut – und zwei kleine Halbkreise – das sind die Schuhe. Washington, Robert und meine Tochter sind weit weg, das ist gut so. Nah sind jene Tür, auf die ich gestern und vorgestern und an jedem Tag der letzten Woche geschaut habe, und er. Solch talentiertes Schimpfen habe ich selten gehört. Dabei improvisiert man hier genauso gut wie im Leben. Frauen legen die Einkaufstaschen ab, die sie mit dem gefüllt haben, was die dünne Geldbörse hergibt. Hier lebt man dünn, aber man lebt. Fleißig lernen Schulkinder die Flüche für später, es fehlt nur, dass sie sie aufschreiben. Alle stehen um das Auto herum und schütteln die Köpfe, weil bald Ziegelsteine aus heiterem Himmel auf uns fallen werden. Sie trösten den Fahrer damit, dass er Glück hatte, die Delle nur im Auto und nicht auch im Schädel zu haben. Sie ermutigen ihn, gegen die vorzugehen, aber sie lassen offen, gegen wen. Es ist schlimmer als auf dem Jahrmarkt, aber es beruhigt mich und lenkt von dem ab, was ich seit Tagen nicht tue, obwohl ich es mir jeden Morgen vornehme. Ich mustere mich täglich im Hotel im Spiegel, obwohl ich wegen des müden Fleisches lieber wegschaute. Ich sage mir: «Heute gehst du hin und klingelst an seiner Tür. Er soll aufmachen und dich sehen. Es wird sich schon zeigen, was dann kommt. Du warst noch nie feige, also fange jetzt nicht damit an.» Ich frühstücke und bin zufrieden, weil heute der Tag ist, an dem ich handeln werde. Ich gehe auf die Straße, aber von Schritt zu Schritt werden meine Knie weicher. So weich, dass ich es gerade noch zu diesem Stuhl hier schaffe, wo ich bis zum Abend sitze. Und er geht immer noch nicht ans Fenster, er kommt immer noch nicht hinunter, um sich die Amerikanerin anzuschauen. Also warte ich hier bis in alle Ewigkeit oder bis auch mir ein Ziegelstein auf den Kopf fällt. Als ob Gott meine Gedanken gehört hätte – die er sowieso hört, wie Großmutter sagte, denn er schläft immer nur halb –, beschließt er, den Lärm zu beenden. Ein zweiter Stein fällt mit einem lauten Päng aufs Auto, anstatt einer Delle gibt es jetzt zwei. Die Menge verstummt verblüfft, sodass man die Sätze zweier Liebhaber hört: «Mein Ehemann weiß es nicht.» «Meine Ehefrau will es nicht wissen.» Dann ziehen sie weiter, und zurück bleibt nur die Stille. • • • • • Die Mutter war laut, als ich geboren wurde. Sie hat geschrien: «Verdammt, das ist nicht mein Kind!» Für eine Tochter meiner Großmutter war das schon zu gottlos. «Du hast doch gesehen, wo ich es herausgezogen habe», sagte die Tante. «Ich habe nichts gesehen, so etwas will ich nicht sehen.» «Dann hast du es gespürt.» Das war 1928, und der Zug fuhr gerade in Dampf gehüllt in den kleinen Provinzbahnhof ein. Meine Mutter war immer eine schöne Frau, auch nachdem sie nur noch manchmal meine Mutter war, vielmehr eine mehr oder weniger fremde Frau, die sich ein-, zweimal im Jahr auf dem Gut zeigte. Sie war so klein, dass Vater sie auf seiner Handfläche tragen konnte, erzählte er später. Sie war so schmal, dass er sie bald durch den Ehering zog. Vater übertrieb gelegentlich. Das Übertreiben gehört zu meinen ersten Landsleuten wie das Fluchen. Am besten sind sie, wenn sie fluchend übertreiben. Vater sagte es auch dann noch, als Mutter bloß noch klein, aber nicht mehr schmal war. Mutter saß meistens neben ihm und hielt ihn am Arm fest, als ob er nach über dreißig Ehe jahren noch immer da vonlaufen könnte. Wenn er sich weigerte und schmunzelte, drückte sie seinen Arm oder zwickte ihn in die Hüfte. «Sag es bitte, ich will es hören.» «Deine Mutter war so dünn, dass sie als Weihnachtsmann durch den Schornstein schlüpfen konnte.» «Das wollte ich nicht hören», lachte sie und trommelte mit ihren Fäusten auf seinen Rücken. Vater, ein hochgewachsener Kavallerieoffizier, dessen Säbel Mutter bis unter die Brust reichte, gab sich geschlagen: «Deine Mutter war so schmal, dass sie durch meinen Ehering gepasst hat.» «Schon besser.» Ich habe den Verdacht, dass Vater und Mutter sich wirklich geliebt haben. Tante Sofia aber war der Mann davongelaufen. Danach war sie nur noch die Hebamme für alle, auch für meine Mutter. Was nicht wenig ist, da man Spuren hinterlassen kann, wie jene an meinem Schädel. Manchmal presse ich die Finger auf die Kopfhaut und glaube, die Stellen zu spüren, wo sie meinen Kopf rund geformt hat. Als sie damals als junge Anwältin aus Deutschland zurückgekehrt war und sich von ihrem Mann schwängern ließ, blühte sie auf. Der Mann aber hatte nur deshalb auf sie gewartet, weil Großmutter in heiligem Auftrag regelmäßig bei ihm gefegt hatte. Kurz bevor Zizi, ihr Sohn, auf die Welt kam, konnte auch Gott den Mann nicht mehr zurückhalten. Man sah ihn nie wieder. Abends hatte die Tante sich neben ihn schlafen gelegt, am Morgen war sie neben niemandem mehr aufgewacht. Seitdem sprach sie nur noch wenig, ohne eigentlich traurig zu sein. Sie hatte ganz einfach nichts mehr zu sagen. Und so sagte die Tante am Tag meiner Geburt auch nichts, als Mutter sie zu sich rief, um das Korsett zuzuschnüren, wodurch sie auf der Zugfahrt eine gute Figur machen wollte. So gut es eben...