Locarno und Umgebung
Wenn das Tessin die Sonnenstube der Schweiz ist, so ist die Piazza Grande von Locarno ihre beliebteste Sonnenterrasse: sehen und gesehen werden. Der riesige Platz ist das Herz des Städtchens, das nur 15.000 Einwohner zählt, im Sommer aber aus allen Nähten platzt.
Oberhalb der Piazza gerät man in die Gassen der Altstadt, wo sich Boutiquen und Restaurants reihen, noch weiter oben beginnen die teureren Wohnlagen mit Seeblick, und noch ein Stück oberhalb wacht die Madonna del Sasso, Locarnos berühmteste Kirche und Wahrzeichen der Stadt, über die Menschen am Nordzipfel des Sees.
Unterhalb der Piazza führt hinter dem Casino die palmenbestandene Seepromenade an einigen Luxushotels vorbei zum Jachthafen. Unweit dahinter lädt der Lido mit Freibad und Spielwiese zum Entspannen ein. Mit einem eleganten Flachbau wurde er 2013 um eine hypermoderne Wellness-Landschaft erweitert: Solebäder, Saunen und eine Kneippanlage.
Das relative große Einzugsfeld an Pendlern sowie seine Lage zwischen Berg und See stellen Locarno vor ein schier unlösbares Verkehrsproblem, zumal wenn noch die sommerlichen Touristen dazukommen. Zwar ist die Stadt untertunnelt, trotzdem kommt es zu Verkehrsverstopfungen, insbesondere auf der von Bellinzona zuführenden Straße und im Tunnel selbst, oft auch auf der Ausfallstraße in Richtung Maggiatal und Centovalli.
Sehenswertes
Piazza Grande: Richtig angekommen in Locarno ist man erst, wenn man über die Piazza Grande geschlendert ist und sich in eines der zahlreichen Straßencafés gesetzt hat. Der zentrale Platz im lombardischen Stil gehört zu den schönsten Plätzen Europas.
In der ersten Augusthälfte zeigt die Piazza zehn Tage lang ein ganz anderes Gesicht. Tausende von schwarzen und gelben Plastikstühlen stehen auf dem Pflaster, die Cafés sind noch voller, die Parkprobleme noch größer - das international berühmte „Locarno Film Festival“ geht über die Bühne (? Kasten oben). Große Leinwand in Locarno
In der ersten Augusthälfte wird man in Locarno und Umgebung kein freies Zimmer mehr finden. Dann nämlich dreht sich alles um das „Locarno Film Festival“, das mit Cannes, Venedig und Berlin zu den großen europäischen Filmfestivals zählt. Fernsehwagen bringen sich frühzeitig an der Piazza Grande in Stellung, nicht nur der eintreffenden Kinogrößen, sondern auch anderer Prominenz wegen. Die halbe Schweizer Regierung findet sich ein, Wirtschaftsmogule und ein gutes Tausend Journalisten, von denen viele mehr am Event interessiert sind als am einzelnen Kunstwerk. Das 1946 gegründete Festival - 2025 steht die 78. Ausgabe an - ist mittlerweile mehr als nur ein hochkarätiges Kunstereignis. Es ist auch ein Feld des Lobbying, nicht zuletzt für die Festivalorganisatoren selbst, die um höhere Subventionen kämpfen.
Für den Festivalbesucher aber steht der Film im Zentrum. In den wenigen Kinos der Stadt und anderen Sälen werden Spezialreihen, Filme außerhalb des Wettbewerbs und Retrospektiven gezeigt. Das Hauptprogramm aber findet auf der Piazza Grande statt, wo vor einer riesigen Leinwand (26 x 14 m) rund 8000 Stühle aufgestellt sind, nicht einfach so, sondern in einer strengen Choreografie von Gelb und Schwarz, sodass der Besucher beim Blick auf die leeren Stuhlreihen ein Leopardenmuster entdeckt. Die Raubkatze ist schließlich das Emblem des Festivals, und der Traum jedes Regisseurs ist es, den „Pardo d’Oro“, den Goldenen Leoparden mit nach Hause zu nehmen. Programm unter locarnofestival.ch. PalaCinema Locarno: Etwas oberhalb der Piazza Grande ist in einem umgebauten Schulhaus das „PalaCinema“ zuhause, das Locarnos Ruf als schweizerische Filmhauptstadt bekräftigt. Festivalbüro, ein Kinosaal für 500, zwei weitere Säle für je 150 Zuschauer, Fachbibliothek und Filmarchiv - alles unter dem Dach des Leoparden.
Palazzo del Pretorio - 1925 Ort eines europäischen Gipfeltreffens
Palazzo del Pretorio: An der Via della Pace, die beim Casino südlich wegführt, steht eine stattliche Gründerzeitvilla mit Palmen davor. Der Palast, der 1925 im Brennpunkt der Europapolitik stand (? Kasten „Als ganz Europa nach Locarno blickte“), wird von 2025 bis 2027 umfassend restauriert und danach wieder Sitz der Polizei und Gendarmerie sein. Einzig eine Tafel mit Foto erinnert an die hier ausgehandelten Verträge, die als Locarnopakt in die Geschichte eingingen - und der Name der Straße: Via della Pace. Wer mehr über den Locarnopakt erfahren will, muss sich ins Castello Visconteo begeben. Dort ist eine ebenso ausführliche wie interessante Dokumentation über die Konferenz zu sehen. Castello Visconteo: Das einstige Schloss der Visconti, Herzöge von Mailand, beherbergt heute in erster Linie das wenig aufregende archäologische Museum der Stadt. Interessanter sind der „Saal des Pakts von Locarno“, eine ausführliche Dokumentation (auf Italienisch) zum Locarnopakt, und der Spaziergang durch die historischen Gemäuer mit den mittelalterlichen Torbögen, aristokratischen Wappen, Freskenresten und Graffiti von Gefangenen.
