E-Book, Deutsch, Band 1, 512 Seiten
Reihe: Die Göttinnen von Otera
Forna Die Göttinnen von Otera (Band 1) - Golden wie Blut
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7320-1455-2
Verlag: Loewe Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der New York Times Bestseller
E-Book, Deutsch, Band 1, 512 Seiten
Reihe: Die Göttinnen von Otera
ISBN: 978-3-7320-1455-2
Verlag: Loewe Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Namina Forna wurde in Sierra Leone geboren und ist in den 90er-Jahren mit ihrer Familie in die USA ausgewandert. Ihre Heimat besucht sie aber auch heute noch regelmäßig. Sie hat bereits erfolgreich als Drehbuchautorin und Produzentin für Film und Fernsehen gearbeitet. Namina liebt scharfes Essen, schwarze Katzen und wurde schon häufiger dabei gesehen, wie sie sich in einem Einhorn-Kostüm am Taco-Stand angestellt hat. Die Göttinnen von Otera ist ihr Debüt.
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eute findet das Ritual der Reinheit statt.
Der Gedanke daran kreist in meinem Kopf, als ich eilig zur Scheune laufe und dabei meinen Umhang enger um mich ziehe, weil es so kalt ist. Es ist früh am Morgen und die Sonne ist noch nicht hinter den mit Schnee gepuderten Bäumen aufgegangen, von denen unser kleiner Bauernhof umgeben ist. Schatten sammeln sich in der Dunkelheit und versuchen, das schwache Licht meiner Laterne zu verdrängen. Unter meiner Haut beginnt es, unheilvoll zu kribbeln. Ich habe das Gefühl, als wäre da etwas, ganz am Rand meines Blickfelds …
Du bist nur nervös, sage ich mir. Ich habe dieses Kribbeln schon oft gespürt und nie etwas Ungewöhnliches entdeckt.
Als ich die Scheune erreiche, steht das Tor offen und am Pfosten hängt eine Laterne. Vater ist schon da und verteilt Heu. Er wirkt gebrechlich in der Dunkelheit, sein hochgewachsener Körper ist in sich zusammengesunken. Noch vor drei Monaten war er stark und gesund und in seinen blonden Haaren konnte man keine einzige graue Strähne finden. Dann kamen die roten Pocken, die ihn und Mutter krank gemacht haben.
»Du bist ja schon wach«, murmelt er und sieht mich aus seinen grauen Augen an.
»Ich konnte nicht mehr schlafen«, erwidere ich, nehme einen Milcheimer und gehe zu Norla, unserer größten Kuh.
Eigentlich sollte ich mich abgeschieden von allen ausruhen, wie die anderen Mädchen, die sich auf das Ritual vorbereiten, aber auf unserem Bauernhof gibt es zu viel Arbeit und zu wenige helfende Hände. Seit Mutters Tod vor drei Monaten ist das so. Bei dem Gedanken daran schießen mir Tränen in die Augen, doch ich blinzle sie weg.
Vater gabelt noch mehr Heu auf und schiebt es zu den Kühen. »›Gesegnet seien jene, die auf Erden wandeln und die Herrlichkeit des Unendlichen Vaters erfahren‹«, zitiert er aus den Weisheiten des Unendlichen. »Und? Bist du bereit?«
Ich nicke. »Ja, ich bin bereit.«
Am späten Nachmittag wird der Älteste Durkas mich und alle anderen sechzehnjährigen Mädchen des Dorfes beim Ritual der Reinheit prüfen. Wenn feststeht, dass wir rein sind, werden wir offiziell zum Dorf gehören. Und ich werde endlich eine Frau sein – ich werde heiraten und eine eigene Familie haben können.
Der Gedanke daran jagt eine weitere Welle der Angst durch meinen Körper.
Aus den Augenwinkeln heraus werfe ich einen Blick auf Vater. Er scheint angespannt zu sein, seine Bewegungen wirken verkrampft. Ich bin nicht die Einzige, die sich Sorgen macht.
»Vater, ich habe nachgedacht«, beginne ich. »Was passiert, wenn … wenn …« Meine Stimme versagt und die unausgesprochene Frage hängt schwer zwischen uns in der Luft.
