Forster Mein Leben in Häusern
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03790-081-9
Verlag: Arche Literatur Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-03790-081-9
Verlag: Arche Literatur Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Margaret Forster, 1938 in Carlisle geboren, studierte Geschichte in Oxford. Sie hat zahlreiche Romane und mehrere Biografien veröffentlicht. Bei Arche erschienen zuletzt: Das dunkle Kind? (2014) und ?Mein Leben in Häusern? (2015). Margaret Forster wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Sie starb am 8. Februar 2016 in London.
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Orton Road
Ich bin am 25. Mai 1938 in dem zur Straße liegenden Schlafzimmer eines Hauses in der Orton Road geboren, in einem Haus am Rande von Raffles, einer Sozialbausiedlung von Carlisle, in der Grafschaft Cumbria
Ich hatte Glück. Der Stadtrat von Carlisle war ziemlich stolz auf diese aus zweitausend Häusern bestehende Siedlung. Mit Begeisterung hatte er die Rede des Königs im April 1919 aufgenommen, der darin sagte, die einzige angemessene Lösung für den Umstand, dass ein so großer Teil der Bevölkerung in unangemessenen Wohnverhältnissen lebe, bestehe darin, mehr Häuser zu bauen, besonders für die Armen. In Carlisle gab es viele »Arme«, und viele von ihnen lebten dicht gedrängt in den Slums von Caldewgate, wo es die meisten Fabriken gab. Ein Bericht über die »Sanitären Bedingungen der Stadt Carlisle« von 1920 bezeichnete einen Großteil der Wohnhäuser in Caldewgate als »für Menschen ungeeignete Behausungen«, in denen jedoch viele Menschen dicht gedrängt lebten. In dem Bericht wurde von »schlecht angelegten Wegen und Höfen« gesprochen und darauf hingewiesen, dass nur wenige Häuser mit fließend Wasser ausgestattet waren und keins eine eigene Toilette hatte. Die »gemeinschaftlichen« Höfe beförderten die schnelle Verbreitung von ansteckenden Krankheiten. Diesem Übelstand sollte mit der neuen Sozialbausiedlung im Nordwesten von Caldewgate Abhilfe geschaffen werden – die »Armen« sollten Zugang zu den grünen Wiesen von Raffles haben.
Meine Eltern konnten zwar nicht der Gruppe der »Armen« zugerechnet werden, aber die Stadt war hellsichtig genug zu erkennen, dass es für die zukünftige Ausgewogenheit der neuen Siedlung förderlich wäre, ein paar jungverheiratete Paare am Anfang ihrer Familiengründung mit den Familien, die aus den Slums umgesiedelt wurden, zu mischen. Mein Vater, Monteur bei Hudson Scott, war zumindest gelernter Handwerker (einundneunzig Prozent derjenigen, denen ein Haus in der Siedlung zugewiesen wurde, waren Handwerker). Meine Mutter, die bis zu ihrer Eheschließung 1931 als Sekretärin bei der Gesundheitsbehörde gearbeitet hatte, war streng genommen eine soziale Schicht über ihm, aber wie alle Frauen musste sie ihre Stelle aufgeben, als sie heiratete. Beide waren in Carlisle geboren, und beide lebten in Häusern, die jeweils ihren Eltern gehörten – kleine Reihenhäuser in Arbeitervierteln, aber immerhin Eigentum, nicht gemietet. Sie hätten ihr Eheleben auch im Haus der Eltern von einem von ihnen beginnen können, aber so waren sie froh, ein eigenes und dazu neues Haus mieten zu können, für sechs Shilling pro Woche, was ein bisschen weniger als ein Viertel des Wochenlohns meines Vaters war.