Schon die Aufgangstreppe mit ihrem Anbetungsfresko versetzt den Besucher in andere Zeiten. Der darauf folgenden kleinen Loggia haben die Deutschschweizer Herrscher ihren Stempel aufgedrückt, von der Veranda der Landvögte („lanvocti“) blickt man dann unversehens auf das Parkhaus des modernen Locarno. Ganz oben, im mittelalterlichen Turm, der noch bis ins 19. Jh. als Gefängnis genutzt wurde, schwört grimmig ein ehemaliger Häftling in deutscher Sprache: „Rache“.
Andere, viel ältere Graffiti sind im sogenannten „Alphabet von Lugano“ geschrieben, das sich an der etruskischen Schrift orientiert, die entsprechende gesprochene Sprache „Leponzia“ ist keltischen Ursprungs.
Im „Saal des Pakts von Locarno“ sind nicht nur Tintenfass und Stempel für die historischen Unterschriften zu sehen, sondern auch die täglichen Bulletins der Konferenz, die vom 5. bis 16. Oktober 1925 dauerte: Am 11. Oktober begaben sich die Politiker auf eine Vergnügungsfahrt auf dem Lago, am 15. Oktober hatte der deutsche Außenminister Stresemann das letzte Wort, der Protokollant hält auf Französisch, der Sprache der Diplomaten, fest: „Les Allemands sont des gens terriblement difficultueux; ils veulent toujours avoir le dernier mot“ (Die Deutschen sind fürchterlich kompliziert, sie wollen immer das letzte Wort haben).
? Di-So 10-16.30 Uhr. Kombiticket mit Museo Casorella 15 CHF oder Sammelticket Castello Visconteo + Museo Casorella + Casa Rusca für 20 CHF. castellolocarno.ch. Museo Casorella: In einem renovierten Herrschaftshaus aus dem 16. Jh. zeigt Locarno Perlen aus dem städtischen Kunstbesitz. Die Dauerausstellung „Galassia Arp“ ist dem vielseitigen Elsässer Künstler Jean Arp (1886-1966), Mitbegründer des Dadaismus, gewidmet. Die Gemälde und Skulpturen, die er der Stadt vermachte, sind im Erdgeschoss zu sehen. Doch ein Stern macht noch keine Galaxie aus, also steigt man in die 1. Etage hoch und steht dort vor Werken von Künstlern und Künstlerinnen, die Arp nahestanden, natürlich seine Frau Sophie Taeuber-Arp, aber auch Paul Klee, Max Ernst, Meret Oppenheim und andere mehr - eine überzeugende Auswahl von Werken meist der abstrakten Kunst des 20. Jh. Leider sind diese Werke nur zu sehen, wenn keine temporäre Ausstellung die Etage belegt.
Die 2. Etage gehört nicht mehr zur Galaxie. Hier sind Gemälde von Filippo Franzoni (1857-1911) ausgestellt - eine Reverenz an den in Locarno geborenen, heute nahezu vergessenen Maler.
Zur Galaxie wiederum darf man die Skulpturen des Architekten und Bildhauers Max Bill (1908-1924) zählen, die im Garten des Museums zu sehen sind. Seine abstrakten, streng geometrisch komponierten Werke sind typisch für sein Spiel mit Form und Gleichgewicht. Bill verband mit dem Ehepaar Arp übrigens mehr als nur die Kunst: Er beherbergte 1943 in seinem Zürcher Domizil Sophie Taeuber-Arp, als diese aus dem besetzten Frankreich fliehen musste.
? Di-So 10-16.30 Uhr. Kombiticket mit Castello Visconteo 15 CHF oder Sammelticket Museo Casorella + Castello Visconteo + Casa Rusca für 20 CHF. museocasorella.ch. Roter Kubus für die Kunst:Ghisla Art Collection
Casa Rusca: Das alte Patrizierhaus an der Piazza vor der Kirche ist heute Sitz der städtischen Kunstsammlung. Allein mit dem Nachlass des Dadaisten Jean Arp - heute teilweise im Museo Casorella (s. o.) zu sehen -, zu dem auch Werke von Chagall, Picasso, Braque und Calder gehören, könnte sich die Pinakothek sehen lassen. Doch dies will sie nicht und beschränkt sich auf wechselnde Sonderausstellungen.
? Di-So 10-16.30 Uhr. Eintritt 15 CHF oder Sammelticket Casa Rusca + Castello Visconteo + Museo Casorella für 20 CHF. museocasarusca.ch. Ghisla Art Collection: Der zur Straße hin fensterlose Kubus, mit einem...