E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Földényi Lob der Melancholie
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95757-894-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rätselhafte Botschaften
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-95757-894-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit diesem Lob der Melancholie kehrt László F. Földényi nach 40 Jahren zu seinem Lebensthema zurück und nähert sich ein weiteres Mal jener unzeitgemäßen Stimmung. In einem feinen Gewebe von Essays durchstreift er Malerei, Kino und Literatur und entlockt ihnen die Erfahrung einer Sehnsucht, die in ihrer Zartheit alles mit sich zu reißen vermag. Dabei begegnet uns die Melancholie in all ihrem betörenden kulturellen Reichtum als verunsichernder dunkler Schatten des sonst so strahlenden, vergnügungssüchtigen Diesseits - ohne jedoch den versöhnenden Glauben an ein Jenseits anzubieten.
László F. Földényi, geb. 1952 in Debrecen (Ungarn), ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er Mitglied der der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften wird er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet.
Akos Doma, 1963 in Budapest geboren, ist Autor und Übersetzer aus dem Ungarischen.
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Der Anfang
Auf dem Rücken liegend
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich müde geworden war. Aber mein Körper erinnerte mich daran. Ich ging in den Garten, suchte einen sonnigen Fleck im Gras, überlegte, wann die rasch sinkende Nachmittagssonne von der nächsten Baumkrone verdeckt würde. Ich breitete eine Decke aus, legte mich mit den Füßen zur Sonne gewandt hin. Die Müdigkeit ließ mich jedoch nicht zur Ruhe kommen. Mal legte ich die Hände hierhin, mal dorthin; faltete sie unter meinem Kopf, verschränkte sie auf meinem Bauch, dann legte ich die linke neben meinem Rumpf auf die Erde und schob die rechte unter meinen Nacken. Sekunden später legte ich meine auf dem Boden liegende Hand auf meinen Bauch. Dann legte ich beide auf die Erde. Das kam mir am bequemsten vor. Meine Finger und Muskeln führten indessen ihr eigenes Leben; auch sie verlangten nach Bequemlichkeit und so drehten sich meine Arme ein wenig nach außen. Meine Muskeln entspannten sich. Doch jetzt versagten meine Gelenke, Fingerknochen und Handgelenke den Gehorsam. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich diese winzigsten, fast unmerklichen Zuckungen nicht beeinflussen können. Zuletzt kamen meine Arme allmählich von selbst zur Ruhe. Ebenso erging es meinen Beinen. Mein im Gras liegender, ermüdeter Körper hatte sich unabhängig von mir seine passendste Stellung gesucht. Lange hatte er gezögert. Erst als er sich restlos, bis in die kleinsten Glieder, die feinsten und verborgensten Hautoberflächen, von mir, der ich mich für seinen Eigentümer hielt, ja unerschütterlich überzeugt davon war, dass dieser Körper so sehr eins mit mir sei, dass er ohne mich gar nicht existieren könne, befreit hatte, war er zur Ruhe gekommen. Während ich im immer kraftloser werdenden Sonnenschein reglos dalag, konzentrierten sich alle meine Gedanken auf die Hoffnung, dass die Sonne die schattenwerfenden Baumkronen möglichst spät erreichte. Doch je näher sie ihnen kam, desto mehr wurde meine Hoffnung von einer infolge des Wartens in mir aufkeimenden, prickelnden Ungeduld erfüllt. Bis schließlich, wenn das Zusammentreffen der Blätter und Sonnenstrahlen unausweichlich sein würde – und weniger das Auge als vielmehr die Hautoberfläche zu spüren begänne, wie ein Ast sich in die Sonnenkugel schob –, das Prickeln überhandnähme und ich mehr noch als den ungetrübten Sonnenschein die paar Augenblicke des von Schatten durchsetzten Lichtes zu genießen begänne. Vielleicht nicht einmal mehr das, sondern nur noch die nicht weiter zu steigernde Erwartung, die meinen Körper einem maßlosen, der Befriedigung ähnelnden Zittern auslieferte, bevor er im kurz darauf heranschleichenden, endgültigen Schatten zu sich käme und wieder der meine würde. Und ich, meines Körpers unerwartet wieder Herr geworden, erschaudern würde, mich zusammenzöge, zu regen begänne und bald darauf erhöbe. Aber noch schien die Sonne, verließ mich mein Körper Regung für Regung. Hätte man mich gefragt, hätte ich nicht mehr sagen können, wie ich meine Hände, meine Füße, meinen Kopf hielt und auch nicht, in welcher Stellung sie zueinander lagen. Dass ein Körper da sein musste, wusste ich natürlich. Zu diesem Wissen gesellte sich jedoch keinerlei Gewissheit. Mein Körper ruhte. Um das tun zu können, hatte er sich meiner entledigt. Ich hatte versucht, selbst die bequemste Stellung zu finden; aber ich muss wohl so müde gewesen sein, dass all die gewollten Bewegungen, die sonst natürlich gewesen wären, sich als erschöpfend erwiesen. Ich hatte die Bewegungen gesucht; aber nichts ist ermüdender als gesuchte Natürlichkeit. Die gewählte Stellung der Arme oder Beine wird schon durch die schiere Tatsache des Wählens immer schwerer, bis schließlich auch das einfache Liegen zu einer unerträglichen Kraftprobe werden kann. Ich ruhte, aber wider