Beide kannten die Felder von Raffles aus der Zeit, bevor die Siedlung gebaut wurde. Die von der Stadt erworbenen vierzig Hektar erstreckten sich auf beiden Seiten der Straße nach Wigton. Dort war noch nie viel gewachsen, nur struppiges Gras, denn der Boden war lehmig und ließ sich schlecht entwässern. Die neue Siedlung zerstörte also keine schöne Landschaft. Außerdem sollte Raffles eine der neuen Gartensiedlungen werden, auf deren Gestaltung große Sorgfalt verwendet werden würde. Viel freie Fläche würde erhalten bleiben, der Bebauungsplan sah pro Ar nur zwölf Häuser vor, die als eine angenehme Mischung von Reihenhäusern und Doppelhäusern geplant war. Eine Kirche und Geschäfte sollten entstehen, ein Park sollte angelegt werden. Die Siedlung sollte Modellcharakter haben.
Sie war gerade fertig geworden, als meine Eltern 1931 in die Orton Road zogen. Das Haus lag an einer Ecke der Orton Road, die westlich an der Siedlung vorbeiführte. Es war eine Doppelhaushälfte und auf drei Seiten von einem Garten umgeben. Drinnen gab es ein Wohnzimmer, eine winzige Küche nach hinten, zwei Schlafzimmer und ein Badezimmer, in dem es tatsächlich eine Badewanne gab, aber kein Waschbecken und keine Toilette. Zwar gehörte zum Haus eine Toilette, aber die war im Schuppen, zu dem man durch die Küchentür gelangte. Im Stadtrat hatte es lange Debatten darüber gegeben, hauptsächlich wegen der hohen Kosten, die der Einbau von Toiletten in den Badezimmern bedeutete. Diese Möglichkeit wurde eindeutig abgelehnt. Aber die billigere Variante, von der Küche einen Durchgang zu einer Toilette dahinter zu bauen, war offensichtlich nicht erwogen worden. Sollten die Leute doch um Himmels willen dankbar sein, dass sie überhaupt eine eigene Toilette hatten, auch wenn sie oft durch strömenden Regen gehen mussten. Und sie waren auch dankbar.
Meine Eltern waren die idealen Mieter. Sie hielten ihr gemietetes Haus perfekt in Schuss. Das war keineswegs einfach. Das Haus wurde von einem Kaminfeuer aus geheizt, dessen schwarze Eisenumrandung eine ganze Wand im Wohnzimmer einnahm. Das Schwärzen des Kamins war eine unangenehme Arbeit, die sich seit viktorianischen Zeiten nicht geändert hatte, auch war es mühselig, ein Kohlefeuer zu bauen und hinterher den Kamin zu reinigen. Die Kohle machte viel Staub, und es war eine dauerhafte Herausforderung, seiner Herr zu werden. Umso besser vielleicht, dass es nur wenige Möbel gab, die sauber gehalten werden mussten: eine Couch, ein Sessel, ein Tisch, vier hölzerne Stühle und ein Buffet – das meiste bei Auktionen erstanden. Trotzdem genug Möbel, dass der vier mal drei Meter fünfzig große Raum überfüllt wirkte. In der Küche gab es einen Gasherd und ein Spülbecken, mit einer Holzplatte links vom Spülbecken, die als Arbeitsfläche diente. Oben in dem Schlafzimmer, in dem ich zur Welt kommen sollte, standen ein Doppelbett, ein Kleiderschrank und eine Kommode. Später, als wir drei Kinder waren, wurde der Erker nach schottischem Muster in ein Bett-in-der-Wand verwandelt, genauer gesagt wurde dazu eine Planke quer in den Erker gelegt, darauf eine Matratze, und vor den Erker wurde ein Vorhang gespannt, um die Illusion von Privatsphäre zu schaffen. Ein zweites Schlafzimmer ging nach hinten raus, wo meine Großmutter mütterlicherseits eine Weile, bis zu ihrem Tod 1936, wohnte.