Vater schenkt mir ein Lächeln, das wohl beruhigend sein soll, aber seine Mundwinkel sind verkniffen. »Was meinst du, Deka?«, fragt er. »Du kannst es mir ruhig sagen.«
»Was passiert, wenn mein Blut nicht rein ist?«, flüstere ich. Die grauenhaften Worte sprudeln nur so aus mir heraus. »Was passiert, wenn ich von den Priestern weggebracht werde? Wenn ich verbannt werde?«
»Machst du dir deshalb solche Sorgen?«
Ich nicke.
Es kommt zwar nicht oft vor, aber alle kennen jemanden, der eine Schwester oder eine Verwandte hatte, die sich als unrein erwies. Das letzte Mal ist das in Irfut vor einigen Jahrzehnten geschehen – es war eine von Vaters Cousinen. Die Leute aus dem Dorf reden immer noch im Flüsterton von dem Tag, an dem das Mädchen von den Priestern weggeschleppt wurde und für immer verschwand. Seitdem liegt ein dunkler Schatten auf Vaters Familie.
Deshalb tun sie auch immer so fromm – immer die Ersten im Tempel und meine Tanten tragen stets Masken –, sogar ihre Augen werden von kleinen Quadraten aus durchsichtigem Stoff bedeckt. In den Weisheiten des Unendlichen steht geschrieben: »Nur eine unreine, sündhafte und unkeusche Frau verhüllt sich nicht unter den Augen Oyomos«, doch diese Warnung bezieht sich nur auf die obere Hälfte des Gesichts: von der Stirn bis zur Nasenspitze. Aber bei den Masken meiner Tanten kann man nicht einmal ihren Mund erkennen.
Als Vater mit Mutter an seiner Seite von seinem Posten bei der Armee ins Dorf zurückkehrte, wurde er sofort von seinen Angehörigen enterbt. Es war viel zu riskant, eine Frau, deren Reinheit nicht bewiesen war und die zudem noch eine Fremde war, in der Familie willkommen zu heißen.
Dann wurde ich geboren – ein Kind, dessen Haut so dunkel war, dass es aus dem Süden hätte stammen können, aber mit Vaters grauen Augen, seinem Kinngrübchen und seinen leicht gewellten Haaren, die für Nordländer typisch sind.
Ich bin schon mein ganzes Leben lang in Irfut, bin hier geboren und aufgewachsen, doch sie behandeln mich wie eine Fremde – ich werde immer noch angestarrt, man zeigt immer noch mit dem Finger auf mich, ich bin immer noch eine Außenseiterin. Wenn es nach Vaters Verwandten ginge, dürfte ich nicht einmal den Tempel besuchen. Ich mag sein Ebenbild sein, aber das reicht ihnen nicht. Also brauche ich diesen Beweis, damit das Dorf mich akzeptiert, damit Vaters Familie mich akzeptiert. Wenn mein Blut rein fließt, werde ich endlich dazugehören.
Vater kommt zu mir und lächelt mir beruhigend zu. »Deka, weißt du, was rein bedeutet?«, fragt er mich.
Ich antworte mit einem Zitat aus den Weisheiten des Unendlichen. »›Gesegnet seien die Sanftmütigen und Unterwürfigen, die bescheidenen Töchter eines Mannes, denn sie sind unbefleckt vor dem Unendlichen Vater.‹«
Jedes Mädchen kennt die Stelle auswendig. Wir sagen sie auf, wenn wir einen Tempel betreten – eine ständige Erinnerung daran, dass Frauen geschaffen wurden, um Gehilfinnen der Männer zu sein, und sich ihren Wünschen und Befehlen unterordnen sollen.
»Deka, bist du bescheiden, sanftmütig und unterwürfig?«, will Vater wissen.
Ich nicke. »Ich glaube, ja.«
Vater scheint sich da nicht so sicher zu sein, aber er lächelt und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Dann wird alles gut.«
Er widmet sich wieder dem Heu. Ich setze mich auf einen Melkschemel neben Norla, doch meine Ängste quälen mich immer noch. Was daran liegt, dass ich mehr Ähnlichkeit mit Mutter habe, als Vater bewusst ist. Aber wenn die Leute aus dem Dorf das wüssten, würden sie mich noch mehr hassen.