meines Selbst. Meine Gliedmaßen schienen sich nun in die Erde zu schmiegen. Mein Bauch senkte sich; ineinander geschoben sackten mein Magen, meine Leber, meine Gedärme, aber auch meine Nieren ein, und die Wölbung der Magenwand folgte ihnen. Mein Körper verwandelte sich. Er begann sich von mir zu entfernen. Nur die Erde hinderte meine inneren Organe daran, aus mir herauszustürzen. Zu meinem Rückgrat hatte ich nicht mehr Bezug als zu einem Ast. Und statt als neutraler Untergrund unbemerkt zu bleiben, diente mir die Erde jetzt als Stütze. Ich spürte, dass ich mit meinem ganzen Gewicht auf ihr lastete und mich damit auch von mir selbst loszulösen versuchte. Während ich dalag und durch das unwillkürliche Zurückhalten meines Atems mein Ich und das Gefühl des Gleichgewichts zwischen ihm und meinem Körper, der aus ihm entweichen wollte, zu bewahren suchte, geriet ich geradezu außer mir. Ich sah mich auf der ein wenig verschlissenen, an den Rändern zerfransten Decke liegen, im Gras, unter dem jungen Aprikosenbaum, unweit des Haselnussstrauchs, wo immer wieder Scharen winzigster Insekten und Käfer sich auf den Weg machten, um den am Boden liegenden menschlichen Körper zu umfliegen, zu erkunden und dann wieder zu verlassen; ich sah, wie mein Kopf leicht zur Seite knickte, meine Arme sich neben meinem Rumpf ins Gras schmiegten und meine Füße sich sanft nach außen drehten; und während ich meine Sohlen beobachtete, die an den Knochen etwas verfärbte, aber noch nicht verhärtete, allerdings auch nicht mehr als lebendig zu bezeichnende Hautoberfläche, die mir bis dahin unbekannte Ordnung der Runzeln, Falten und Linien betrachtete, beobachtete ich nun nicht mehr mich selbst, sondern einen fremden Körper, jenen unvergesslichen, noch heute in mir lebenden Körper, den ich einst als Kind erblickt hatte, als ich auf dem Weg zum Sportplatz durch ein Fenster im Erdgeschoss eines der Klinikgebäude gespäht hatte. Damals hatte ich die erste Leiche meines Lebens erblickt, nackt, die Sohlen zu mir zeigend. Wortlos ließ ich meine Freunde vorausgehen, ich konnte mich von dem Anblick nicht lösen. Ich weiß nicht, was mich mehr in seinen Bann geschlagen hatte: die Nacktheit des Körpers oder sein Ausgeliefertsein. Ob es sich um einen Mann oder um eine Frau gehandelt hat, weiß ich nicht mehr; aber ich weiß noch, wie die Haut, die Sohle, die Knie ausgesehen haben, was für Falten der Körper warf, wie die Hände gefaltet waren, erinnere mich noch an die gelblich-weiße, verhärtete Haut an den Zehen, habe noch den mit weißer Ölfarbe angemalten, abgegriffenen Metallrand der Rollbahre, das gemusterte Wachsleintuch unter dem Körper vor mir, erinnere mich auch, wie sich der Körper und das Leinen berührten. Seltsamerweise prägte sich mir die Erinnerung nicht nur als Anblick, sondern auch als Geschmack und Geruch ein. Ich beobachtete die Leiche durch ein Glasfenster und hätte somit keinen Geruch wahrnehmen dürfen. Und doch begann mich ein solcher zu verfolgen, und als ich kurz darauf, bereits auf dem Sportplatz, bei einer abrupten Bewegung roch, dass dieser seltsame Geruch aus meiner Handfläche strömte, konnte ich meinen Schrecken und mein Entsetzen nur mit größter Selbstbeherrschung vor den anderen verheimlichen. Ich zog mich zurück, um mir mehrmals die Hände zu waschen; einmal rieb ich sie mir nicht mit Seife, sondern mit Erde ein. Doch der Geruch kehrte jedes Mal zurück, ja steigerte sich, sogar am nächsten Tag roch ich ihn noch. Es war nicht der Geruch der Leiche, sondern der des Todes. Niemand außer mir würde ihn riechen können, und doch schreckte ich davor zurück, jemanden zu bitten, an meiner Handfläche zu schnuppern, nachzuprüfen, ob der Duft tatsächlich zu riechen sei. Der Anblick der Leiche und meine schamlose Neugierde erfüllten mich mit einem Gefühl von Schande. Ich war der Einzige, der diesen Geruch verströmte. Durch ihn wurde alles sinnlich wahrnehmbar, was beim Anblick des toten Körpers in mir zu strudeln begonnen hatte. Es war der Geruch des vom Tod berührten kindlichen Körpers. Er entströmte der Seele, aus einer solchen Tiefe, dass er auch den Körper durchtränkte. Und ich erinnere mich auch, dass ich an jenem Abend, nachdem ich mich hingelegt und irgendeiner unwiderstehlichen Verlockung folgend, widerwillig zwar, aber doch immer wieder an meiner Handfläche geschnuppert hatte, mich nicht mehr traute, mich flach auf den Rücken zu legen. Ich fürchtete mich vor der Körperstellung des Toten am Vormittag, fürchtete mich vor der Körperlage, die mich an ihn erinnerte, am meisten aber vor den in einem ähnlichen Winkel nach außen gedrehten Füßen. Ich begann mich im Dunkeln hin und her zu bewegen, zappelte so lange, bis ich am Ende doch genauso dalag wie der Tote. Und dabei schnupperte ich immer wieder an meiner Handfläche. Nur in Momenten erotischer Erregung kam ich später diesem Zustand wieder nah, den ich damals im Dunkeln empfunden habe. Sowohl die Nacktheit des erwachsenen Körpers, den ich unverhüllt beobachten konnte, als auch die Regungslosigkeit des toten Körpers, vor dem ich mich nicht benehmen musste, hielten mich in ihrem Bann. Mir entströmte der...