Als ich zur Welt kam, war Raffles eine Erfolgsgeschichte, der Stolz der Stadt Carlisle. Besonders der neue Park war ein Vorzeigestück. Er wurde 1934 eröffnet und hatte einen Minigolfplatz, einen Teich und viel Platz für Kinder zum Spielen. Die neue Kirche war wie ein glitzernder weißer Palast, sie stand mehr oder weniger in der Mitte der Siedlung und war gut besucht. Seltsamerweise gab es keine Schule. Die Kinder mussten entweder zur Ashley-Street-Schule gehen, am Rande von Caldewgate, oder zur Newton-Schule, die außerhalb der Siedlung am anderen Ende lag. Die Siedlung war immer noch blitzsauber, die Straßen waren gekehrt, die Gärten angelegt und gepflegt.
Und dort kam ich zur Welt, in einem Haus in der Orton Road, begierig zu erleben, ob das Haus »die Qualität, Färbung, Atmosphäre und das Tempo« meines Lebens bestimmen würde.
Zweifelsohne hat es das getan.
Ich habe vierzehn Jahre in der Orton Road gelebt. Es war in jeder Hinsicht ein gutes Haus für ein Kind. Immer brannte ein helles Feuer im Kamin, immer stand Essen auf dem Tisch, der für jede Mahlzeit mit einer blitzsauberen Tischdecke gedeckt wurde. Das Buffet war nie ohne eine Vase mit Blumen, die aus dem eigenen Garten kamen, und die Messingornamente auf dem Buffet wurden regelmäßig poliert. Alles war sauber und ordentlich und frisch geputzt. Nie stand der Abwasch herum, die Fußböden wurden stets gefegt. Die Hausarbeit, für die es keine Haushaltsgeräte gab, war mühselig, aber sie wurde gründlich und unermüdlich gemacht. Es war gut, dieses Zuhause zu haben, aber mit sieben Jahren hatte ich heraus, wie ich möglichst wenig Zeit zu Hause verbringen konnte. Denn in Wahrheit gefielen mir andere Häuser besser. Die nämlich, die auf der anderen Seite der Orton Road lagen.
Die Orton Road war eine Grenzlinie. Auf der einen Seite, unserer, lag die Raffles-Siedlung, auf der anderen Seite standen Privathäuser. Unmittelbar unserem Haus gegenüber lag der Eingang zum Inglewood Crescent, an dem entlang auf beiden Seiten Häuser standen, die richtige Badezimmer hatten, ein Esszimmer zusätzlich zum Wohnzimmer, eine Küche, die (für die Verhältnisse der Vierzigerjahre) modern eingerichtet war, und oben drei Schlafzimmer. Diese Sackgasse erschien mir als der Inbegriff eines gehobenen Lebensstils. Selbst der Betonbelag der Straße, der immer noch fast weiß war, schien von besserer Qualität als die asphaltierten Straßen in unserer Siedlung. Am Ende der Straße begannen die Felder und schufen den Eindruck von Ländlichkeit. Die meisten Kinder, die in diesen Häusern lebten, gingen zur selben Grundschule wie wir von der Raffles-Siedlung, sodass ich ein paar Freundinnen fand. Sobald ich von der Ashley-Street-Schule nach Hause kam, rannte ich rüber in den Inglewood Crescent, holte meine Freundinnen ab, und zusammen gingen wir zu den verlassenen Tennisplätzen hinter den letzten Häusern oben am Crescent. Wir benutzten eine alte Hütte als Bühne und gaben Vorführungen. Nur wenn es regnete oder dunkel zu werden begann, gingen wir nach Hause. Gewöhnlich schaffte ich es, in ein Haus im Inglewood Crescent mitgenommen zu werden, bevor ich wieder in mein eigenes Haus in der Orton Road zurückkehrte, und ich wünschte mir inbrünstig, wir lebten auch im Inglewood Crescent.
Das Anziehende war der Platz. In unserem Haus waren wir zu fünft – meine Eltern, mein älterer Bruder und meine jüngere Schwester – ins Wohnzimmer gepackt, wo wir aßen und den Abend verbrachten, und fast immer lief das Radio. In den Häusern am Inglewood Crescent mussten nicht alle im gleichen Zimmer sein. Die Zimmer hatten elektrische Heizgeräte, sogar manche...