Ich muss dafür sorgen, dass es geheim bleibt. Die Leute aus dem Dorf dürfen es nie erfahren.
Nie.
Es ist noch früh am Morgen, als ich den Dorfplatz erreiche. Die Luft ist kühl und von den Dächern der Häuser hängen Eiszapfen herab, doch die Sonne ist schon ungewöhnlich stark für diese Jahreszeit. Ihre Strahlen fallen auf die hohen, geschwungenen Säulen des Tempels von Oyomo. Diese Säulen stellen ein Gebet dar, eine Art Meditation zum Lauf von Oyomos Sonne über den Himmel. Allein schon bei ihrem Anblick steigt wieder Angst in mir auf.
»Deka! Deka!« Von der anderen Straßenseite winkt mir eine hochgewachsene, schlaksige Gestalt zu, die ich gut kenne.
Elfriede kommt zu mir gerannt, den Umhang so eng um sich geschlungen, dass ich nur ihre strahlend grünen Augen erkennen kann. Wir beide versuchen immer, unser Gesicht zu bedecken, wenn wir den Dorfplatz betreten – ich wegen meiner dunklen Hautfarbe und Elfriede wegen des dunkelroten Muttermals, das die linke Seite ihres Gesichts verunstaltet. Mädchen dürfen bis zum Ritual unverhüllt bleiben, doch wir wollen keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen, nicht an einem Tag wie heute.
An diesem Morgen drängen sich Hunderte Besucher auf dem Kopfsteinpflaster von Irfuts winzigem Platz und mit jeder Minute treffen weitere Gäste ein. Das Dorf ist für seine hübschen Mädchen bekannt und die Männer kommen von weit her, um sich die heiratsfähigen unter ihnen anzusehen, bevor das Ritual stattfindet. Heute werden viele Mädchen einen Ehemann finden – falls sie nicht schon längst jemandem versprochen sind.
»Ist das nicht aufregend, Deka?«, kichert Elfriede.
Sie deutet auf den festlich geschmückten Platz. Die Türen der Häuser, in denen heiratsfähige Mädchen wohnen, sind rot gestrichen, Wimpel und Fahnen flattern fröhlich aus den Fenstern und jeder Hauseingang ist mit bunten Laternen verziert. Es gibt sogar maskierte Tänzer auf Stelzen und Feuerspucker, die sich durch die Menge schieben und mit den Händlern konkurrieren, die Tüten mit gerösteten Nüssen, geräucherten Hühnerbeinen und kandierten Äpfeln verkaufen.
»Da hast du recht«, erwidere ich mit einem Grinsen, doch Elfriede zieht mich bereits mit sich.
»Beeil dich!«, mahnt sie mich und drängt sich an den Besuchern vorbei, von denen viele stehen bleiben, um uns missbilligend anzustarren, weil wir ohne männlichen Beschützer gekommen sind.
In den meisten Dörfern dürfen Frauen nur in Begleitung eines Mannes das Haus verlassen. Aber Irfut ist ein kleines Dorf und es gibt nicht genug Männer. Die meisten heiratsfähigen unter ihnen sind zur Armee gegangen, so wie Vater, als er jünger war. Einige von ihnen haben die harte Ausbildung überlebt und sind Jatu geworden, Soldaten in der Elitewache des Kaisers. Ich entdecke einen Trupp von ihnen am Rand des Platzes. Sie beobachten in ihrer schimmernden roten Rüstung das Geschehen.
Die Jatu stammen aus allen Regionen von Otera: Südländer mit dunkelbrauner Haut und krausen Haaren; unbekümmerte Westländer, die ihre langen schwarzen Haare in einem Dutt oben auf dem Kopf tragen und ihre goldbraune Haut mit unzähligen Tattoos geschmückt haben; ungestüme Nordländer mit heller Haut und blonden, in der Kälte glänzenden Haaren; stille Ostländer mit allen möglichen Hautfarben, von Dunkelbraun bis Eierschalenbleich, deren glatte schwarze Haare sich als...